Das Vernichtungslager Sobibor
"Plötzlich kommen Stimmen von Juden aus den Ruinen" (Ein Historiker zu den Ausgrabungen der Gaskammerfundamente) |
Lage: Sobibor ist ein Dorf im "Landkreis" Wlodawski in der "Provinz" Lublin in Ostpolen, an der Grenze zur Ukraine und zu Weißrussland. Der kleine Ort liegt ca. 100 Kilometer nordöstlich der Provinzhauptstadt Lublin, inmitten eines kaum bewohnten Sumpfgebietes. Sobibor ist Bahnstation an der Strecke Warschau-Lublin-Wlodawa. In der unmittelbaren Nähe von Sobibor richteten die Nationalsozialisten ein Vernichtungslager ein.
Gründung des Lagers: Mit der Besetzung Polens durch Hitler-Deutschland wurden Lublin und seine Umgebung ein Distrikt im "Generalgouvernement". Sobibor war ein Teil des deutschen Besatzungsgebietes. Damit begann die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Polen. Sobibor war nach Belzec das zweite von drei Vernichtungslagern der "Aktion Reinhardt", die allein zur physischen Vernichtung von Menschen bestimmt waren. Fast ausschließlich wurden in Sobibor und den anderen beiden Vernichtungslagern Juden ermordet. Der Beschluss zur Errichtung dieses Vernichtungslagers fiel wahrscheinlich schon im Herbst 1941. Im März 1942 wurde mit dem Bau des Lagers begonnen. Für Sobibor sprach die gute verkehrsmäßige Anbindung. Außerdem war das in Frage kommende Gelände um den Bahnhof weiträumig und von größeren Siedlungen entfernt.
Aufbau des Lagers: Die Struktur des Lagers entsprach der von Belzec, allerdings war Sobibor größer. Das Lager umfasste drei voneinander abgetrennte Bereiche. Das Vorlager und das Lager I waren der Verwaltungsbereich. Das Vorlager grenzte unmittelbar an das Bahngleis, auf dem die Transportzüge eintrafen. Dort befanden sich das Kommandantengebäude, die Unterkünfte der SS-Leute und auch die Baracken der Trawniki-Männer, der ukrainischen "Hilfswilligen". Im Lager I waren die jüdischen Arbeitshäftlinge, deren Wohnbaracken, Versorgungseinrichtungen und Werkstätten, in denen sie arbeiteten. Das von einem Zaun abgetrennte Lager II war der "Empfangsraum" für die ankommenden Juden. Dort befanden sich die Sammel- und Aufbewahrungsstellen für das Handgepäck und die Wertsachen der Ankömmlinge, für deren Kleidung, Schuhe und Koffer. Außerdem war hier der Entkleidungshof und das "Lazarett" in einer ehemaligen Kapelle, an der anfangs Kranke, Kleinkinder und Transportunfähige erschossen wurden. Vom Lager II führte ein 150 Meter langer und 3 - 4 Meter breiter Gang ("Schlauch"), der mit Stacheldraht eingezäunt und mit Tannenzweigen getarnt war, in das Lager III. Der "Schlauch" ging unmittelbar in die in einem Steingebäude eingerichteten drei Gaskammern. Es schlossen sich ein Holzschuppen mit dem Motor an, der die giftigen Abgase zur Ermordung der Opfer produzierte, und die Massengräber. Das Sonderkommando der "Arbeitsjuden" für die Gaskammern und Massengräber war ebenfalls in diesem Bereich untergebracht. Er war von Stacheldraht umzäunt, der mit Tannenzweigen getarnt und unsichtbar war.
Die SS-Männer: Erster Kommandant des Lagers war der Oberleutnant der Schutzpolizei Franz Stangl. Wie Wirth war er zuvor schon an der Ermordung psychisch Kranker und Behinderter im Rahmen der "T4-Aktion" beteiligt gewesen. Im April 1942 kam er nach Sobibor. Auch die allermeisten der weiteren 25 - 30 SS-Leute des Lagers waren vorher mit den Morden in den sechs Tötungsanstalten beschäftigt. Unterstützt wurden sie von durchschnittlich 120 vor allem ukrainischen Wachmännern, die zuvor Kriegsgefangene waren und dann "freiwillig" in Trawniki eine Einweisung in ihre Tätigkeit für die SS erhalten hatten. Sie waren es vor allem, die die Juden prügelten und schikanierten, oftmals übertrafen sie dabei die SS-Leute an Grausamkeit. Am 12. Februar 1943 besuchte der Reichsführer-SS Heinrich Himmler Sobibor. Um ihm den Betrieb zu demonstrieren, hatte man mehrere hundert Mädchen und junge Frauen aus Lublin nach Sobibor gebracht und sie mit Gas ermordet. Himmler war begeistert.
Der Ablauf der Vernichtung: Die meisten Menschen kamen mit Güterzügen in das Vernichtungslager. Die Züge hielten am Bahnhof Sobibor, fuhren dann auf das Nebengleis und an die Rampe. Dort prügelte man die Menschen aus den Waggons, ihr Gepäck mussten sie abstellen. Die Kranken, Kleinkinder und Transportunfähigen lud man auf Pferdewagen und brachte sie zur ehemaligen Kapelle. Dort, am sog. "Lazarett", zerrte man sie aus dem Wagen und ermordete sie an einer Grube. Den anderen Juden hielt ein SS-Mann eine Rede: Sie würden jetzt zum Duschen geführt, in der Zwischenzeit würde ihre Kleidung desinfiziert, anschließend führen sie zum Arbeitseinsatz in die Ukraine weiter. Anfangs schufen diese Ansprachen, vor allem bei ausländischen Juden, Vertrauen; manche klatschten und sangen sogar. Danach mussten sich die Männer und Frauen mit den Kindern getrennt auskleiden und sämtliche Wertsachen abgeben. Die nackten Menschen wurden nach Geschlechtern durch den "Schlauch" zum Lager III getrieben. Auf dem Weg dorthin wurde den Frauen in einer Baracke das Haar abgeschnitten. Dann trieb man zuerst die Männer in die Gaskammern, anschließend die Frauen und Kinder. Alles geschah in äußerster Eile, unter Geschrei, Schlägen und Beschimpfungen. Die Juden standen unter Schock und liefen - um den Misshandlungen zu entgehen - in die Gaskammern. Wenn die Kammern übervoll waren, wurden die Türen geschlossen und der Motor gestartet. Nach 20 bis 30 Minuten waren die Menschen tot. Die jüdischen Häftlinge vom Sonderkommando öffneten die Türen, zogen die Ermordeten heraus, brachten sie zu den Massengräbern und warfen sie hinein. Nach der Säuberung der Gaskammern wiederholte sich das Morden mit der nächsten Gruppe Menschen.
Die Transporte: Nach den "Probevergasungen" Mitte April 1942 begann die Massenvernichtung am 3. Mai 1942 mit einem Zugtransport von 2.000 Juden aus dem Distrikt Lublin. Anfang Juni kam der erste Transport aus Deutschland unmittelbar nach Sobibor. Am 19. Juni 1942 traf der am 15. Juni 1942 in Koblenz abgehende Transport mit 342 Juden - ganz überwiegend aus der Israelitischen Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn (der 3. Koblenzer Deportationszug) - in Sobibor ein. Diese erste Phase der Vernichtung dauerte bis Ende Juli 1942. Währenddessen wurden 90.000 bis 100.000 Juden ermordet, mindestens 10.000 deutsche und österreichische. Als dann die Eisenbahnlinie zwischen Lublin und Chelm ausgebessert werden musste und unbenutzbar war, verschleppte man die Juden mit Lastwagen und Pferdefuhrwerken sowie zu Fuß zur Ermordung. Die Unterbrechung wurde zur "Optimierung" des Lagers genutzt, u.a. wurde der Weg von der Rampe in die Gaskammern verändert, er führte unmittelbar ins Lager II und es wurden weitere Gaskammern errichtet. Die zweite Phase des Massenmords begann Anfang Oktober 1942 mit weiteren Transporten aus dem Distrikt Lublin. Allein fünf Transporte kamen aus Izbica, ein Transport Mitte Oktober, ein weiterer Ende Oktober, ein dritter am 2. November 1942, ein vierter im Januar und am 28. April 1943 ein fünfter mit den letzten in Izbica noch verbliebenen Juden. Damit waren die Juden von Izbica vollständig und auch die allermeisten des Distrikts Lublin ermordet. Ab Anfang März 1943 begannen Transporte aus Frankreich und aus den Niederlanden, ab September 1943 folgten noch Transporte aus den geräumten Ghettos von Lettland, Litauen, Estland und dem westlichen Teil Weißrusslands. Man schätzt, dass in Sobibor 150.000 bis 250.000 Menschen ermordet wurden.
Aufstand am 14. Oktober 1943: Als die Transporte nach Sobibor weniger wurden und ein Ende des Lagers und damit auch der verbliebenen "Arbeitsjuden" absehbar war, planten 30 bis 40 von ihnen einen Aufstand und die Flucht. Sie nutzten die Abwesenheit des Lagerkommanten und besonders gefährlicher SS-Männer. Zunächst gelang es wie geplant, die meisten im Lager befindlichen SS-Leute zu töten. Dann geriet die Aktion aber immer mehr außer Kontrolle. Schließlich versuchten ungefähr 600 "Arbeitsjuden" unkoordiniert zu entkommen. 365 Menschen flüchteten aus dem Lager, etwa 200 von ihnen schafften es bis zum Wald. Nur 47 von ihnen erlebten das Ende des Krieges.
Die Auflösung des Lagers: Der Aufstand führte zum Ende des Lagers. Himmler befahl, es dem Erdboden gleichzumachen und alle Spuren zu beseitigen. Bereits Ende 1942 hatte man die Leichen aus den Massengräbern exhumiert und - wie in Belzec - Tag und Nacht verbrannt. Mit ihnen verbrannt wurden auch die bei den laufenden Vergasungen Ermordeten. Die Massengräber wurden mit Sand eingeebnet und mit Kiefern bepflanzt.
Gedenken: Jahrzehnte lang erinnerte nur wenig an die vor allem jüdischen Opfer von Sobibor. Seit 1993 gibt es ein kleines Museum und seit 2006 eine Gedenkstätte, u.a. mit einem Mahnmal und einem Mausoleum. Seit dem Jahr 2007 graben zwei Wissenschaftler nach den Überresten von Sobibor. Als sie im Jahr 2014 die Fundamente der Gaskammern freilegen, ist ein israelischer Historiker tief beeindruckt und sagt: "Plötzlich kommen Stimmen von Juden aus den Ruinen."