Maria Hilfrich: Heimkehr - (niedergeschrieben Anfang 1949)
Es ist im April 1945. Einige Minuten vom KZ Ravensbrück liegt ein Siemenswerk mit etwa 30 Holzbaracken, von denen ein Teil noch im Bau begriffen ist. In Halle I ist das Lager. In vielen Reihen stehen rechts und links in Regalen die kleinen Kisten mit all den kleinen Teilen, die zum Bau elektrischer Apparate benötigt werden. Abgeschlossen vom Lagerraum durch eine Glaswand liegt der Büroraum. Herr Mertinkat ist der Leiter des Lagers. Er ist ein freundlicher, gutmütiger Chef, beliebt bei allen Arbeiterinnen, die teils im Büro, teils im Lager mit dem Ausladen und Einladen, Sortieren u[nd] Registrieren (und) Packen beschäftigt sind. Etwa 20 Frauen des Lagers, KZ-Häftlinge, kommen jeden Morgen ½ 7 Uhr zur Arbeit bis abends ½ (unleserlich) Uhr. Eine liebenswürdige junge Polin; Eri[ka?], leitet die Schar der Häftlinge: Deutsche, Polen, Russen, Tschechen, Ukrainer, Franzosen, Luxemburger, Holländer. Es herrscht Einigkeit unter ihnen, teilen sie doch alle das harte Los der Gefangenschaft.
Heute ist H[err] M[ertinkat] besonders guter Laune. Er ruft seine Sekretärin Fräulein Schulz, breitet eine Karte auf seinem Schreibtisch aus und erklärt ihr: So groß ist noch Großdeutschland. Die Häftlinge im Büroraum merken auf. Ihre Blicke begegnen sich. Was geht draußen vor? Rücken die Ameri-kaner, Engländer, Russen vor? Was wird mit uns? Treibt man uns zu Tausenden fort von hier? Trifft uns das Los der Häftlinge von Buchenwald, die vor einigen Tagen zerlumpt, ausgehungert, todmüde hier angekommen sind und zu Tode erschöpft vor den Baracken im Sande liegen? Oder bringen die Ausländer uns die lang ersehnte Freiheit? Niemand beantwortet all die Fragen. Gegen Mittag wird bekannt, dass im Lager eine große Schar bis zu 100 heute entlassen wurden. Wir horchen noch intensiver auf. Die nächsten Tage müssen irgend eine Entscheidung bringen.
Freitag, den 20. 4., rücken wir zur gewohnten Stunde ins Lager ein. Überall nervöse Geschäftigkeit – Unruhe. Die Baracken sind überfüllt, (Platz?) infolgedessen knapp, die Brotration ist gesunken auf 1/10, es ist eine dünne Schnitte für den ganzen Tag. Was war es klug, dass ich von dem Liebespaket vom Kanadischen Roten Kreuz, das wir vor 8 Tagen erhielten, in weiser Vorsorge einen Teil gespart habe! Es wird heute 18 Uhr bis wir das kärgliche Mittagessen erhalten.
Da erscheint in Baracke 28 die Lagerpolizei und ruft eine Anzahl Nummern auf. (Das waren alle Häftlinge, keine freien Menschen – nur Nummern). Ich merke auf und höre 17938. Das bin ich! Das Herz pocht mir bis zum Halse heraus. „Vorkommen, sofort zum Büro zur Oberaufseherin.“ Ich eile hin. Eine Anzahl Häftlinge steht schon in Fünferreihen vor dem Büro. Einzeln werden sie aufgerufen und dürfen eintreten. Da sitzen 2 SS-Män-ner, die Aufseherinnen, einige Schreiberinnen. Ich nenne Namen und Nummer. Meine Akten werden geholt. Wie lange waren Sie hier? 2 Jahre – Warum? Aus religiös-politischen Gründen! Wohin wollen Sie gehen, wenn Sie entlassen werden? In meine Heimat bei Frankfurt/Main. Dahin können Sie nicht mehr reisen, ist besetzt. Haben Sie sonst niemand in Mitteldeutschland oder Süddeutschland? Ich kann nach Hildesheim zu Verwandten. Ist unmöglich! Ich kann auch nach Stuttgart zu Verwandten. Gut, nach Stuttgart. Sie können in einigen Tagen mit Entlassung rechnen.“ Es war nicht zu fassen – frei werden.
Ich laufe zu Bekannten, um ihnen meine Freude mitzuteilen. Frau Dr. med. Court(?): Sie wollen bei dieser Unsicherheit aus dem Lager? Ich tue es nicht!“ O, nur frei werden, was dann kommt, findet sich schon, ich werde mich schon durchschlagen und wenn es als Dienstmagd irgendwo auf einem Mecklenburger Hofgut sein sollte.“ Die Stunden werden mir zu Tagen, wann wird es sein? Am folgenden Morgen geht es wieder zur Arbeit.
Unser Chef erfährt, dass ich mit baldiger Entlassung rechnen kann. „Dann entfernen Sie schon das Kreuz auf ihrem Mantel. Sie bekommen bestimmt keine eigenen Sachen mehr.“ Er gibt mir Terpentinersatz, damit versuche ich das Kreuz, das mit Ölfarbe groß auf dem Rückenteil des Mantels gezeichnet war, zu entfernen. Es hält schwer, aber Stück für Stück geht nach vieler Mühe aus. Weil Samstag ist, arbeiten wir bis 1 Uhr durch und rücken dann in Fünferreihen geschlossen in 2 Kolonnen von etwa 2.000 Frauen ins Lager. Ich habe die Siemensbaracke zum letzten Mal gesehen.
An Mittagessen können wir noch nicht denken. Ich liege auf dem Bett und versuche zu ruhen. Da werde ich gegen 2 Uhr gerufen. Fertig machen zur Entlassung. Schnell sind die paar Habseligkeiten gepackt oder verschenkt. Lebet wohl! Bald werdet auch Ihr folgen! Bekannte helfen mir. Ich suche noch einige Leidensgefährtinnen in anderen Baracken auf, um Ab-schied zu nehmen. Sie beneiden mich. Doch haben auch sie Hoffnung. Nun folgt eine Reihe Formalitäten.
Vor dem Büro werden alle mit Namen und Nummern aufgerufen. Wir müssen ins Bad zum Waschen. Dann geht es zur Effekten-kammer. Die Lagerkleider werden gegen Zivilkleider vertauscht. Unsere eigenen Sachen sind nicht mehr da. So muss man sich irgend etwas Passendes suchen. Schuhe finde ich keine, Mantel ist auch keiner, der passt; so behalte ich, den ich bis jetzt getra-gen , wenn auch das Kreuz auf dem Rücken noch sichtbar ist.
Nun werden wir zur politischen Leitung geführt. Da müssen wir unterschreiben, dass wir aus dem Lager nichts erzählen!! Wir erhalten einen Entlassungsschein. Darauf steht: (Näheres fehlt).
Wo ist unser Geld? Nichts wird ausgezahlt. Im Baderaum erhält (unleserlich) 1/3 Brot, etwas Margarine, 1 Stück Wurst: Verpflegung für 2 Tage. Im Übrigen seid ihr Flüchtlinge, heißt es. Die gute Frau Thema(?) bringt mir noch ein Messer und eine Tasse für die Reise. Auf Wiedersehen in der Freiheit! Doch bis heute – fast 4 Jahre nach der Entlassung habe ich nichts von ihr gehört. Gegen 6 Uhr verlassen wir das Lager. 69 Frauen sind es. Eine Aufseherin begleitet uns zum Bahnhof Fürstenberg etwa 1/4 Stunde von Ravensbrück. Es geht durch das große Tor. Wir werden wie immer mit viel Gebrüll gezählt. Dann geht es weiter, der 1. Schlagbaum öffnet sich, nach etwa 100 Schritten der zweite. Müde langen wir am Bahnhof an. Die Leute schauen uns von der Seite an. Häftlinge, hören wir flüstern. Soldaten lungern im Vorraum des Bahnhofes. Die Aufseherin gibt am Schalter die Scheine ab. Wir erhalten darauf unsere Fahrkarten. Die einen wollen nach Berlin, die anderen nach Hamburg. Ich fordere nach Stuttgart. Mit einem Lächeln erhalten wir die Karten. Die Bahnbeamten wissen, dass wir unser Ziel nicht mehr erreichen.
Wir warten und warten. Es kommt kein Zug. An Schlafen ist nicht zu denken. 2 Frauen halten sich zu mir, weil sie annehmen, dass ich reisekundig bin; die eine ist von der Saar; sie will zu ihrer Schwester nach Bayern, die zweite ist aus Breslau, eine Ordensfrau. Sie will über Berlin versuchen, in die Heimat zu kommen. Gegen 5 Uhr morgens heißt es: Zug in der Richtung Berlin. Wir steigen ein. Endlich fort von diesem Ort des Schreckens! Was kommt, daran denken wir nicht. Der Zug fährt uns viel zu langsam. Auf einmal heißt es: Nassenheide! Alle aussteigen. Der Zug fährt nicht weiter.(unleserlich)
Wie geht es weiter? Ich überlege mit den beiden und komme zu dem Entschluss, im nahen Dorfe Auskunft zu holen über die Lage. Schon bald treffe ich einen Bauersmann und erfahre, dass die Vororte von Berlin unter Beschuss liegen und dass die Bewohner hier mit jeder Stunde mit Evakuierung rechnen. Mit dieser Auskunft gehe ich zum Bahnhof zu den beiden Frauen zurück. Bei mir steht es fest: Ich gehe nicht nach Berlin. Da hängt zum Glück eine gute Karte im kleinen Warteraum des Bahnhofes. Ich steige auf den Tisch, um besser lesen zu können und entwerfe nun folgenden Reiseplan: Wie fahren 1 Station zurück nach Löwenberg. Von dort geht eine Bahn nach Neuruppin, dann können wir weiter über Schwerin nach Lübeck, zur Elbe. Den Plan führen wir aus.
Nach einiger Zeit fährt der Zug zurück. Wir steigen auf der nächsten Station aus. Doch vor Montag 10 Uhr geht kein Zug weiter. Wir mischen uns im Dorfe unter die Flüchtlinge, die (unleserlich) hier lagern. Wir erhalten warmen Kaffee sogar mit Milch, verzehren unser Brot und suchen dann für die Nacht ein Unterkommen. In einer Scheune im Stroh verbringen wir die Nacht. Schon früh sind wir auf, es ist empfindlich kalt. Wir machen uns fertig und gehen zum Bahnhof, der ungefähr eine halbe Stunde entfernt liegt. Schon bald merken wir, wie elend wir sind. Unser kleines Gepäck drückt wie Zentnerlast. Um 9 Uhr sind wir dort; aber es will und will kein Zug kommen. Wir begegnen vielen Soldaten. Sie haben einen Stock in der Hand, keine Gewehre, keine Munition, ohne Führung. Gegen Mittag fährt der Zug nach Neuruppin. Die Fahrt ist gefährlich, da Tief-flieger die Züge beschießen. Doch wir kennen die Gefahren nicht und sind voller Hoffnung. In Neuruppin suchen wir ein Nacht-quartier. Es ist bald gefunden in einem Pfarrhaus. Der Pfarrer stellt die ganze Wohnung uns (hier bricht das Manuskript ab.).
Maria Hilfrich: Im Polizeigefängnis
Liebeserweise der Dreimal Wunderbaren Mutter und Königin von Schönstatt
Wenn Kinder in Not sind, ist die Hilfe der Mutter besonders sichtbar. Im März 1943 kam ich vom Polizeigefängnis nach Ravensbrück ins Frauen-Konzentrationslager.
Bei Eintritt lernte ich eine Tschechin kennen, eine gut katholische Frau, die dafür sorgte, dass ich mit anderen gut gesinnten Frauen bekannt wurde, die dann sich meiner annahmen. Durch deren Vermittlung bekam ich einen guten Arbeitsplatz bei Zivilbeamten auf einem Büro. Keine übermäßige Arbeit, gütiges Verstehen. Es hätte auch anders sein können: Waldarbeit, Straßenbau, Ausladen der Schiffe, Kanäle reinigen.
Am Sonntag wurde auf dem Büro nicht gearbeitet, es war Freizeit, soweit sie nicht im Lager durch Appellstehen, Kontrollen usw. behindert wurde. Die Möglichkeit bestand, sich mit Bekannten auf der Lagerstraße zu treffen zum Gebet, zur geistigen Feier der hl. Messe, zum Gedankenaustausch. Jede war bedacht, der anderen zu helfen.
Die Ernährung war schlecht, doch durften wir Pakete empfangen, und die liebe MTA (Mater Ter Admirabilis = Dreimal Wunderbare Mutter; das ist der Name unter dem Maria, die Mutter von Jesus Christus, in Schönstatt verehrt wird, Erg.) sorgte immer, dass, wenn der kleine Vorrat zu Ende ging, ein Päckchen wieder eintraf, worüber die anderen dann staunten. So war der größte Hunger gestillt, ja man konnte mancher Leidensgenossin noch helfen.
Eine aus unserem Kreis war in der Wäscherei beschäftigt, sie sorgte dafür, dass ich reine Wäsche hatte. Im Lager vergingen Wochen, bis die Wäsche gewechselt wurde. Und was erhielt man dann? Bald waren die Wäschestücke zu klein, dann zu groß oder – obschon sie aus der Wäscherei kamen – schmutzig, verlaust. Eigentlich sollte jede nur haben, was sie auf dem Leibe trug, keine Wäsche, kein Kleid zum Wechseln.
Eine gute Polin schenkte mir einen Rosenkranz. War das eine Freude! Wir durften keinen religiösen Gegenstand, kein Gebetbuch haben. Wohl hieß es, das teure Kleinod sorgsam hüten vor den Augen der Aufseherinnen. Doch es ist mir geglückt, den Rosenkranz mit nach Hause zu bringen.
Die liebe MTA schützte das Lager vor feindlichen Fliegern. Sie zogen ihre Kreise um das Lager, aber es fiel keine Bombe. Darum war ich auch so sorglos gegen Feindflieger, als ich am 21. April 1945 – Vinzenz Pallottis (Gründer des Pallotiner-Ordens, aus dem sich die Schönstatt-Bewegung entwickelt hat, Erg.) Geburtstag – an einem Samstag das Lager verlassen konnte. Zwei Frauen hatten sich mir auf der Heimreise angeschlossen. Der Zugverkehr war unregelmäßig, wurde bald ganz eingestellt, nur Lazarettzüge verkehrten noch. Wir bestiegen einen solchen Zug, der Richtung nach Norden nahm. Eine Nacht verbrachten wir auf der Plattform. Dann fragte uns der Leiter des Transportes nach unseren Ausweisen. Wir zeigten unseren Entlassungsschein vom Lager. Daraufhin mussten wir den Zug auf der nächsten Station verlassen. Leute, die im KZ waren, nahm man nicht mit. Doch die Gottesmutter hatte gesorgt. Nach etwa zwei Stunden lag der Lazarettzug auf der Strecke und war von feindlichen Fliegern bombardiert worden. „Sehr Ihr“, sagte ich, als wir das hörten, „deshalb mussten wir den Zug verlassen.“ Inzwischen hatten wir uns mit Lebensmitteln versorgt und unseren Hunger gestillt – sogar mit reichlich guter Butter. Unterwegs trafen wir gute Leute, die uns Obdach gewährten, die Wohnung zur Verfügung stellten, bis wir schließlich wohlbehalten nach 10 Wochen in der Heimat ankamen, gesund ankamen...(hier bricht das Manuskript ab).
Lesen Sie abschließend HIER noch einen Artikel der Rhein-Lahn-Zeitung vom 29.11. 1995