Foto: Holger Weinandt (Koblenz, Germany) 12.07.2011  Lizenz cc-by-sa-3.0-de

Elisabeth Müller (Pfarrerstochter aus Winningen)

 

Lesen Sie HIER die Karteikarte der Gestapo Koblenz von Elisabeth Müller

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Stolperstein für Elisabeth Müller, verlegt am 27. Oktober 2020 in Winningen, zusammen mit dem Stolperstein für Pfarrer Friedrich Schauss.

 

Erinnerung an Elisabeth Müller und Pfarrer Friedrich Schauss

Ansprache von Joachim Hennig, gehalten am am 26. Oktober 2020 in der Evangelischen Kirche von Winningen zur Verlegung von Stolpersteinen für Elisabeth Müller und Friedrich Schauss am Dienstag, dem 27. Oktober 2020, in Winningen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

wir sind heute hier zusammengekommen, um an zwei ehemalige Bürger des Ortes zu erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus Verfolgung erlitten und für die morgen Vormittag Stolpersteine als kleine Denkmale verlegt werden. Es sind zwei Menschen, die mit der evangelischen Pfarrgemeinde und mit dem Pfarrhaus eng verbunden waren: der Pfarrer Friedrich Schauss und die Pfarrerstochter Elisabeth Müller.

Friedrich Schauss wurde im September 1933 Pfarrer in Winningen – mitten im beginnenden Kirchenkampf zwischen den Nationalsozialisten und ihren Deutschen Christen einerseits und ihren Gegnern, die sich schon bald in der Bekennenden Kirche organisierten, andererseits. Schauss wurde 1891 in Linkenbach, einem Ort im Landkreis Neuwied geboren, hatte in Gießen Abitur gemacht und dort auch studiert. Während des Ersten Weltkriegs war er zeitweise Soldat, legte sein Erstes und auch Zweites Theologisches Examen beim Evangelischen Konsistorium der Rheinprovinz in Koblenz ab. Anschließend war er Hilfsprediger und nach seiner Ordination Pfarrer in Duisburg und Düsseldorf. Mit Pfarrer Schauss entschied sich die Winninger Gemeinde für einen konservativen und national gesinnten Pfarrer, der aber eine feste religiöse Bindung hatte und sich in dem Kirchenkampf als durchaus bekenntnistreu erwies – was zwangsläufig zu einem Konflikt mit dem NS-Regime führen musste.

Das begann mit dem „Kampf um den Sonntag“. Streitpunkt war, dass die Hitler-Jugend (HJ) ihr „Antreten“, ihre Aufmärsche, Schulungen und sonstige Aktivitäten mit Vorliebe auf den Sonntagvormittag terminierte, um so ihre Mitglieder vom Gottesdienstbesuch abzuhalten. Des Weiteren stritt man über den Religionsunterricht in der Winninger Schule. Einen Krach und viel Unverständnis gab es, weil die Winninger Anführerin des Bundes Deutscher Mädel (BDM) die Konfirmandínnen kurz nach deren Konfirmation nach Koblenz zu einem karnevalistischen Film geführt hatte. Immer wieder war Schauss bemüht, für die Kirche Raum zu schaffen und NS-Gedankengut fernzuhalten.

Zur ersten größeren Kraftprobe zwischen Pfarrer Schauss und den örtlichen Nazis, vor allem dem Ortsgruppenleiter Eduard Kröber, kam es im August 1935. Nachdem Schauss einen Pfarrer jüdischer Herkunft zu seiner Urlaubsvertretung bestellt und dieser auch schon die ersten Amtshandlungen vorgenommen hatte, lief die NSDAP-Ortsgruppe dagegen Sturm und drohte: „Die SA werde die Kirche stürmen und den Pfarrer von der Kanzel holen.“ Die Situation rettete der Pfarrer Wilhelm Krumme, indem er sich bereit erklärte, als Urlaubsvertretung tätig zu werden. Gleichwohl ließ der Ortsgruppenleiter nicht locker und beschwerte sich beim Konservatorium über Pfarrer Schauss und den „unbegreiflichen“ Tatbestand, „dass heute noch nicht-arische Personen eine Kanzel in einer evangelischen Gemeinde betreten dürfen“.

Schon wenige Monate später wurde Schauss vom Ortsgruppenleiter Kröber wegen angeblicher „staatsfeindlicher“ Äußerungen bei der Gestapo in Koblenz mit der Begründung angezeigt, die Erziehung der Jugend durch die Nazis entfremde die Kinder von ihrem Glauben. Das führte sogar zu einem Strafverfahren vor dem Sondergericht in Köln. Es verlief aber im Sand, weil man Pfarrer Schauss konkrete diesbezügliche Äußerungen nicht nachweisen konnte.

Gleichwohl stand Schauss unter eingehender Beobachtung mit anschließender Denunziation. So beschlagnahmte man bei ihm im Sommer 1937 eine Kollekte und machte ihm wegen Verstoßes gegen den Kanzelparagrafen den Prozess vor dem Sondergericht in Köln. Auch dieses wie ein weiteres Verfahren wegen der Verteilung eines Flugblatts der „Bekennenden Kirche“ wurde nach einiger Zeit eingestellt. Es gab dann noch weitere Verfahren, weil er einen Konfirmanden, der ihn mit „Heil Hitler“ begrüßt hatte, angeblich ohrfeigte, und weil er kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges geäußert haben soll: „Deutschland kann seine Kolonien nicht wiederbekommen, weil wir die Juden so schlecht behandelt haben.“ Alle diese Verfahren wurden zwar vom Sondergericht Köln eingestellt, übten ungeachtet dessen aber einen ganz erheblichen Druck aus.

Bespitzelungen und Denunziationen begleiteten Pfarrer Schauss auch weiterhin. Es wurde immer schwieriger für ihn, einen möglichst geraden Weg zu gehen. Dabei konnte er sich längst nicht auf seine Gemeindemitglieder verlassen - auf alle wohl ohnehin nie. Als er in einer Predigt einmal den Satz sagte: „Es gibt nur einen Führer, und der heißt Jesus Christus“, wurde er von Gemeindemitgliedern von der Kanzel heruntergeholt.

Im Frühjahr 1940 kam dann der Anfang von Pfarrer Schauss‘ Ende in Winningen. Als er die Kirchenglocken als „Metallspende des deutschen Volkes“ für die Rüstung abliefern sollte, veranstaltete er als Kritik an der Wegnahme des Geläuts eine „Glocken-Opfer-Feier“ in der Kirche. Ein Gedächtnisgottesdienst für Gefallene Ende Juni 1940 brachte dann das Ende. Zwei Monate später nahm ihn die Gestapo Koblenz fest, weil er dabei gesagt haben soll, wenn in Berichten der Kompanieführer über die letzten Stunden von Gefallenen gesagt werde, sie hätten einen sanften Tod gehabt, so sei das meist gelogen.

Schauss kam in „Schutzhaft“ im Koblenzer Gefängnis, auch sperrte man ihm den staatlichen Pfarrbesoldungszuschuss. Nach 2 ½ Monaten kam er wieder frei. Gegen ihn erging aber ein Aufenthaltsverbot für zahlreiche Provinzen und Gebiete sowie ein Redeverbot für das gesamte Reichsgebiet.

Daraufhin verließ Pfarrer Schauss mit seiner Familie umgehend Winningen und zog nach Bad Kissingen. Das Konsistorium der Rheinprovinz sah darin eine „nicht geringe Entgleisung auf seelsorgerischem Gebiet“ und sprach ihm eine Missbilligung aus. Außerdem versetzte es ihn mit Wirkung von 1. Juni 1941 in den Wartestand – eine Art einstweiliger Ruhestand. Bis Kriegsende erhielt er keine Anstellung mehr. Es war eine schwere Zeit für ihn und seine Familie, seine Frau und seine fünf Kinder.

Nach der Befreiung vom Faschismus war Friedrich Schauss Pfarrer in der Nähe von Düsseldorf. 1956 ging er in Ruhestand. 1965 starb Friedrich Schauss in Bad Münster am Stein.

Ein weiterer Stolperstein wird morgen für Elisabeth Müller verlegt. Elisabeth Müller war eine Ur-Winningerin, geboren 1875 als ältestes von sieben Kindern des hiesigen Pfarrers Adolph Müller und seiner Ehefrau Caroline. Nach dem Besuch der Volksschule hier und der Evangelischen Höheren Mädchenschule in Koblenz, die sie mit dem Lehrerinnenexamen für Höhere Schulen abschloss, war sie kurze Zeit Volksschullehrerin in Winningen. Bald zog sie zu ihrer reichen verwitweten Patentante nach Köln.

Nach dem Tod der Tante im Jahr 1909 fiel ihre eine große Erbschaft zu. Daraufhin begab sie sich auf eine Weltreise. Als das Geld zur Neige ging, wurde sie Lehrerin an der Oberrealschule in Gießen. Elisabeth Müller war eine begeisterte Bergsteigerin. Bei einer Bergtour mit ihrem Bruder am Großvenediger im Jahr 1920 stürzte sie ab und verletzte sich schwer. Die Genesung gestaltete sich langwierig. Anfang der 1930er Jahre kehrte sie nach Winningen zurück. Hier lebte sie zurückgezogen, gab in geringerem Umfang Nachhilfestunden und war im Frauen- und Jungfrauenverein aktiv.

Politisch war Elisabeth Müller sehr wach und ausgesprochen regimekritisch eingestellt. Noch 1938 bezog sie englische Zeitungen und sprach mit Bekannten und Nachbarn über Zeitungsartikel, die kritisch über Deutschland berichteten. Das weckte den Argwohn der Gestapo Koblenz und auch von Nazi-Anhängern im Ort. So fiel auf, dass sie bei der „Volksabstimmung“ und „Wahl“ des Großdeutschen Reichstages am 10. April 1938 mit „Nein“ stimmte. Das war in den Augen der Winninger Verrat, hatte doch der Gemeinderat in seinem Aufruf dazu beschlossen: „Winningen als nationalsozialistische Hochburg erwartet (…) von jedem Wahlberechtigten ein rückhaltloses Bekenntnis, ein 100%iges Ja!“. Als die Wahlentscheidung Elisabeth Müllers bekannt wurde – und sie wurde bekannt, weil es keine Geheimhaltung gab – schrie eines Nachts ein SA-Mann vor ihrem Haus: „Hier wohnt das Nein-Schwein!“

Das Kesseltreiben begann. Man verbot ihr, Nachhilfestunden zu erteilen und sammelte gegen sie eifrig Beweismaterial. Elisabeth Müller ließ sich aber nicht einschüchtern, tat weiterhin ihre Meinung zu den Dingen kund und pflegte einen regen Briefverkehr mit Gleichgesinnten. Dies, insbesondere ihre lebhafte Auslandskorrespondenz, führte zur Kontrolle ihrer Post. Dabei fielen der Gestapo Formulierungen auf, die sie als „erhebliche staatabträgliche Äußerungen“ ansah, wie etwa die: „In Köln waren ja Hungerrevolten. Es gab Erschießungen und Verhaftungen“.

Daraufhin nahm die Gestapo Elisabeth Müller in „Schutzhaft“ in Koblenz. Ein Verfahren gegen sie wegen Vorbereitung zum Hochverrat vor dem Volksgerichtshof wurde erwogen, dann aber verworfen. Es gab „nur“ eine Anklage vor dem Sondergericht Koblenz wegen Verbrechens gegen das „Heimtückegesetz“. Das Gericht gab sich dabei Mühe, für sie Entlastendes zusammenzutragen und brachte ihr insbesondere den schweren Bergunfall und dessen Folgen zu Gute. Das Urteil von Mai 1942 lautete dementsprechend vergleichsweise milde auf 8 Monate Gefängnis. Dabei wurde ihr die erlittene Untersuchungshaft auf die Strafe angerechnet, so dass sie „nur“ noch für einen Monat in das Gefängnis Köln Klingelpütz musste.

Damit gab sich die Gestapo aber nicht zufrieden. Vielmehr sann sie – was damals zur „Korrektur“ ihrer Meinung nach falscher Urteile möglich war – auf eine „Nachhaft“. So kam Elisabeth Müller nach der Strafverbüßung im Klingelpütz nicht frei, sondern wurde der Gestapo überstellt. Sodann beantragte die Gestapo Koblenz beim Reichssicherheitshauptamt in Berlin, sie in ein Konzentrationslager zu überweisen. Tatsächlich wurde sie aufgrund eines Erlasses des Reichssicherheitshauptamts am 8. September 1942 – damals war sie 67 Jahre alt - ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt.

Während Elisabeth Müller dort unter unwürdigsten und schwierigsten Bedingungen um ihr Überleben kämpfte, erregte ihr „Fall“ hier die Gemüter. So wurde am 1. Mai 1943 am Maibaum eine Strohpuppe, die sie darstellte, aufgehängt und verbrannt. Zugleich war an der gegenüberliegenden Hauswand ein Plakat mit einem gehässigen Text in der Art einer Todesanzeige angebracht.

Anfang Februar 1944 wurde sie im Frauen-KZ Ravensbrück selektiert und mit 1.000 anderen Häftlingen weiter in das Konzentrationslager Lublin verschleppt. Von dort transportierte man sie mit den Überlebenden weiter ins KZ Auschwitz. Von dort erhielt die Familie von ihr am 17. September 1944 eine letzte Nachricht. Am 27. Januar 1945 wurde Elisabeth Müller mit einigen tausend Häftlingen im KZ Auschwitz von der Roten Armee befreit. Durch die jahrelange Haft waren ihre Kräfte aber so aufgezehrt, dass sie nicht mehr gesunden konnte. Zwei Monate später, am 25. März 1945, starb Elisabeth Müller in Auschwitz an den Folgen der Haft.

Das Schicksal von Pfarrer Friedrich Schauss und der Pfarrerstochter Elisabeth Müller zeigt uns, wohin Hass, Denunziation und Gewalt auch in einer kleinen Gemeinde führen können. Als „Störenfriede“ schloss man sie aus der faschistischen „Volksgemeinschaft“ aus und erklärte sie zum Feind. Damit machte man sich auch zum Handlanger eines terroristischen Systems, am Ende stand der Mord in Auschwitz. Es ist ein Stück weit versöhnlich, dass wir jetzt dieser beiden Winninger ehrend gedenken. Mögen die beiden, Friedrich Schauss und Elisabeth Müller, uns mahnen zu einem friedlichen und solidarischen Miteinander.

 

Weiterführende Hinweise :

  • Löwenstein, Gerhard: Die evangelische Kirchengemeinde Winningen während der Zeit des Nationalsozialismus, in: Volkshochschule Untermosel (Hg.): Moselkiesel, Band 1, Kobern-Gondorf 1998, S. 119 ff (157 – 160),
  • Walter Rummel: Recht und Ordnung Reihe: Im Wandel der Zeit, 2000 Jahre an Rhein und Mosel, Heft 9, Zwolle 2000, S. 221f