Foto: Holger Weinandt (Koblenz, Germany) 12.07.2011  Lizenz cc-by-sa-3.0-de

Daweli Reinhardt: “Musik lässt vergessen und verzeihen”

 
"Der Buchstabe Z steht für Zigeuner." Daweli Reinhardt, Mitbegründer und ehemaliger Solo-Gitarrist des bekannten Schnuckenack-Quintetts, zeigt auf seine Häftlingsnummer am linken Unterarm. Der 70-Jährige, Oberhaupt der weit verzweigten und alteingesessenen Koblenzer Reinhardt-Familie ist vom Konzentrationslager Auschwitz gezeichnet. Nur mit Hilfe seiner Musik und seiner Familie kann der Sinto vergessen und verzeihen. Daweli Reinhardt liegt die Musik im Blut. "Das habe ich von meinem Vater geerbt", sagt er. Vor 60 Jahren waren die Reinhardts mit weiteren 140 Sinti aus Koblenz nach Auschwitz deportiert worden. Über zwei Jahre durchlitt die Familie mit sieben Kindern die Vernichtungsmaschinerie der Nazis. "Nur knapp sind wir der Gaskammer entronnen. Wir standen schon alle bereit, als ein SS-Mann die Aktion urplötzlich abblies", erinnert sich der 70-Jährige. Sein Bruder Jakob starb in Auschwitz "mit einem Stückchen Brot zwischen den Lippen". "Der Tod war in Auschwitz ein Stück Normalität", sagt Reinhardt mit gesenktem Blick. Die Leichenkarren mit den ausgezehrten Körpern und herunterbaumelnden Armen und Beinen, "kamen täglich in die Blocks".

Das Ausmaß von Menschenverachtung und Quälerei der selbst ernannten "Herrenmenschen" war grenzenlos: "Aus der Kopfhaut von Toten ließen sich die SS-Leute sogar Lampenschirme machen. Die Nazi-Bonzen lebten in Saus und Braus und wir kratzten mit den Fingern die Suppe aus den Holzfässern."

Mit viel Glück überstanden die Reinhardts die Konzentrationslager Auschwitz, Ravensbrück, Bergen-Belsen und die Todesmärsche kurz vor Kriegsende. 80 Verwandte der Koblenzer Sinti-Familie sollen von den Nazis vernichtet worden sein. Mut und Pfiffigkeit entwickelte der damals Elfjährige aus dem Willen, "sich niemals unterkriegen zu lassen": Er organisierte Essen aus der Küche und besorgte Milch für die Kinder. Mit seiner Wendigkeit brachte er es bis zum "Lagerläufer" und hatte fast überall Zutritt. Nur einmal wurde er erwischt. Die Prügel steckte er ebenso weg wie die Entwürdigungen und Beschimpfungen. Zum Gefallen der SS-Leute spielte er sogar auf der Gitarre, sang oder tanzte für sie.

Heute spielt Daweli Reinhardt nur noch aus Leidenschaft. Seine Gitarre half ihm über die harten Jahre der Entbehrung nach dem Krieg. Erfolge feierte der "Mann mit den goldenen Fingern" bei Schnuckenack Reinhardt und seinen Sinti-Musikern in den 60er und 70er Jahren. Die Schnuckenack-Virtuosen hielten vor allem den Swing-Jazz des berühmten Django Reinhardt (1910 bis 1953) lebendig. Ob er mit dem legendären Vater des Zigeuner-Jazz verwandt ist, weiß Daweli nicht. Als Idol schätzt er ihn bis heute. Djangos Gitarre hat er originalgetreu nachbauen lassen und einen seiner Söhne nach ihm benannt. Seine Frau Trautchen ist auch eine geborene Reinhardt und hat ihre Familie durch den Nationalsozialismus verloren.

Die Reinhardts sind seit gut 50 Jahren ein Paar. Sie haben zehn Kinder, fast 90 Enkel und Urenkel. Alle fünf Söhne spielen in eigenen Bands. Am Samstag, 28. Juni, geben "Daweli und seine Söhne" ein Open-Air ­Konzert auf der Festung Ehrenbreitstein in Koblenz. Auch die Enkel spielen mit. Zum Festival erscheint die Chronik ,,100 Jahre Musik der Reinhardts - Daweli erzählt sein Leben".


Sabine Schmidt-Gerheim in : DER WEG - Evangelische Wochenzeitung für das Rheinland ( Nr.:26 v. 22.bis28. Juni 2003)
 


100 Jahre Musik der Reinhardts – Daweli erzählt sein Leben
 

Lesen Sie dazu einen Auszug aus dem Vorwort der 2. Auflage, das über die 1. Auflage des Buches und seine Resonanz berichtet:

„Daweli, sag, Dein Büchlein ist ja so spannend, das habe ich in einem Abend ausgelesen. Ich hätte weiter lesen können. Wann schreibst Du das zweite Buch?“ – So oder ähnlich haben  viele Leser in der letzten Zeit Daweli Reinhardt gefragt, die ihn beim Einkaufen in Horchheim oder beim Schwatz auf der Straße gesprochen haben. Das Buch „Hundert Jahre Musik der Reinhardts – Daweli erzählt sein Leben“ hat eingeschlagen, wie es keiner geglaubt hatte: der Erzähler Daweli nicht, auch nicht sein Co-Autor Joachim Hennig, nicht die „Chefin“ des Projektes, Frau Gunhild Schulte-Wissermann, und auch nicht Dawelis Frau Trautchen und ihre Kinder, Kindeskinder und Kinder der Kindeskinder. Trotz dieses Erfolges gibt es nun kein zweites Buch von Daweli Reinhardt, aber doch eine Neuauflage des vergriffenen Büchleins – und das mit einem ausführlichen Nachwort von Daweli Reinhardt. In diesem Nachwort schildert er, was sich seit dem Erscheinen der ersten Auflage alles getan hat. Tja, und was schildert er in dem Büchlein?

Daweli erzählt sein Leben – so steht es im Untertitel des Buches und so ist es auch. Bis zu seinem im Jahre 1900 geborenen Vater geht seine Erinnerung zurück. An ihm macht Daweli die Tradition der Musikerfamilie Reinhardt fest – obwohl sie mit Sicherheit noch sehr viel früher begonnen hat. Aber Daweli erzählt nur das, was er ganz genau weiß. Sein Vater war ein Alleskönner: Er spielte Akkordeon, Geige, „singende Säge“, Mundharmonika und außerdem war er ein guter Sänger. Als Daweli ein halbes Jahr alt war, wurde die Familie in Koblenz sesshaft. Mit anderen – wie es damals hieß – „Zigeunern“ und fahrendem Volk zogen sie ins Kernwerk der Feste Franz.

Dort kam die Familie auch in die Maschinerie der Nazis: Die Reinhardts wurden wie die anderen zuerst registriert, dann diskriminiert, schließlich selektiert und dann deportiert. Da half es auch nichts, dass Dawelis Vater und seine älteren Brüder auch einer geregelten Arbeit nachgingen. Während des Zweiten Weltkrieges waren sein Vater und sein ältester Bruder sogar Soldat: der Bruder in Nordafrika beim „Wüstenfuchs“ Rommel und sein Vater hier in Koblenz – zuletzt als Oberfeldwebel. Das alles half aber nichts. Für die Rassisten waren die Reinhardts „minderwertige Zigeuner“. Sie wurden für wehrunfähig erklärt und mussten ihre Uniformen ausziehen. Am 10. März 1943 wurde die ganze Familie von Koblenz ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt. Schon im Zug „nach dem Osten“ spielte Daweli zum Abschied auf der Gitarre seines Vaters noch Lieder, die er beim Jungvolk gelernt hatte. Als 10Jähriger kam Daweli dann in die „Hölle von Auschwitz“ und erhielt die Häftlingsnummer „Z 2252“. Im Buch deutet er nur an, welche Qualen und Ängste er und seine Familie dort im „Zigeunerlager“ jeden Tag, jede Stunde, ja jede Minute erleiden mussten. Vielem gibt er eine positive Wendung – sicherlich aus seiner Sicht zu Recht, denn er hatte dank seiner Klugheit und Gewandtheit das große Glück zu überleben. Ehe das „Zigeunerlager“ in der Nacht von 2. auf den 3. August 1944 „liquidiert“ wurde, kam er mit den Überlebenden seiner Familie ins KZ Ravensbrück und von dort aus weiter ins KZ Sachsenhausen. In den letzten Kriegstagen musste er mit einem seiner Brüder noch auf den „Todesmarsch“. Nach diesen neuerlichen Strapazen gelangten sie schließlich Wochen später wieder nach Koblenz. Hier trafen sich die Überlebenden  seiner Familie. Sie hatten die Verschleppung in weitere Konzentrationslager der Nazis und sogar den Fronteinsatz in der Strafeinheit „Dirlewanger“ hinter sich.

Daweli und seine Familie nahmen nach alledem das ihnen neu geschenkte Leben kraftvoll in die Hand. Sein Vater gründete einen eigenen Zirkus. Daweli trat als Artist auf und machte weiterhin auf seiner Gitarre Musik. Als sein Vater früh starb, gaben sie den Zirkus auf. Von da ab war Daweli erst recht Musiker, aber auch „Schroddeler“, bei den „Altstadtkings“ einer der ihren, außerdem Fußballer und Boxer. Und überall machte er seine Sache sehr gut. Sein Name und seine Qualitäten waren weit über Koblenz hinaus bekannt und geschätzt. So kam es, dass er im Jahre 1967 auch Gründungsmitglied des Schnuckenack-Reinhardt-Quintetts wurde. Dies entdeckte die Musik des legendären Django Reinhardt neu und schuf das, was man heute den Swing deutscher Sinti nennt. Daweli hatte als Solo-Gitarrist und als „Songschreiber“ großen Anteil an den Erfolgen. Nach einiger Zeit zog er sich aber zurück. Inzwischen waren aus der Ehe mit seiner Frau Trautchen die ersten Kinder hervorgegangen und die Jungen begannen in seine Fußstapfen zu treten. Insbesondere Mike war schon sehr früh ein guter Musiker. Bereits als 16Jähriger hatte er mit Unterstützung seines Vaters seine erste Band, das Mike-Reinhardt-Sextett, und feierte mit seiner ersten Schallplatte schon 1973 einen bundesweiten Erfolg. Der Erfolg blieb den Reinhardts nicht immer hold. Sie machten auch schwere und unerfreuliche Zeiten durch. Was aber auch geschah, Daweli und seine fünf Söhne Mike, Bawo, Django, Sascha und Moro ließen sich nicht unterkriegen. Sie und ihr Schlagzeuger und „Blutsbruder“ Thomas Bleser blieben ihrer großen Leidenschaft der Musik treu und sind seit Jahren in Koblenz und Umgebung geschätzt und ein musikalisches Aushängeschild der Rhein-Mosel-Stadt. Die Formationen wechseln, aber immer sind es unverwechselbar die Reinhardts: Django als Elvis-Interpret und mit seiner Gruppe „Django Reinhardt & Friends“, die „Mike und Moro Reinhardt Swing-Band“ und alle zusammen mit der „German Corner Bigband“. Kult sind auch die Gipsy Christmas-Konzerte, die seit Jahren vor Weihnachten in einer der Koblenzer Kirchen stattfinden. Mit dabei sind inzwischen auch schon Dawelis Enkel: Djangos Sohn Marlon, Lillis Sohn Taylor, Bawos Sohn Romano, Saschas Sohn Jermaine und auch Djangos Tochter Loraine als Sängerin.
Für Daweli, der in diesem Jahr 75 Jahre alt wird, ist dieses Buch Genugtuung und Freude zugleich. Im Buch sagt Daweli: „Mit uns treten die letzten Zeitzeugen des Nazi-Terrors ab. Da ist es wichtig, dass wir unsere Geschichte, unsere Lebensphilosophie oder einfach unsere Art zu leben, die Lehren, die wir daraus ziehen, den nachfolgenden Generationen vermitteln. Sie sollen es wissen, nicht um es nachzuahmen oder nach zu leiden oder gar anzuklagen, sondern um vor dem Hintergrund dieser Geschichte ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen und zu gestalten.“

Dies ist der 1. Auflage des Büchleins voll und ganz gelungen. Es hat - was sicherlich  ungewöhnlich ist – fünf überregionale Rezensionen erfahren. Neben der Rhein-Zeitung wurde es rezensiert im „Paulinus“ („Ein Buch gegen das Vergessen“), in der Publikation des Studienkreises deutscher Widerstand „Informationen“ („’Aus dieser Herkunft und Tradition beziehen wir unsere Kraft’“), in dem Zentralorgan demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgten-Organisationen „Die Mahnung“, im Gemeinsamen Amtsblatt des Bildungs- und Wissenschaftsministeriums sowie in dem monatlichen online-Magazin für Klassische Musik „Die Tonkunst“. In der „Tonkunst“ heißt es beispielsweise: „Daweli macht dem Titel des Buches ‚Daweli erzählt sein Leben’ alle Ehre. Fast hat man nach der Lektüre das Gefühl, als habe er persönlich bei einem gesessen und seine Geschichte erzählt. Das liegt nicht zuletzt an der sehr authentischen und natürlichen Sprache, in der er in Zusammenarbeit mit Joachim Hennig seine Erfahrungen schildert.“ Danach kann man der Neuauflage nur viele Leser wünschen.

Lesen Sie Hier:  Hundert Jahre Musik der Reinhardts. Daweli erzählt sein Leben.

Es handelt sich hierbei um die Rohtextversion der ersten Auflage. Also reiner Text ohne Bebilderung etc. als PDF-Datei



Im Dezember 2012 erschien die Biografie von Daweli Reinhardt in der 3. Auflgae. Lesen Sie dazu die Ankündigung:

Daweli Reinhardt-Biografie in 3. Auflage erschienen

Rechtzeitig zum Weihnachtsfest ist die seit einiger Zeit vergriffene Biografie des Koblenzer Sinto Daweli Reinhardt erschienen: „100 Jahre Musik der Reinhardts – Daweli erzählt sein Leben“. Der Zeitpunkt ist mit Bedacht gewählt, denn es besteht guter Grund, sich dieses Ausnahmemusikers und seines Lebensschicksals sowie des seiner Familie zu erinnern. Denn Daweli („Alfons“) Reinhardt ist im Sommer 80 Jahre alt geworden. Diesen runden Geburtstag konnte er aber schon nicht mehr im großen Rahmen feiern, ist er doch schwerkrank und leidet seit einigen Jahren unter der immer weiter fortschreitenden Parkinson-Krankheit. Aber seine Musik ist so spritzig wie eh und je, sie lebt und klingt gerade jetzt zur Weihnachtszeit live in seinen Kindern, Enkeln und weiteren Familienangehörigen weiter. So zum Beispiel bei Dawelis Neffen Lulo Reinhardt, seinem ältesten Sohn Mike  und bei Diego Reinhardt. Sie spielen am Mittwoch, dem 12. Dezember 2012, beim Sinti-Kultur- und Musikfest „The Night of Gipsy-Music“ in der Rhein-Mosel-Halle in Koblenz. Oder bei Dawelis Sohn Django Reinhardt, der nach zahlreichen Gipsy-Christmas-Veranstaltungen in der Region bei einer Gala mit Band, Chor und Orchester am Montag, dem 17. Dezember 2012, in Löf seinen 50. Geburtstag feiert.

Aber nicht nur „Gipsy-Christmas“ ist Anlass für die 3. Auflage von Daweli Reinhardts Lebensgeschichte. In diesen Tagen jährt sich zum 70. Mal der „Auschwitz-Erlass“. Damals, am 16. Dezember 1942, befahl der „Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei“ Heinrich Himmler die Auswahl von „zigeunerischen Personen“ „nach bestimmten Richtlinien“, um deren Deportation „in ein Konzentrationslager“ vorzubereiten. Dieser „Auschwitz-Erlass“ ist heute nicht mehr auffindbar, Sein Inhalt ergibt sich aber aus dem folgenden Geschehen. In den erhalten gebliebenen Ausführungsbestimmungen vom 29. Januar 1943 heißt es dazu zur „Einweisung von Zigeunermischlingen, Rom-Zigeunern und balkanischen Zigeunern in ein Konzentrationslager“: „Die Einweisung erfolgt ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad Familienweise in das Konzentrationslager (Zigeunerlager) Auschwitz.“, sowie: „Die Familien sind möglichst geschlossen, einschließlich aller wirtschaftlich nicht selbständigen Kinder, in das Lager einzuweisen. Soweit Kinder in Fürsorgeerziehung oder anderweitig untergebracht sind, ist ihre Vereinigung mit der Sippe möglichst schon vor der Festnahme zu veranlassen. In gleicher Weise ist bei Zigeunerkindern zu verfahren, deren Eltern verstorben, im Konzentrationslager oder anderweitig verwahrt sind.“

In exakter Ausführung des „Auschwitz-Erlasses“ wurden am 10. März 1943 aus Koblenz und Umgebung 147 „Zigeuner“ in das „Zigeunerlager“ des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Unter den Verschleppten waren auch Daweli Reinhardt und seine Familie. In seiner Biografie heißt es dazu: „Am 10. März 1943 ist unsere ganze Familie – bis auf Lullo, der zuvor schon in das KZ Dachau verschleppt worden war – von Koblenz aus zusammen mit vielen anderen Sinti in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert worden. Das werde ich nie vergessen, obwohl ich damals erst zehn Jahre alt war. Wer so etwas nicht selbst erlebt hat, kann sich dies beim besten Willen gar nicht vorstellen oder ausmalen. Das, was ich jetzt schildere, habe ich zu einer Zeit erlebt, in der Kinder heutzutage wohlbehütet in der Familie leben und vielleicht im 3. oder 4. Schuljahr die Schule besuchen. Es ist die Zeit der 1. hl. Kommunion.“

Als Zehnjähriger erlebte Daweli Reinhardt „die Hölle von Auschwitz“, war Lagerläufer und immer wieder unter unsäglichen, menschenunwürdigen Verhältnissen von Mord und Totschlag bedroht. Sehr eindrucksvoll schildert er in der Biografie das Lagerleben und wie ihn und die anderen immer wieder eins quälte: Hunger, Hunger, Hunger. Bei einer Selektion in Auschwitz-Birkenau gelang es Daweli, mit seinen Familienangehörigen ins Konzentrationslager Ravensbrück zu gelangen. Von da aus verschleppte man ihn weiter ins KZ Sachsenhausen. Von Sachsenhausen aus trieben ihn die SS-Leute zusammen mit seinem Bruder Josef („Busseno“) auf den „Todesmarsch“. Auch den überlebten die beiden. Wochen später kehrten sie nach Koblenz und in die Feste Franz zurück. Daweli schildert die Rückkehr so: „Vergeblich haben wir nach unserer Familie Ausschau gehalten. Erschöpft und traurig setzten wir uns dort auf einen Stein. Mein Bruder Josef fing an zu weinen und auch ich vergoss Tränen. Uns war klar, dass unsere Mutter und die jüngeren Geschwister die Konzentrationslager nicht überlebt hatten, denn sonst wären sie nach der inzwischen seit der Befreiung vergangenen Zeit mit Sicherheit nach Lützel zurückgekehrt. Ich tröstete gerade meinen Bruder und auch mich selbst damit, dass wir jetzt fort von hier gingen in eine andere Stadt, um dort gemeinsam ein neues Leben anzufangen. Da plötzlich stürzt ein jungen Mädchen aus einem kleinen grünen Häuschen heraus und ruft lauthals: ‚Mama, Mama, da sind Daweli und Busseno!’ Sofort kommt meine Mutter aus dem Häuschen herausgeschossen, die Kinder hinterher. Die Freude ist reisengroß. Meine Mutter und meine Geschwister haben sich geradezu kaputt geweint.“

Auch Dawelis Vater und seine beiden älteren Brüder Bernhard und Karl überlebten den Völkermord an den Sinti und kehrten nach Koblenz zurück. Sein Vater betrieb dann eine zeitlang einen Zirkus, bei dem Daweli als Artist und Musiker auftrat. Bald heiratete Daweli seine Frau Waltraud („Trautchen“), die ersten Kinder kamen zur Welt, Daweli war danach „Schroddeler“ und einer der Koblenzer „Altstadt-Kings“. Seine Karriere als Musiker begann er Mitte der 1960er Jahre mit Schnuckenack Reinhardt und dem von ihnen wieder entdeckten „Swing deutscher Zigeuner“. Beizeiten gab er sein Können und Wissen als Sologitarrist seinen fünf Söhnen weiter: an Mike, Bawo, Django, Sascha und Moro. Bis auf Django, der sich mehr auf den Gesang verlegt hat, spielen alle heute noch Gitarre und treten in unterschiedlicher Besetzung auf.  

All dies hat Daweli Reinhardt dem Autor seiner Biografie Joachim Hennig vor nunmehr 10 Jahren erzählt. Das Buch erschien gerade noch rechtzeitig zum Gipsy-Swing-Konzert auf der Koblenzer Festung Ehrenbreitstein am 28. Juni 2003. Es war das letzte Mal, dass Daweli Reinhardt öffentlich auftrat – aber wie: zusammen mit seiner Familie und mit Weggefährten aus der Musikszene. Noch bis in die tiefe Nacht saß und spielte man/frau zusammen an einem großen Lagerfeuer und genoss den Sinti-Swing „made in Koblenz“.

Damals begann auch die Erfolgsgeschichte von Dawelis-Biografie. 2006 war die 1. Auflage vergriffen. Bald gab es eine 2. Auflage, die der Förderverein Mahnmal Koblenz zusammen mit seiner Ausstellung „’Wir können nur vorwärts, denn hinter uns ist der Tod.’ NS-Opfer aus der Region Koblenz und Neuanfang vor 60 Jahren“ zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2007 im Landtag von Rheinland-Pfalz präsentierte.

Ein Höhepunkt in dem sehr ereignisreichen Leben Daweli Reinhardts war die Verleihung des Landesverdienstordens Rheinland-Pfalz am 18. Dezember 2009 durch den damaligen Kultusstaatssekretär Prof. Dr. Joachim Hofmann-Göttig im Rathaus in Koblenz. Oberbürgermeister Dr. Eberhard Schulte-Wissermann nannte Daweli eine „Persönlichkeit mit außergewöhnlicher Güte und Größe“.

Blickt man auf das Leben Daweli Reinhardts zurück, so es ein Stück Geschichte mit allen Auf und Ab, was den Menschen und gerade der Minderheit der Sinti widerfahren konnte und widerfahren ist: Es ist ein bewegendes Stück Koblenzer und auch deutscher Geschichte des vergangenen 20. Jahrhunderts, ein Stück Schicksalsgeschichte der ungeliebten, diskriminierten und dann verfolgten und ermordeten deutschen Sinti und ein Stück Erfolgsgeschichte der Koblenzer Musikerfamilie Reinhardt. Das Zwischenergebnis nach „100 Jahre Musik der Reinhardts“ ist heute durchaus positiv, möge es so bleiben und noch einiges besser werden. Das wünschen sich Daweli Reinhardt und mit ihm viele andere auch. Also: Auf die nächsten 100 Jahre!

Buchtipp: Daweli Reinhardt/Joachim Hennig: 100 Jahre Musik der Reinhardts – Daweli erzählt sein Leben. 3. ergänzte Auflage, Verlag Dietmar Fölbach, Koblenz, ISBN 978-3-934795-24-2, Preis: 6.-- €



Im Dezember 2012 ist die 3. Auflage dieser Biografie unverändert erschienen. Ergänzt wurde sie aber um das nachfolgende Nachwort:

Nachwort zur 3. Auflage

Fast zehn Jahre ist es her, dass Daweli Reinhardt mir seine Lebensgeschichte erzählt hat. Damals, im Frühjahr 2003, war die Konstellation dafür glücklich: Im 71. Lebensjahr konnte Daweli – losgelöst von den Bedrängnissen des Alltages - mit einem Abstand auf sein Leben zurückblicken. Auch war er geistig und körperlich so frisch und rege, dass dieser Rückblick sehr plastisch, detailreich und eindruckslos gelang. Man musste ihn nur erzählen lassen, Stichworte geben und den einen oder anderen Zusammenhang aufzeigen – schon kamen in ihm die Erinnerungen hoch, voller Empathie, ein Zeitzeuge und Informant wie man ihn sich nicht besser wünschen konnte. An seiner Seite war seine Frau Waltraud („Trautchen“), die ihren Mann liebevoll an das eine oder andere erinnerte, Stichworte gab. Beide durchlitten bei und nach den einzelnen Sitzungen noch einmal die Hölle ihrer Verfolgung und versuchten, der Bilder, die in ihnen aufgestiegen waren, Herr zu werden. Äußerlich gelang ihnen das in bewundernswerter Weise. Beim nächsten Treffen ließen sie sich auf ihre Verfolgungs-Geschichte ein weiteres Mal ein.

Die erste Auflage des Büchleins erschien pünktlich zum Gipsy-Swing-Konzert auf der Koblenzer Festung Ehrenbreitstein am 28. Juni 2003 im Rahmen des Kultursommers Rheinland-Pfalz. Es war eines der letzten Konzerte, die Daweli Reinhardt vor einem begeisterten Publikum zusammen mit seiner musizierenden Familie und in einem romantischen Ambiente gab. Die Biografie, die sich wie eine Autobiografie Dawelis las, war für uns alle ein unerwarteter Erfolg – nicht nur von der Höhe der Auflage, sondern auch von ihren Folgewirkungen her. Sie war ein Anstoß für weitere Aktivitäten in Koblenz und weit darüber hinaus. Darüber berichtet das Nachwort zur 2. Auflage.

War konkreter Anlass für die 1. Auflage das Konzert beim Kultursommer 2003, so war die 2. Auflage veranlasst durch die Präsentation der Ausstellung des Fördervereins Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Koblenz e.V. „’Wir können nur vorwärts, denn hinter uns ist der Tod.’ NS-Opfer aus der Region Koblenz und Neuanfang vor 60 Jahren“ zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2007 im Landtag von Rheinland-Pfalz. Daweli Reinhardt konnte bei dieser Ausstellung schon nicht mehr dabei sein. Präsentiert wurde seine Lebensgeschichte aber mit seinem Buch und seiner Personentafel in der Ausstellung. Sein Sohn Django war bei der Ausstellungseröffnung anwesend. Enkelkinder von ihm umrahmten mit ihrer Musik die Sondersitzung des Landtages am 27. Januar 2007.

Auch mit seiner 2. Auflage zog das Büchlein weitere Kreise. So entstand in der Zwischenzeit ein Dokumentarfilm über den Koblenzer Arbeiterpriester Clemens Alzer. Alzer war und ist seit Jahrzehnten der „Raschai“, der Priester der Koblenzer Zigeuner, ihr Seelsorger, Sozialarbeiter, Freund und Kontakt zu den „Deutschen“. Die Verleihung der Verdienstmedaille an Clemens Alzer, die durch das Daweli-Buch initiiert war, war Anlass für den Autor dieses Büchleins, ihm, dem unermüdlichen und auch unbeirrten Beistand aller Koblenzer Sinti, ein kleines Denkmal zu setzen: „Mittendrin und doch am Rande der Gesellschaft – der Arbeiterpriester Clemens Alzer“. Die Uraufführung des Films war furios. Der ursprünglich vorgesehene Saal für die Aufführung erwies sich sehr schnell als zu klein. Nach dem Umzug in einen großen Saal platzte auch dieser bald aus allen Nähten. Weit mehr als 300 Besucher wollten diesen Film und die Hommage an Clemens Alzer sehen.

Unterdessen hatte der Förderverein „Django Reinhardts Music Friends“ mit Fördermitteln des „LOS“ (Lokales Kapital für soziale Zwecke) für Dawelis Sohn Django ein Beratungsbüro in der Goldgrube eingerichtet. Mit der Förderung durch andere öffentliche Mittel konnte dieses Büro dann Ende 2009 in das Kultur- und Beratungsbüro für Sinti und Roma in Koblenz übergeleitet werden.

Ein Höhepunkt in Daweli Reinhardts Leben war die Verleihung des Verdienstordens des Landes Rheinland-Pfalz an ihn. Die Zeremonie durch den Ministerpräsidenten Kurt Beck in Mainz war wegen Dawelis Gesundheitszustandes allerdings nicht mehr möglich. So nahm er die Ehrung am 18. Dezember 2009 in Koblenz entgegen. Oberbürgermeister Dr. Eberhard Schulte-Wissermann übergab dabei die Auszeichnung einer – wie er sagte – „Persönlichkeit mit außergewöhnlicher Güte und Größe“.

Seitdem ist Daweli Reinhardt in der Öffentlichkeit nicht mehr aufgetreten. Seine Parkinson-Krankheit schreitet immer weiter fort, sie schwächt und lähmt seinen Körper immer mehr. Seinen 80. Geburtstag am 18. Juli 2012 konnte er im Kreis seiner Familie feiern, er ist aber völlig auf seine bei ihm wohnenden Töchter Lilli und Angelika angewiesen. Auch seine Frau Trautchen, mit der er ein Leben lang verbunden ist, kann ihm keine Stütze mehr sein. Sie ist selbst schwer krank und leidet an der Alzheimer-Krankheit.

So ist diese 3. Auflage von Daweli Reinhardts Lebenserinnerungen womöglich eine letzte Reminiszenz an ein bemerkenswertes, vorbildhaftes Leben, das sich dem Ende neigt. Die Erinnerung an ihn und die verfolgten Sinti aus Koblenz und Umgebung wird ihn damit aber überleben und ihm und ihnen ein kleines Denkmal setzen. Die vorliegende 3. Auflage des Büchleins ist geschieht aus Anlass des 70. Jahrestages der Deportation der Koblenzer Sinti am 10. März 2013 in das „Zigeunerlager“ des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Es ist eine Mahnung für uns alle.

Koblenz, im November 2012

Joachim Hennig
 

 

Am 10. Dezember 2016, i, Alter von 84 Jahren und nach einer langen und schweren Krankheit starb Daweli Reinhardt im Kreis seiner großen Familie. Hierzu verfasste unser Förderverein einen Nachruf auf Daweli Reinhardt, der nachfolgend dokumentiert wird:

Koblenz trauert um Daweli Reinhardt – Unser Förderverein trauert mit

Daweli Reinhardt ist tot. Alfons „Daweli“ Reinhardt starb am 10. Dezember 2016, am „Tag der Menschenrechte“, im Kreis seiner Familie zuhause in Koblenz-Horchheim. Im Alter von 84 Jahren endete sein sehr bewegtes Leben – ein Leben, das durch die Verfolgung in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten in jungen Jahren fast ausgelöscht worden wäre. Aber der damals 12-jährige Alfons hat sich nicht unterkriegen lassen, hat um sein Überleben gekämpft und gewonnen. Das hat ihn stark gemacht und neben seiner Familie und seiner Musik geholfen, nach der Befreiung vom Faschismus sein Leben in die Hand zu nehmen. Erst war er Artist, „Altstadtking“, „Schroddeler“, Boxer und Fußballer, dann Familienvater und Oberhaupt seiner großen Familie und schließlich der Koblenzer Sinti. Die Musik, seine Musik und seine Gitarre waren immer dabei: auf der Deportation nach Auschwitz-Birkenau, bei der Musik im Zirkus, bei der Tanzmusik der 1950er und 60er Jahre, bei der „Musik deutscher Zigeuner“ mit dem Schnuckenack-Reinhardt-Quintett, mit dem Mike-Reinhardt-Sextett und dem Daweli-Reinhardt-Quintett und bei der Musik mit seinen Enkeln. Der letzte Weg seines Lebens war schwer und lang. Seit vielen Jahren wusste Daweli, dass er unheilbar an der Krankheit Parkinson erkrankt war. Er kämpfte dagegen, ließ sich auch davon nicht unterkriegen und seine Familie half ihm dabei. Nun ist er von uns gegangen. Es bleibt die Erinnerung an ihn und seine Musik.

Der stellvertretende Vorsitzende unseres Fördervereins Joachim Hennig hat im Jahr 2003 nach Interviews mit Daweli und seiner Frau Trautchen eine Biografie über ihn geschrieben: „Hundert Jahre Musik der Reinhardts – Daweli erzählt sein Leben“. Es ist im Koblenzer Verlag Dietmar Fölbach erschienen, inzwischen in der 3. Auflage 2012 und kostet 6 €. ISBN 3-934795-46-3.

Die Heimatzeitung „Blick aktuell“ berichtete in zwei ihrer Koblenzer Ausgaben zum Tod von Daweli Reinhardt:
Blick aktuell – Ausgabe Koblenz – Nr. 50 vom 15. Dezember 2016 HIER lesen
Blick aktuell – Ausgabe Koblenz – Nr. 51 vom 22. Dezember 2016 HIER lesen

Lesen Sie HIER Auszüge aus dem Hauptbuch des "Zigeunerlagers" des KZ Auschwitz-Birkenau,in dem die dorthin deportierten „Zigeuner“ aufgeführt sind. Die männlichen Mitglieder von Daweli Reinhardts Familie wurden unter den Nummern Z 2250 bis 2256 (Daweli selbst unter der Nummer Z 2252) und die weiblichen Mitglieder unter den Nummern 2521 bis 2524).