Foto: Holger Weinandt (Koblenz, Germany) 12.07.2011  Lizenz cc-by-sa-3.0-de

Lesen Sie folgende Dokumente:

Lesen Sie HIER die Karteikarten der Gestapo Koblenz von Alfred und Günter Stern

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des Fördervereins Mahnmal Koblenz


Koblenzer Nationalblatt vom 14. November 1938 nach der "Reichspogromnacht"

Das Hetzblatt "Der Stürmer" nach den Novemberpogromen 1938

Die 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 1. Juli 1943 HIER lesen

Pressebericht einer englischen Zeitung (um 2010)

HIER die Liste der 1. Deportation vom 22. März 1942 – die Eltern von Günter Stern/Joe Stirling, Alfred und Ida Stern, sind dort als „laufende Nummern“ 295 und 298 aufgeführt - einsehen.




Runderlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 15. November 1938
- betreffend den Schulunterricht an Juden

Nach der ruchlosen Mordtat von Paris kann es keinem deutschen Lehrer und keiner deutschen Lehrerin mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, dass es für deutsche Schüler und Schülerinnen unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen. Die Rassentrennung im Schulwesen ist zwar in den letzten Jahren im Allgemeinen bereits durchgeführt, doch ist ein Restbestand jüdischer Schüler auf deutschen Schulen übrig geblieben, dem der gemeinsame Schulbesuch mit deutschen Jungen und Mädels nunmehr nicht weiter gestattet werden kann. Vorbehaltlich weiterer gesetzlicher Regelungen ordne ich daher mit sofortiger Wirkung an:

1. Juden ist der besuch deutscher Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen. Soweit es noch nicht geschehen sein sollte, sind alle zurzeit eine deutsche Schule besuchenden jüdischen Schüler und Schülerinnen sofort zu entlassen.

2. Wer jüdisch ist, bestimmt § 5 der Ersten Verordnung vom 14. November 1935 zum Reichsbürgergesetz (RGB1. I S. 1333).

3. Diese Regelung erstreckt sich auf alle mir unterstellten Schulen einschließlich der Pflichtschulen.

(zit. nach: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Amtsblatt des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der anderen Länder 1938, S. 520 f.)

 

Interview mit Günther Stern/Joe Stirling

Im Rahmen ihrer Facharbeit interviewte im Jahr 2011 die damalige Schülerin Marie Scholz Günther Stern/Joe Stirling.  Übersetzung des Interviews in Deutsch

Frage:
Gab es aufgrund Ihrer Religion irgendwelche unerfreulichen Ereignisse in Deutschland?

Antwort:
Was uns zwischen 1933 und 1939 zustieß, war ein schrittweiser Prozess. In Nickenich gab es einige Nazis, aber die Mehrzahl zählte hierzu nicht. Allmählich verschlimmerte sich der Druck gegen jüdische Menschen und sogar solche, die gegen das Naziregime waren, hatten Angst davor, als unsere Freunde angesehen zu werden. Ich war das einzige jüdische Kind auf unserer Schule und hatte natürlich viele Freunde, aber noch einmal, meistens hörten sie auf, mit mir zu spielen, wenigstens öffentlich, wie beim Fußballspielen in der Hintergasse, in der wir lebten. Nach der Kristallnacht (November 1938), als mein Vater in das Konzentrationslager Dachau verbracht wurde, zogen meine Mutter und ich zu meinem Großvater, der in Koblenz-Lützel lebte. Mir war es nicht länger vergönnt, die Schule zu besuchen.

Frage:
Haben Sie irgendwelche Erinnerungen an Ihre Eltern?

Antwort:
Natürlich habe ich sehr klare Erinnerungen an meine Eltern. Meine Mutter war gewiss wie alle Mütter, sehr fürsorglich und liebevoll und sie war eine wundervolle Köchin, was sich allerdings immer schwieriger darstellte als wir ärmer und ärmer wurden. Mein Vater war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen. Er beförderte auf dem Pferderücken Nachrichten vom Gefechtsstand zur Frontlinie. Er wurde viermal verwundet, erholte sich aber stets, um mit seinen Dienst fortzufahren. Er sprach ohne Unterlass vom Krieg. Er hatte ihn geistig durchdrungen. Er war sich sicher, dass ihm als Veteran nicht Schlimmes passieren könne, aber dann kam die Kristallnacht!

Frage:
Wie stellten sich Ihre Eltern zu Ihren Fluchtplänen nach England?

Antwort: Nachdem meine Eltern erfahren hatten, dass es für mich in Deutschland keine Zukunft gab, setzten sie mich auf die Liste für den Kindertransport nach England. Ich erzählte ihnen nicht, dass ich plante, mich auf eigene Faust dorthin durchzuschlagen, obwohl es nicht so aussah, dass ich vor dem Krieg noch Deutschland verlassen könnte. Aber als ich nach Hause zurückkam, verstanden sie, warum ich es versuchen musste. Obwohl sie sich für mich freuten, als ich dann endlich dem Kindertransport zugewiesen wurde, bin ich mir sicher, dass sie sehr traurig darüber waren mich zu ,,verlieren“ obgleich sie und ich hofften, eines Tages wieder zusammen zu sein.

Frage:
Was bewegte Sie dazu, nach England zu fliehen, obwohl Sie nicht wussten, wie es dort sein würde?

Antwort: Es mag Sie verwundern, aber ich war keineswegs besorgt, in ein fremdes Land fortzuziehen. Ich war aufgeregt, aber letztlich einfach glücklich, ein Land zu verlassen, in dem den Menschen befohlen wurde, mich und meinesgleichen zu hassen.

Frage:
Was machten Sie, als Sie in Köln ankamen? Wie gestaltete sich die Zugfahrt?

Antwort: Vor meiner Abfahrt verbrachte ich die Nacht in Köln bei meinem Cousin und meiner Cousine, die Zwillinge (ein Junge und ein Mädchen) waren. Das Mädchen war so ängstlich, ihre Eltern zu verlassen und in ein fremdes Land zu gehen, dass sie sie nicht für einen Kindertransport nach England angemeldet hatten. Unglücklicherweise wurden sie dadurch zu Holocaustopfern und starben mit ihren Eltern. Meine Eltern verabschiedeten sich von mir am Bahnsteig, als der Sonderzug ankam. Das Letzte, was ich meinen Vater zu meiner Mutter sagen hörte - was ich nicht mitbekommen sollte - war: ,,Keine Tränen bis er weg ist. Der Zug war mit dreihundert von uns besetzt, einige nicht älter als acht Jahre. Einige der Jüngeren weinten, weil sie nicht ohne ihre Eltern fortgehen wollten. Wir Älteren versuchten sie aufzuheitern, aber das war schwierig. Es war ein sehr heißer Nachmittag und einen Speisewagen gab es im Zug nicht. Wir fragten den holländischen Zugschaffner, wie wir etwas zu trinken bekommen könnten. Er stoppte an einem Stellwerk und arrangierte einen Halt in Utrecht. Die Stationsangestellten kamen mit Tabletts voller Getränke, aber wir mussten 95 holländische Cents bezahlen. Wir hatten jeder eine Reichsmark, was in etwa in einem holländischen Gulden entsprach, also bekamen wir 5 Cents Wechselgeld! Niemanden von uns war es erlaubt, mehr als eine 1 Mark aus Deutschland mitzunehmen!

Frage:
Kannten sie bereits ihre Pflegefamilie? Wählten sie Sie aus oder umgekehrt?

Antwort: Ich hatte keine Ahnung, wer meine Gastfamilie sein würde oder sogar an welchem Ort ich leben würde. Ich weiß nicht, wie viel die Familie (Mr. und Mrs. Free) über mich wusste, aber sie hatten es bewerkstelligt, dass ich auf ein Gymnasium in Birmingham gehen konnte, der zweitgrößten Stadt im Land. Also müssen sie gewusst haben, dass ich ungefähr 14 Jahre alt war.

Frage:
Wie hat Sie Ihre Pflegefamilie aufgenommen?

Antwort: Ich wurde von Mr. und Mrs. Free sehr herzlich aufgenommen. Sie waren beide Absolventen der Universität von Oxford. Sie hatten ein kleine Tochter - Margaret - 8 Jahre alt, die sich (ebenfalls) sehr freute und ich wurde ihr älterer ,,Bruder“

Frage:
Akzeptierten Sie Ihre Gastgeschwister als ,,echtes“ Familienmitglied? Wie kamen Sie mit all den Änderungen, insbesondere in der Schule, zurecht? War die neue Sprache eine große Verständigungsbarriere?

Antwort: Ich kam im Juli 1939 in England während der Schulferien an, so dass ich mit der Schule im September anfangen sollte. Die Frees besaßen ein Ferienhaus in den Bergen von Nordwales, wo wir den ganzen Monat August verbrachten. Ich habe ein wenig Englisch gelernt, nachdem ich wusste, dass ich höchstwahrscheinlich nach England gehen würde. Mrs. Free half mir viel. Während des Sommers erschien es immer greifbarer, dass der Krieg schon bald ausbrechen würde. Birmingham ist eine sehr wichtige Industriestadt und würde voraussichtlich bombardiert werden: Deshalb wurden alle Schulen dahingehend organisiert, in Kleinstädte evakuiert zu werden. Dort würden dann die Kinder mit ihren Pflegefamilien leben. Mr. und Mrs. Free dachten, dass ich bald bei einer anderen Gastfamilie würde leben müssen. Deshalb hatten sie es mit der Zustimmung des Gymnasiums arrangiert, dass ich für ein Halbjahr (bis Weihnachten) eine Schule in Nordwales besuchte, damit sich bis dahin mein Englisch verbessern sollte. Leider sprachen alle Kinder an dieser Schule Walisisch, eine ganz andere (keltische) Sprache. Sie lernten Englisch, aber untereinander sprachen sie immer Walisisch. Zu Weihnachten konnte ich besser Walisisch als Englisch! Im Januar 1940 zog ich nach Lydney, eine Kleinstadt in Gloucestershire, wo ich endlich meine Lehrer und Klassenkameraden traf. Es war harte Arbeit, weil ich in Nickenich nur eine elementare Erziehung genossen hatte, zum Bespiel Arithmetik, aber nicht Geometrie oder Algebra, Geschichte und die Art und Weise wie die Nazis sie lehren wollten, etc. etc. Aber ich nahm die Herausforderung freudig an und arbeitete hart, bis ich in nicht weniger als vier Jahren meine Hochschulreife erworben hatte.

Frage:
Wie viele Briefe erhielten Sie von Ihren Eltern aus Polen und wann genau erreichte sie der letzte Brief?

Antwort: Ich schrieb die ersten sechs Wochen nachdem in England angekommen war, und sie antworteten mir mindestens einmal die Woche. Dann brach der Krieg aus und wir konnten nur über das Rote Kreuz in Genf korrespondieren. Da dort so viel Post anfiel, konnten wir uns nur alle drei Monate schreiben. Den letzten Brief den ich von meinen Eltern erhielt, stammte aus dem März 1942. Darin schrieben sie mir, dass sie in Kenntnis gesetzt worden waren, in Polen ,,wiederangesiedelt“ zu werden, und sie würden schreiben, sobald sie dort angekommen seien. Ich hörte nie mehr irgendetwas von ihnen. Jetzt wissen wir warum! Sicherlich hatte ich keine Ahnung davon, dass sie ermordet wurden. Dies war erst bekannt, als russische Truppen nach Polen vorstießen und der Welt mitteilten, dass sie Gaskammern gefunden hatten, das war aber nicht vor 1945.

Frage:
Blieben Sie mit den anderen Kindern in Kontakt, die mit dem Kindertransport geflohen waren? Gab es einen großen sozialen Zusammenhalt?

Antwort: Ich hatte niemals irgendeinen Kontakt mit anderen Flüchtlingskindern. - Ich kannte ihre Namen oder ihre englischen Adressen nicht. In gewisser Weise denke ich, dass das gut war, da ich bald neue Freundschaften schloss und mich bald ziemlich ,,Britisch“ fühlte. Das könnte sich nicht so entwickelt haben, wenn ich den Umgang mit deutschsprachigen Kindern aufrechterhalten hätte.

Frage:
Was machte Sie so stark, dass sie all das bewältigen konnten?

Antwort: Die Antwort hierauf kenne ich nicht! Ich denke, es gibt da gewisse Veranlagungen. Aber ein Großteil des Verdienstes gebührt allen Leuten um mich herum.

Frage:
Wenn Sie zurückschauen, was ist die beste Erinnerung in ihrem Leben?

Antwort: Noch einmal, ich habe da keine einfache Antwort. Mein Leben ist voller glücklicher Erinnerungen - genauso wie es schreckliche gibt. Ich denke, meine Frau zu heiraten, die Ankunft unseres ersten Kindes sowie das Wachsen und Gedeihen meiner wundervollen Familie.

Frage:
Wie denken Sie kann eine solche Verfolgung verhindert werden? Gerade weil die Gesellschaft den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust kennt?

Antwort: Es hat viele Verfolgungen in der Welt gegeben. Dass es in einem ,,zivilisierten“ Land wie Deutschland passieren konnte und passierte, und dies in eine solch entsetzlichen Ausmaß einschließlich des kaltblütigen Mordes an Millionen von Mitbürgern, sollte uns vergegenwärtigen, dass Rassen bedingte und religiöse Vorurteile IMMER gefährlich sind und einen Umfang annehmen können, den sich anfangs keiner vorstellen kann.

Frage:
Wie oft haben Sie nach dem Krieg Koblenz vor dem Hintergrund der Städteparnerschaft Koblenz-Norwich besucht?
Was denken Sie über die Bürger von Koblenz, wen haben Sie getroffen? Haben Sie den Kontakt mit irgendjemand aus Koblenz aufrechterhalten?

Antwort: Ich war nie in Koblenz mit dem Freundschaftskreis der Städtepartnerschaft Koblenz-Norwich. Trotzdem bin ich schon ziemlich oft wieder zurückgekehrt, sei es mit meiner Familie oder geschäftlich. Ich habe mit meinem Reisebüro 1956 angefangen und begleitete von Anfang an viele Reisegruppen nach Koblenz und dem schönen Rheinland, genauso wie zu weiteren deutschsprachigen Reisezielen wie dem Schwarzwald, den bayerischen Alpen, Tirol und der Schweiz. Später organisierte ich Geschäfts- und Urlaubsreisen in aller Welt einschließlich Nordamerika, Mexiko, Afrika, Thailand, Malaysia, China, Japan sowie Australien und Neuseeland. Bevor ich in Rente ging und mein Unternehmen verkaufte, beschäftigte ich eine Belegschaft von über sechzig Personen.

Frage:
Sind Sie immer noch Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde?

Antwort: Nein, ich bin nicht bei der jüdischen oder irgendeiner Religion verblieben. Ich bin Humanist. Die Vorstellung eines ,,allmächtigen“ Gottes, der zulässt, dass so viele schreckliche Dinge, nicht nur durch menschliche Taten, sondern auch durch ,,natürliche“ Katastrophen (Haiti, etc., etc.,) in einer Welt geschehen, die er erschuf, ist nichts, mit dem ich mich arrangieren kann.



Für die Eltern von Günther Stern (Alfred und Ida Stern) wurde an ihrem letzten Wohnsitz ein Stolperstein in Koblenz, Görgenstraße 6 verlegt