Foto: Holger Weinandt (Koblenz, Germany) 12.07.2011  Lizenz cc-by-sa-3.0-de

Die erste öffentliche Veranstaltung unseres Vereins fand am 27. Januar 1998 statt.

Am 27. Januar 1998 fand die erste von unserem Förderverein organisierte Gedenkveranstaltung zum 27. Januar statt. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog hatte im Jahr 1996 aus Anlass des 50. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz (die Befreiung war am 27. Januar 1945) diesen Tag als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus eingeführt. Dieser Tag war und ist kein „Feiertag“, es ist auch kein arbeitsfreier Tag, aber eben ein Tag, an dem man dieses Ereignisses und der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt. An diesem Tag erinnern der Deutsche Bundestag und auch die Landesparlamente an die NS-Opfer. Gerade mit Landtag von Rheinland-Pfalz findet immer an diesem Tag eine Sondersitzung des gesamten Plenums statt. Bildungsminister Zöller rief die Schulen und LehrerInnen auf, den Tag mit Ausstellungen und Sonderveranstaltungen sowie mit Projekten und gerade auch Recherchen vor Ort zu begehen.

Der Förderverein schloss sich diesem Gedenken an die NS-Opfer schon im ersten Jahr seines Bestehens an und organisierte am 27. Januar 1998 eine Gedenkveranstaltung. Er begründete damit eine Tradition in Koblenz, die heute ein fester Bestandteil der Gedenkarbeit in Koblenz ist. Beteiligt daran sind auch das Kulturamt der Stadt, die Christlich-Jüdische Gesellschaft und der Freundschaftskreis Koblenz-Petah Tikva. Begangen wird er mit einer Gedenkstunde in einer der Innenstadtkirchen von Koblenz mit christlich-jüdischem Gebet. Dies bildet auch heute noch den Kern der Veranstaltungen. Im Laufe der Zeit sind weitere Elemente des Gedenkens dazu gekommen.

Die erste Gedenkstunde beging der Förderverein in der St. Kastor-Kirche mit dem französischen Bischof Derouet, Bischof von Arras, der Zwangsarbeiter in Hitler-Deutschland war.

 

Vier Geistliche beim christlich-jüdischen gebet. V.l.n.r.: Pfarrer Ralf Staymann von der Alt-Katholischen Kirche, Superintendent Markus Dröge von der Evangelischen Kirche, Rabbiner Toper für die Jüdische Kultusgemeinde, Pfarrer Helmut Krusche von der Katholischen Kirche..


Es war eine glückliche Fügung, dass die Initiative für den Förderverein Mahnmal Koblenz gerade von einer katholischen Pfarrgemeinde ausging. Denn damals war die Erinnerung an die NS-Opfer, und zwar an alle NS-Opfer ohne Unterschied, noch ein Thema, das nicht so ganz in der Bevölkerung angekommen war. Es gab zumindest gegenüber einigen Opfergruppen und Einzelpersonen noch einige Vorbehalte. Da war es gut, dass hier im katholischen Rheinland eine katholische Kirchengemeinde sich der Sache annahm. Das war „unverdächtig“. Und gut war es natürlich, dass ein katholischer Pfarrer Vorsitzender dieses Vereins war. Die Anfänge des Vereins waren dabei sehr bescheiden, im ersten Jahr hatte der Verein ca. 30 Mitglieder.

Zur Erforschung der NS-Geschichte in Koblenz hatte der Förderverein einen Wissenschaftlichen Beirat eingerichtet. Den Vorsitz hatte die damalige Kulturdezernentin Frau Dr. Batori inne. Dieses Gremium tagte ein- oder zweimal, schlief dann aber schnell ein. Frau Dr. Batori war auch bald nicht mehr Kulturdezernentin.

Ungeachtet dessen begann Joachim Hennig, als einfaches Mitglied des Fördervereins, mit seiner Recherchearbeit. Diese gestaltete sich schwierig. Denn die Gedenkarbeit, zumal die Recherche nach NS-Opfern, „lebt“ von Namen. Ohne Namen ist es so gut wie unmöglich, diese Arbeit – und gerade Biografien von Opfern – zu leisten. Damals war die Recherche dazu noch sehr schwierig. Es galten nach den Archivgesetzen in Bund und Ländern, gerade auch in Rheinland-Pfalz, Sperrfristen für personenbezogene Daten, die die Arbeit sehr stark einschränkten und behinderten. Auch war damals die Recherche beim Internationalen Suchdienst (ITS) in Bad Arolsen, eine ungeheure Fundgrube für die vielfältigsten Informationen, für wissenschaftliche und ähnliche Recherchen noch nicht möglich.

Außerdem gab es damals nur wenige Veröffentlichungen zur NS-Geschichte in Koblenz und speziell zu NS-Opfern aus Koblenz. Es waren im Wesentlichen nur zwei Arbeiten:

Hildburg-Helene Thill: Lebensbilder jüdischer Koblenzer und ihre Schicksale, Stadtbibliothek Koblenz 1987 und

Elmar Ries: Wozu Menschen fähig sind. Die Reichspogromnacht 1938 in Koblenz, Stadtbibliothek Koblenz 1988.

Beide Bücher waren längst vergriffen. Zudem beschäftigten sie sich „nur“ mit der jüdischen Geschichte und jüdischer NS-Opfer. Allerdings war das Buch von Frau Thill eine sehr umfang- und materialreiche Arbeit, die damals für Koblenz grundlegend war. Frau Thill hatte im Vorfeld zu einem Jubiläum „ihrer“ Schule, dem Hilda-Gymnasium in Koblenz, und wohl als Vorsitzende der Christlich-Jüdischen Gesellschaft für Brüderlichkeit einen sehr umfangreichen Kontakt zu ehemaligen Schülerinnen der Schule und zu ehemaligen Koblenzer Juden, die den Kontakt zu ihrer Heimatstadt suchten und auch zu „Heimatbesuchen“ nach Koblenz kamen. Außerdem leistete Frau Thill mit ihren Recherchen im Stadtarchiv Koblenz und im Landeshauptarchiv Koblenz Pionierarbeit für die Familienforschung des jüdischen Bevölkerungsteils.

Das Buch von Elmar Ries, ebenfalls Lehrer wie Frau Thill und ebenfalls Vorsitzender der Christlich-Jüdischen Gesellschaft für Brüderlichkeit, dokumentierte zum ersten Mal die Geschehnisse während des Novemberpogroms 1938 („Reichspogromnacht“ ) in Koblenz und druckte kommentiert Briefe der Koblenzer Familie Hermann ab, die diese zwischen 1936 und 1940 ihrem rechtzeitig nach Palästina ausgewanderten Sohn und Bruder über ihre Situation in Koblenz schrieb.

Das waren wichtige Vorarbeiten zur Verfolgungsgeschichte der Koblenzer Juden. Aber auch nicht mehr. Vor allem beschränkten sie sich auf die Juden. Zu den vielen anderen NS-Opfern in Koblenz gab es praktisch nichts. Damit stand die Recherche ganz am Anfang. Und dabei ging es dem Förderverein Mahnmal Koblenz ja auch sehr um die anderen Opfergruppen und einzelnen Opfer des NS-Regimes. Denn das Mahnmal sollte ja für alle Opfer des Nationalsozialismus errichtet werden und an diese erinnern.

Vor dem Verein lag also noch ein großes Stück Arbeit, Pionierarbeit für die NS-Opfer aus Koblenz. Für Joachim Hennig, der sich von Anfang an dieser Arbeit verschrieben hatte, war das eine „wilde“ Zeit. Gleichsam überall hat er gesucht, recherchiert, gelesen und wieder gelesen. Heute sind diese Zeit und diese Arbeit nicht mehr zu rekonstruieren. Das war alles viel zu ungeordnet, unsystematisch, spontan und teilweise auch erfolglos. Erinnerlich ist aber noch die frühe und sehr wertvolle Hilfe durch die Schönstatt-Bewegung in Vallendar-Schönstatt und den Studienkreis deutscher Widerstand 1933-1945 in Frankfurt/Main. Die Schönstatt-Bewegung hatte 20 Jahre vorher, Mitte der 1970er Jahre, wohl im Zusammenhang mit dem Seligsprechungsverfahren für ihren Gründer P. Josef Kentenich, die Verfolgungsgeschichte ihrer Bewegung teilweise aufgearbeitet und dabei historische Fotos von Koblenz und Informationen entdeckt. Diese machte man Hennig zugänglich. Ebenso erhielt er aus dem Archiv des Studienkreises deutscher Widerstand, das aus dem Archiv der VVN hervorgegangen war, Informationen über politische Strafverfahren gegen Koblenzer und weitere Hinweise zu Koblenzer Kommunisten. Beide Informationen, von Schönstatt und vom Studienkreis, waren für die weitere Arbeit sehr hilfreich. Deshalb sei an dieser Stelle noch einmal beiden sehr herzlich gedankt!

Die ersten Ergebnisse dieser Recherchearbeiten stellte Hennig in seinem Vortrag zur „Verfolgung und Widerstand in Koblenz 1933-1945“ auf der 2. Mitgliederversammlung des Fördervereins im März 1998 vor. In der Folgezeit setzte er diese Arbeit fort und erweiterte sie zu einem umfangreichen Aufsatz zum selben Thema. Diese Arbeit wurde dann in den beiden Folgejahren, 1999 und 2000, in zwei teilen in der Zeitschrift „Sachor. Beiträge zur jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz“ veröffentlicht. Sie ist die bis heute einzige und grundlegende Arbeit zu dieser Thematik. Sie können den vollständigen Text dieses zweiteiligen Aufsatzes in den Informationen 1999 nachlesen.

Auf der 2. Mitgliederversammlung des Fördervereins im März 1998 gab es auch schon den ersten Wechsel im Vorstand. Pfarrer Michael Laux war nach seinem Eintritt in den Ruhestand und Wegzug aus Koblenz als Vorsitzender zurückgetreten, er blieb dem Verein als Ehrenvorsitzender aber weiter verbunden. Sein Nachfolger wurde der bisherige stellvertretende Vorsitzende Kalle Grundmann. Für Kalle Grundmann wurde der damalige Präsident des Oberlandesgerichts Koblenz Dr. Heinz-Georg Bamberger stellvertretender Vorsitzender. Der Schatzmeister Dieter Gube wurde durch die bisherige Beisitzerin Margot Brink ersetzt.

Den ersten öffentlichen Vortrag hielt Joachim Hennig im Sommer 1998. Das geschah im Zusammenhang mit der Wanderausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“. Diese sehr wichtige und damals umstrittene Ausstellung hatte die Stadt Koblenz -Koblenz Touristik – nach Koblenz geholt.

Lesen Sie dazu HIER die Berichte der Rhein-Zeitung vom 22. Juni 1998 und vom 11. Juli 1998

Um die Ausstellung hier im Haus Metternich am Münzplatz präsentieren zu können, musste sie ein Begleitprogramm anbieten. Deswegen fragte die Stadt bei Hennig an und dieser sagte dann spontan zu. Der stellte dann umfangreiche Recherchen an, die ihn bis zur damaligen Außenstelle des Bundesarchivs in Kornelimünster bei Aachen führten, wo seinerzeit Verfahrensakten der Militärgerichte archiviert waren. Am 20. Juli 1998 hielt er dann vor vielen Besuchern seinen Vortrag „NS-Militär- und Strafjustiz am Beispiel Koblenz“.

Lesen Sie HIER den Bericht dazu in der Rhein-Zeitung vom 22. Juli 1998.

Lesen Sie nachfolgend den Vortrag, den Joachim Hennig am 20. Juli 1998 unter dem Titel „NS-Militär- und Strafjustiz am Beispiel Koblenz hielt:

NS-Militär- und Strafjustiz am Beispiel Koblenz

von Joachim Hennig, gehalten im Beiprogramm zur Ausstellung

„Vernichtungskrieg. Die Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 1944“ 

am 20. Juli 1998 in Koblenz

 


I. Begrüßung

Guten Abend, meine sehr geehrten Damen und Herren. Ich begrüße Sie herzlich zu der heutigen Veranstaltung im Beiprogramm zu der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Die Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944.“

II. Einleitung

Das Thema des heutigen Abends lautet „NS-Militär- und Strafjustiz am Beispiel Koblenz“. Nach den bisherigen Erfahrungen polarisiert und deprimiert die Ausstellung. Das heutige Thema ist nicht dazu angetan, diese Polarisierung und Depression aufzuheben oder auch nur zu minimieren. Eher das Gegenteil ist der Fall, und das ist uns allen hier auch wohl klar. Schon der Herr Generalstaatsanwalt Weise hat in seiner Eröffnungsrede vor einer Woche auf die fatale Rolle der Justiz im Nationalsozialismus eingehend hingewiesen. Manchen von uns ist auch noch die vor knapp zehn Jahren gezeigte Ausstellung des Bundesministers der Justiz „Justiz und Nationalsozialismus“ in Erinnerung oder wir kennen das weit verbreitete Buch von Ingo Müller „Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz“.

Hier und heute am Gedenktag des Attentats auf Hitler und für die Opfer des 20. Juli 1944 ist keine Lanze zu brechen für die damalige nationalsozialistische Militär- und Strafjustiz. Allgemeingut ist heute, dass die Strafjustiz und auch die Militärjustiz nicht standhaft geblieben sind, sondern - wie andere staatliche Institutionen damals auch - im großen und ganzen ein Herrschaftsinstrument des nationalsozialistischen Unrechtsstaates waren. Wie sollte man das im Grundsatz leugnen?! Allgemein bekannt sind der NS-Propagandafilm über die Sammel- und Schauprozesse gegen die Verschwörer des 20. Juli vor dem Volksgerichtshof und auch die hierbei gemachten Fotos. Sie sind eines der beschämensten Zeugnisse furchtbarer Justiz. In den von Hitler selbst befohlenen Filmaufnahmen sehen wir eine Furie von Freisler als Präsident des Volksgerichtshofs, den man zu Recht den Hinrichter und Mörder im Dienste Hitlers genannt hat. Mit seinem Fanatismus und Geschrei hat er den Film selbst nach Ansicht der Nazis verdorben, so dass er vor 1945 niemals gezeigt wurde. Diese Auftritte Freislers, bei denen er gestandene Generäle, nachdem sie Hitler nicht mehr zu willen und Widerständler waren, als „Würstchen“ bezeichnet, sind einer der Tiefpunkte der Justiz. Ihre Entsprechung finden sie in den Hinrichtungen der Männer des Widerstandes in Berlin-Plötzensee - an Fleischerhaken wie es Hitler ausdrücklich angeordnet hatte.

Aber bitte, so mag man sich beruhigen, das waren doch Ausnahmen. Das war der fanatische Freisler, der Blutrichter vom Volksgerichtshof. Daneben gab es aber doch viele gut ausgebildete, fachlich kompetente und achtbare Juristen. Solche kennt man doch noch aus den 50er, 60er und auch 70er Jahren, sie waren doch ganz anders. Die Justiz im Großen und Ganzen ist doch sauber geblieben. Einige Fanatiker gab es natürlich, die gibt es aber überall, aber das Gros der Rechtsfälle ist doch streng nach Recht und Gesetz entschieden worden. Das muss man - so diese Meinung - ohne ideologische Brille und Scheuklappen und mit Augenmaß doch feststellen.

Ich möchte auf dieser hohen Abstraktionsebene von „Regel und Ausnahme“ und von „Fanatiker und normaler Jurist“ nicht argumentieren. Dies führt meines Erachtens nur in eine Sackgasse. Deshalb möchte ich Sie aus dieser Welt der so aufgezwungenen Argumentation und der Schwarz-Weiß-Malerei in eine andere Welt entführen, entführen in die Welt des „Es war einmal“. Dabei möchte ich Ihnen zunächst kurz ein Szenenbild entwerfen und dann insgesamt sieben Bilder aus dem rheinischen Leben jener Jahre skizzieren: Drei Bilder von Opfern, drei Bilder von Tätern und ein Bild eines Täters und Opfers zugleich. Vielleicht wird der eine oder andere von Ihnen meine Ausführungen als nicht so wissenschaftlich empfinden. Das nehme ich in Kauf, bewusst in Kauf um meines eigentlichen Anliegens willen. Mir geht es nämlich darum, uns alle möglichst unvoreingenommen für dieses Thema zu öffnen und damit den Opfern von NS-Militär- und Strafjustiz spät, viel zu spät Aufmerksamkeit und Achtung - den emotional besonders stark besetzten Begriff Gerechtigkeit vermeide ich bewusst - widerfahren zu lassen. Wenn dies über alle Gräben, Differenzen und Kontroversen hinaus ein Stück weit gelingen sollte, wäre es für die Sache, für die Opfer und für eine Justiz im demokratischen Rechtsstaat, die unser aller Streben sein muss, ein Erfolg.

III. Das Szenenbild: Die Stadt Koblenz

Berichten möchte ich Ihnen von einer Stadt am Rhein zu Zeiten des Nationalsozialismus. Das ist eine Zeit, von der die Jungen - wenn man Umfragen glauben darf - kaum etwas wissen und von der die Alten wie man weiß noch sehr viel wissen, es aber oft nicht wahrhaben wollen. 50, 60 Jahre später bezeichnet man sie gern als Residenz des Rechts, das klingt so schön ehrwürdig und gar königlich. Nach dem Krieg, in dem sie zu etwa drei Viertel zerstört oder beschädigt wurde, ist sie auch wirklich wieder schön aufgebaut worden. Sogar der Kaiser steht wieder an seinem angestammten Platz - natürlich nur wegen des Fremdenverkehrs und weil es immer so war. Es ist alles so schön, dass sich erst vor wenigen Tagen der Verband der Heimkehrer - Kriegsgefangenen und Vermissten - Angehörigen Deutschlands e.V. zu der rhetorischen Frage verstiegen hat: „Es kann doch nicht wahr sein, dass eine so schöne Stadt wie K...... so viele Mörder und Verbrecher in ihren Mauern beherbergen soll.“ Da stellt sich natürlich die Gegenfrage, wie viele Mörder und Verbrecher dieser Verband in den Mauern dieser schönen Stadt im einzelnen gezählt hat, um die - von wem auch immer - angenommene Zahl nun als zu hoch oder zu niedrig abzutun. Wir wollen dieses Zahlenspiel hier nicht weiter betreiben. Eine solche Kontroverse verstellt den Blick für das Wesentliche. Abgesehen davon sind zu viele Akten zufällig oder von den Tätern auch ganz bewusst vernichtet worden. Zudem hat es über manche Vorgänge niemals Akten gegeben. Ist es deshalb weniger wahr? Können wir nur dann zu unserer Geschichte stehen, sie annehmen und aus ihr lernen, wenn wir durch die Aktenlage überführt werden? Können wir denn das Gefühl der Befreiung von dieser unsäglichen Geschichte nicht in uns aufkommen lassen und mutig, zuversichtlich und selbstbewusst einen anderen, einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat weiter auf- und ausbauen helfen? - Die Stadt am Rhein, über die ich jetzt berichten möchte, ist natürlich Koblenz und von ihr und ihrer Umgebung und den damals dort lebenden Menschen möchte ich jetzt berichten.

V. Zweites Opfer: Das Schicksal des Schützen H..... Sch.....

Während das Reichskriegsgericht mit seiner Spruchpraxis und seinem Sitz in Berlin-Charlottenburg, Am Lietzensee, in der Witzlebenstraße 4 - 10 zumindest in Fachkreisen durchaus bekannt ist, ist die Militärgerichtsbarkeit „vor Ort“ fast gar nicht erforscht und schon gar nicht bekannt. Das ist umso erstaunlicher, als sich hier - jedenfalls sofern Akten vorhanden sind - ein weites Betätigungsfeld der lokalen und regionalen Forschung auftut.

Nur ganz wenige wissen, dass auch hier in Koblenz ein Militärgericht tätig war, genau genommen waren es sogar mehrere. Zunächst war es das Gericht der 34. Division, später - nach Umorganisationen im Krieg - befand sich eine Zweigstelle des Gerichts der 172. Division hier. Im Jahre 1944 gab es hier schließlich - offenbar nach einer weiteren Umorganisation - außerdem noch das Gericht der Wehrmachtkommandantur Koblenz. Der Sitz des Gerichts bzw. der Gerichte befand sich in Ehrenbreitstein in der Hofstraße 272, dem Coenenschen Haus, das erst kürzlich frisch restauriert wurde.

Von dem Gericht der 34. Division wissen wir kaum etwas. Wenig bekannt ist auch über das Gericht der Wehrmachtkommandantur Koblenz. Immerhin wissen wir von diesem Gericht, dass es nach den schweren Luftangriffen auf Koblenz Ende November 1944 nach Nassau an der Lahn verlegt wurde. Dort kam nach einem Bombenangriff auf Nassau am 2. Februar 1945 der Geschäftsbetrieb zum Erliegen. Mit dem gesamten dann noch verbliebenen Personal bezog man Notquartiere im Reservelazarett Scheuern. - Die meisten Unterlagen gibt es über das Gericht der Division Nr. 172. Von allen Zweigstellen des Gerichts der 172. Division existieren etwa 4.200 Verfahrensakten. Von der Zweigstelle in Koblenz-Ehrenbreitstein sind es etwa 740. Außerdem ist eine Generalakte aus der Zeit von Dezember 1943 bis Oktober 1944 erhalten.

In der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit habe ich nicht sämtliche Verfahrensakten durchsehen können. Im Übrigen dürften diese - gleichwohl reichhaltigen - Bestände nicht vollzählig sein. Aus den statistischen Angaben der Zweigstelle Koblenz-Ehrenbreitstein des Gerichts der 172. Division ergibt sich nämlich, dass in dem hier anhand der Generalakten dokumentierten Zeitraum von Dezember 1943 bis Oktober 1944 monatlich zwischen 150 bis 200 Verfahren anhängig gemacht wurden. Von daher können diese aufgefundenen 740 Verfahrensakten bei weitem nicht komplett sein.

In organisatorischer Hinsicht interessant ist, dass in der Zweigstelle Koblenz-Ehrenbreitstein eine Sonderabteilung gebildet wurde, die man im März 1944 zu einer Zweigstelle eines anderen Gerichts - nämlich dem Gericht der Division Nr. 462 - verselbständigte. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in Koblenz-Ehrenbreitstein für alle politischen und Fahnenflucht-Sachen der Lothringer und Luxemburger zuständig war. Das brachte eine starke Arbeitsbelastung für das Gericht mit sich. Auch reichte die Kapazität der Koblenzer Gefängnisse für die Häftlinge nicht aus, so dass das Koblenzer Militärgericht auf die Anregung verfiel, höheren Orts darauf hinzuwirken, festgenommene Lothringer und Luxemburger nur dann nach Koblenz zu überführen, wenn das Kriegsgericht um die Überführung ersucht hat.

Aus der Vielzahl der Verfahren möchte ich Ihnen hier kurz das Verfahren gegen den Schützen H.... Sch.....schildern. H... Sch.... war zur Tatzeit 21 Jahre alt. Als er 19 Jahre alt war, starb sein Vater. Da die drei älteren Brüder teils zur Wehrmacht einberufen waren, teils bei der Reichsbahn beschäftigt waren, führte er die elterliche Landwirtschaft mit seiner Mutter fort. Mit 20 Jahren wurde er dann ebenfalls zur Wehrmacht eingezogen. Im Oktober 1941, im Krieg gegen die Sowjetunion, wurde er durch Granatsplitter am linken Daumen verwundet. Nach einem vierwöchigen Lazarettaufenthalt und der Verleihung des Verwundetenabzeichens in schwarz kehrt er an die Ostfront zurück - zurück in einen entsetzlichen russischen Winter, der im Dezember 1941 zur völligen Erschöpfung der deutschen Truppen führt. Noch im selben Monat beginnt die sowjetische Winteroffensive. Daraufhin erlässt Hitler seinen sog. Haltbefehl zum „fanatischen Widerstand“ und nach der Entlassung des Oberbefehlshabers des Heeres von Brauchitsch und Entmachtung der militärischen Führung übernimmt Hitler die Oberste Heeresleitung. Etwa zur gleichen Zeit fällt einer von H... Sch....’s Brüdern in Russland. Unterdessen schlägt sich seine 57-jährige Mutter nur schwer mit der Landwirtschaft durch. Mit nur einem russischen Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter muss sie 24 Morgen Acker und 60 Morgen Heide bewirtschaften. Anfang April 1942 liegt die Truppe des Schützen H.... Sch..... im Stellungskrieg im russischen Donezbecken. Da erhält er einen Brief von seiner Mutter, die ihm diese Familiensituation schildert. Es reift in ihm der Entschluss zur Selbstverstümmelung. In der folgenden Nacht verlässt er den Unterstand, um auszutreten. Dann schießt er sich mit seiner Pistole in den linken Oberarm. Es ist ein glatter Durchschuss, der Knochen, Sehnen und Schlagader unbeschädigt lässt, lediglich ein Nerv ist teilweise gelähmt.

Wegen dieses Vorfalls wird der Schütze H.... Sch.... am 23. Juli 1942 vom Feldkriegsgericht der Division Nr. 172 in Koblenz-Ehrenbreitstein wegen Zersetzung der Wehrkraft zum Tode verurteilt; auch wird auf Verlust der Wehrwürdigkeit erkannt und es werden ihm die bürgerlichen Ehrenrechte für dauernd aberkannt. In den Gründen ist u.a. ausgeführt:

„... ist hiernach tatsächlich festzustellen, dass der Angeklagte am 2. April 1942 an der Ostfront es unternommen hat, sich durch Selbstverstümmelung der Erfüllung des Wehrdienstes zeitweise zu entziehen. Verbrechen nach § 5 Abs. 1 Ziffer 3 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung.
Was das Strafmaß anlangt, so ist davon auszugehen, dass Selbstverstümmelung zum Zwecke der Wehrdienstentziehung das Schimpflichste und Schändlichste ist, dessen sich ein Soldat schuldig machen kann. In der heutigen Zeit, in der das deutsche Volk in einem Kampf um Sein oder Nichtsein verwickelt ist, und in dem es auf jeden wehrfähigen Mann ankommt, bedeutet die Selbstverstümmelung einen besonders schweren Verstoß gegen die Volksgemeinschaft und erfordert grundsätzlich deshalb eine harte Sühne. Das, was der Angeklagte zur Rechtfertigung seiner Tat vorgebracht hat, lässt - auch wenn man alle Angaben über die Familienverhältnisse als wahr unterstellt - die Annahme einer nervös überreizten Stimmung, in der der Angeklagte gehandelt haben will, überhaupt nicht zu. Denn der Tod des Vaters lag schon zwei Jahre zurück und war innerlich verschmerzt, der Tod des im Felde vor einem halben Jahr gefallenen Bruders kann den Angeklagten nur mit stolzer Trauer erfüllt haben. Und das, was die Mutter über die Schwierigkeit der Bestellung der eigenen Äcker usw. schrieb, war dem Angeklagten ja ohne weiteres schon vorher bekannt. Der an sich begreifliche Wunsch, mal wieder in die Heimat zu kommen, kann und darf jedenfalls kein Recht zur Selbstverstümmelung geben. Diese Sehnsucht nach der Heimat haben ungezählte Tausende unserer Soldaten, deren persönlichen und häuslichen Verhältnisse in vielen Fällen weit ernster und schwieriger liegen als beim Angeklagten. Die Rücksicht auf all diese Soldaten, die gleichwohl treu und brav ihre Pflicht tun und ständig ihr eigenes Leben einsetzen, und häufig auch opfern müssen, schließt jede Milde gegen einen Selbstverstümmler aus. Wenn den Angeklagten die eigenen Verhältnisse bedrückten, so stand ihm ja, was er auch wusste, Rat und Beistand seiner Dienstvorgesetzten zur Verfügung, und dass es gelegentlich doch mal Heimaturlaub geben würde, musste er sich sagen und hat er sich auch gesagt. Wenn er gleichwohl sich den Schuss beibrachte zu einer Zeit, wo gar keine Kampfhandlungen waren und nur Stellungskrieg herrschte, so lässt dies alles nur den Schluss zu, dass der Angeklagte sich überhaupt vor dem Fronteinsatz drücken wollte und nur eine passende Gelegenheit erspähte, seinen Plan in nicht auffallender Weise auszuführen. Es liegt also keine im Erregungszustande verübte, vielmehr wohl überlegte Tat vor......
Trotz der Jugend und bisherigen Unbestraftheit des Angeklagten sah sich das Feldkriegsgericht deshalb nicht in der Lage, einen minder schweren Fall im Sinne des § 5 Abs. 2 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung als gegeben anzunehmen. Die Verhängung der Todesstrafe war deshalb die zwangsläufige Folge. Der Verlust der Wehrwürdigkeit mußte gemäß § ... des Militärstrafgesetzbuches ausgesprochen werden. Die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit rechtfertigt sich aus § ... des Reichs-Strafgesetzbuchs.“

Diese Entscheidung ist nicht zuletzt wegen der Begründung sehr bemerkenswert. Denn das Feldkriegsgericht schlägt - fern der Ostfront und des entsetzlichen russischen Winters im Sommer im schönen Koblenz zu Gericht sitzend - dem Angeklagten alle sich aus der fürchterlichen Kriegssituation und den persönlichen und familiären Verhältnissen für ihn sprechenden Argumente solange und schon fast böswillig aus der Hand, bis es einen minderschweren Fall verneinen und dann scheinbar zwingend auf Todesstrafe erkennen kann.

Seit Kriegsbeginn war die Arbeit der Militärgerichte durch die am 26. August 1939 in Kraft gesetzte Kriegsstrafverfahrensordnung auf „Kriegsbedürfnisse“ umgestellt. Damit wurde u.a. der Rechtsmittelzug abgeschafft. Gegen die Entscheidungen der Feldkriegsgerichte gab es seitdem auch keine Rechtsmittel mehr. Das einzige, was noch blieb, war das Bestätigungsverfahren durch den Gerichtsherrn.

In diesem - ohnehin vorgeschriebenen - Verfahren richtete der Verteidiger des Verurteilten an den Gerichtsherrn einen ausführlichen Schriftsatz sowie mehrere Anträge dahin, die verhängte Todesstrafe in eine Gefängnisstrafe umzuwandeln, deren Vollstreckung auszusetzen und dem Verurteilten Gelegenheit zu geben, die Tat durch Frontbewährung zu sühnen. Die Darstellung des Verteidigers wirft ein sehr bedenkliches Licht auf den Verfahrensgang vor dem Feldkriegsgericht, bei dem von vornherein die Todesstrafe inmitten stand. Darin heißt es u.a.:

„Die Verhandlung gegen Sch.... stand am Donnerstag, dem 23. Juli 1942, 9 Uhr als erste Sache an. Am Mittwochnachmittag, als ich nicht im Büro war, erhielt ich telefonisch in meine vom Büro weit entfernte Privatwohnung Nachricht, dass ich die Verteidigung übernehmen solle. Mein Sozius war dienstlich abwesend, so dass ich meinem Büro Auftrag gab, am Verhandlungstag dafür zu sorgen, dass ich um 8 Uhr die Akten einsehen könne. Ich war am Verhandlungstage vor 8 Uhr auf meinem Büro, konnte aber die Akten nicht erhalten, da sie in Händen des Sachbearbeiters waren. Erst etwa 8.45 Uhr sah ich an der neben meinem Büro gelegenen Gerichtsstelle die Akten ein. Es blieben nur einige Minuten Zeit, um mit dem Angeklagten die Sache zu besprechen. Dazu kam die außerordentliche Schwierigkeit, aus dem Angeklagten das Nötige herauszubekommen. Auch bei der Verhandlung war es trotz der sehr eingehenden Befragung durch den Herrn Vorsitzenden kaum möglich, den nötigen Aufschluss von dem Angeklagten zu erhalten. Es ist keine Frage, dass dadurch die Verteidigung außerordentlich erschwert war. Der Verurteilte erklärt seine Schweigsamkeit damit, dass er noch nie vor Gericht gestanden habe. - Erst am Samstag, den 25. Juli 1942 (also zwei Tage nach der Verurteilung zum Tode, Erg. d. V.), hatte ich die Möglichkeit, in der Haftzelle eingehend mit dem Verurteilten zu sprechen...“

Im Folgenden machte der Verteidiger dann im Hinblick auf den Inhalt des dem Verurteilten zugegangenen Briefs der Mutter sowie die schwierigen familiären und häuslichen Umstände geltend, es läge hier ein minderschwerer Fall vor, der ein Absehen von der verhängten Todesstrafe rechtfertige.

Die Entscheidungen des Gerichtsherrn im Bestätigungsverfahren wurden von Militärrichtern in einem „Rechtsgutachten“ vorbereitet. Hier sehen Sie nun das sog. Rechtsgutachten in dieser Sache. Nach dem Vorschlag des Kriegsgerichtsrats soll es bei der Todesstrafe bleiben.

Zum allgemeinen Erstaunen bestätigt der Gerichtsherr zwar das Urteil, wandelt aber die Todesstrafe im Gnadenwege in eine Zuchthausstrafe von 15 Jahren um und setzt die Dauer des Verlustes der bürgerlichen Ehrenrechte auf 10 Jahre herab. Dies geschieht - wie es im Begleitschreiben dazu heißt - mit Rücksicht auf die Familienverhältnisse des Verurteilten, insbesondere seine vor dem Feinde stehenden Brüder. - Ohne im Felde stehende Brüder wäre er wohl hingerichtet worden.

Damit ist H.... Sch..... doch noch die Hinrichtung erspart geblieben. Über sein weiteres Schicksal ist uns nur so viel bekannt, dass H... Sch... in das Strafgefangenenlager II nach Aschendorfermoor im Emsland verbracht wurde. Man sollte sich aber keine Illusionen machen, auch nach der Begnadigung hatte H.... Sch.... mit Sicherheit ein schweres Los. In den Emslandlagern gehörte er zu den sog. Moorsoldaten, die bei uns vor allem durch das gleichnamige Lied, das Lagerlied von Börgermoor, bekannt sind. Die Emslandlager waren ein Inbegriff von Hunger, Lebensbedrohung und Tod. Dabei zählte der Aufenthalt dort noch nicht einmal als Strafvollstreckung. Diese sollte erst nach dem - gewonnenen - Krieg beginnen.

Die Zahl der von den Kriegsgerichten insgesamt während der NS-Zeit verhängten Todesurteile und erst recht die Zahl der von ihnen vollstreckten Todesurteile lassen sich noch schwerer schätzen als die Angaben zum Reichskriegsgericht. Man wird aber wohl davon ausgehen müssen, dass die Kriegsgerichte in der Zeit des Nationalsozialismus insgesamt - also einschließlich der etwa 1.400 vom Reichskriegsgericht gefällten Todesurteile - mehr als 30.000 Todesurteile verhängt haben. Die Zahl der davon vollstreckten Urteile kann gar nicht abgeschätzt werden.

Auf welchem schwankenden, aber doch realen Boden solche Schätzungen basieren, zeigen die Zahlen für Koblenz. Zur Spruchpraxis des Gerichts der 34. Division kann mangels Unterlagen gar nichts gesagt werden. Vom Gericht der Wehrmachtskommandantur Koblenz wissen wir, dass in den letzten Monaten des Krieges mindestens zwei Todesurteile ergangen sind. Am reichhaltigsten ist die Aktenlage zum Gericht der 172. Division. Aufgrund einer nur sehr sporadischen Untersuchung wissen wir von neun Todesurteilen. Davon sind allein in der Zeit von Dezember 1943 bis Oktober 1944 acht Todesurteile erlassen worden, von denen in diesem Zeitraum drei vollstreckt wurden.

Wenn danach auch die Zahl der schätzungsweise angenommenen 30.000 Todesurteile nicht akribisch belegt werden kann, so ist eine Zahl in dieser Dimension - und darüber kann es keinen ernstlichen Streit geben - ganz ungewöhnlich hoch.

So wurden in der deutschen, kaiserlichen Armee im Ersten Weltkrieg 48 Todesurteile vollstreckt. Nun mag man einwenden, dass die Verhältnisse während des Zweiten Weltkrieges andere gewesen seien als während des Ersten. Diesen Einwand will ich hier nicht hinterfragen. Tatsache ist aber, dass die Zahl der von den Alliierten während des Zweiten Weltkrieges verhängten und vollstreckten Todesurteile in keinem Verhältnis zu denen des Nazi-Regimes standen. So gab es bei den US-Streitkräften während des Zweiten Weltkrieges 763 Todesurteile, von denen 146 vollstreckt wurden. In Großbritannien wurden 40 Todesurteile vollstreckt und in Frankreich waren es - nach unvollständigen Angaben - 102 Todesurteile. Dagegen mag man nun einwenden, dies seien letztlich die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges gewesen und deshalb könne man deren Zahlen mit denen Hitler-Deutschlands nicht vergleichen. Auch dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Zum einen stammen viele Todesurteile Hitler-Deutschlands aus der Frühphase des Zweiten Weltkrieges, aus einer Zeit, zu der die Niederlage gar nicht sicher war. Zudem sprechen auch die Zahlen der mit Nazi-Deutschland zunächst verbündeten Achsenmacht Italien gegen einen solchen Einwand. Denn in der Zeit des Faschismus gab es in Italien lediglich 156 Todesurteile, von denen nur 88 vollstreckt worden sind. Zwischen diesen und den Zahlen Nazi-Deutschlands liegen Welten - da kann man rechnen wie man will. Und im Übrigen: Die hier vorgestellten exemplarischen „Delikte“ waren doch nicht „todeswürdig“ - ich denke, da stimmen wir ohne große Argumentation überein. Wenn so etwas mit dem Tod bestraft wird, dann muss man sich nicht über den dadurch ausgelösten Strom von Blut wundern.


VI. Drittes Opfer: Das Schicksal des W.... K.....

Eine weitere Säule der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz waren neben den Militärgerichten die „zivilen oder auch ordentlichen Strafgerichte“. Auch diese, wie der Volksgerichtshof, die Oberlandesgerichte in politischen Strafsachen und nicht zuletzt die Sondergerichte, fällten in großem Umfang Unrechtsurteile, vor allem Todesurteile.

Während der 12jährigen NS-Herrschaft wurde die Zuständigkeit der Sondergerichte erweitert und ihre Zahl vermehrt. Das führte dazu, dass im Jahre 1940 auch in Koblenz ein eigenes Sondergericht etabliert wurde - zuvor war das Sondergericht beim Landgericht in Köln auch für den Landgerichtsbezirk Koblenz zuständig gewesen.

Eines der Kennzeichen des nationalsozialistischen Strafrechts war die Flut von Strafnormen, die mit Todesstrafe bewährt waren. Gab es vor dem Nationalsozialismus drei Tatbestände mit Todesstrafe, so waren es schließlich am Ende über 40. Eine Vielzahl dieser mit Todesstrafe belegten Delikte wurde vor den Sondergerichten angeklagt. Die meisten Todesurteile verhängten die Sondergerichte dabei aufgrund der Volksschädlingsverordnung, der Kriegssonderstrafrechtsverordnung und der Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten.

Gerade die Zuständigkeit der Sondergerichte für Delikte nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung rechtfertigt es, im Rahmen dieses Vortrages über die NS-Militärjustiz auch auf die Spruchpraxis der ordentlichen Strafgerichte, speziell der Sondergerichte einzugehen.

Die innere Rechtfertigung dafür ergibt sich aber auch aus der den Sondergerichten zugedachten Funktion als „Panzertruppe der Rechtspflege“. Dieses fast schon geflügelte Wort geht auf Roland Freisler zurück. Was damit im einzelnen von den Sondergerichten erwartet wurde, machte Freisler als Staatssekretär den Sondergerichtsvorsitzenden und Sachbearbeitern bei den Generalstaatsanwaltschaften auf einer Tagung im Reichsjustizministerium am 24. Oktober 1939 - also kurz nach der Anzettelung des Zweiten Weltkrieges - deutlich. Darin heißt es nach der einleitenden Bemerkung „Volk ist ein fließender Strom von lebendem Blut“ u.a.:

„....steht ein Volk im Kriege..., dann muss... alles dazu dienen: mehr Kraft noch zusammenzuballen! Erst recht: jede Zersetzungserscheinung, kaum dass sie erkennbar wird, zu beseitigen; jeden Spaltpilz - wenn das Bild nicht schlecht wäre - möchte man sagen: mit Stumpf und Stiel auszurotten! Das gilt für jede Tätigkeit jedes Volksgenossen im Kriege. Das gilt erst recht für jede Arbeit von Volks- und Staatsorganen im Kriege. Das gilt vor allem für die Arbeit der Strafjustiz! Daran möge sie in jedem Einzelfall denken, den sie bearbeitet. Dann, nur dann, erfüllt sie in der höchsten Bewährungszeit unseres Volkes ihre Aufgabe: eine der stärksten Waffen der inneren Einheits-, Geschlossenheits-, Entschlossenheits- und Kraftfront unseres Volkes zu sein! Der Gesetzgeber hat das seine getan und tut es weiter, um der Rechtspflege die Erfüllung dieser Aufgabe zu ermöglichen. Aus dem Arsenal der Strafrechtserneuerungsarbeiten holt er hervor, was an geeigneten Waffen geschmiedet ist. Das Verfahren der Strafrechtspflege gestaltet er zu einem überlegen zu handhabenden Schwert in der Hand des Richters... Daneben gestattet er, wo es irgend erforderlich ist, ein Hinausgehen über den allgemein als angemessen angesehen gewesenen Strafrahmen, oft bis zur Todesstrafe, unter dem Gesichtspunkt: die Kriegskraft des Volkes muss unbedingt gewährleistet werden....Hier genügt nicht, dass man - vom gewohnten Maß ausgehend - dort, wo die Kriegslage die Verbrechensgrundlage bildet, oder wo das Verbrechen sich auf die Volkseinheit und Kampfentschlossenheit unmittelbar oder mittelbar schwächend auswirken kann, zum gefundenen Strafmaß je nach Gutbefund einen 20 oder 50prozentigen ‘Kriegszuschlag’ zufügt. Hier muss vielmehr eine ganz andere Bemessungsgrundlage gewonnen werden. Sie liegt darin, dass das Volk sich zum Kampf gegen den äußeren Feind hat erheben müssen. Da haftet etwa der Zurückhaltung lebenswichtiger bewirtschafteter Waren etwas ganz anderes als nur verwerflicher Eigennutz , nämlich etwas, ja viel vom Unrechtsgehalt des Landesverrats, der Volkssabotage an; da ist das alles Dolchstoß in den Rücken des Volkes! Was aber ist dem recht, der dem Volk den Dolch in den Rücken stößt, wenn der Soldat des Volkes die Brust im Kampf dem Tode darbietet? Die Frage stellen heißt: sie beantwortet haben!“

Auch das Koblenzer Sondergericht hat Todesurteile verhängt. Eines von mindestens zehn Todesurteilen erging gegen W... K... W....K... war Hilfsarbeiter bei der Firma Krupp in Essen. Er war nicht zum Militär eingezogen worden, weil er wegen seiner Tätigkeit im Rüstungsbetrieb Krupp unabkömmlich war. Diese u.k.-Stellung schien für W...K..., der nie auf der Sonnenseite des Lebens gestanden hatte, ein Glück zu sein. Sie sollte für ihn aber letztlich zum Verhängnis werden. W.... K.... ist nämlich in eine ganz dumme Sache hineingeraten. Das hatte damit zu tun, dass er kameradschaftlichen Kontakt zu französischen Kriegsgefangenen hatte, die als Zwangsarbeiter bei Krupp beschäftigt waren.

Eines Tages gibt ihm einer dieser Kriegsgefangenen einen Brief. Diesen hat ein anderer französischer Kriegsgefangener an ein deutsches Mädchen gerichtet, das er näher kannte. W... K... sollte den Brief dem Mädchen per Post zusenden. W... K... bekommt aber Bedenken, er versendet den Brief nicht, sondern zerreißt ihn. Dieses Mal hat W... K... noch einmal Glück.

Einige Zeit später erhält W... K... auf die gleiche Art und Weise einen zweiten Brief von seinem Arbeitskollegen zugesteckt. Dieser stammt wieder von dem betreffenden französischen Kriegsgefangenen, der inzwischen hat fliehen können. Mit diesem Brief will der Franzose das Mädchen dazu bewegen, ihm nach Frankreich zu folgen. Diesmal zerreißt W... K... den Brief nicht, sondern bittet das Mädchen zu sich und händigt ihr den Brief persönlich aus. Unterdessen haben sich die beiden französischen Kriegsgefangenen, die W... K... den Brief zugesteckt haben, an diesen gewandt und um Hilfe bei ihrer eigenen Flucht gebeten. Ergebnis dieser Bitten und des Besuchs des Mädchens bei W... K... ist, dass er den beiden Kriegsgefangenen Zivilkleider besorgt und sie sich nach deren Ausbruch aus dem Kriegsgefangenenlager dann zu viert auf den Weg in das unbesetzte Frankreich machen. Gemeinsam fahren sie frühmorgens von Essen nach Köln und dann nach Trier. In der Bahnhofsvorhalle von Trier fallen einem Bahnschutzbeamten das junge Mädchen und die beiden Franzosen auf. Diese drei und der einige Minuten später hinzutretende W... K... werden dann vorläufig festgenommen.

Zu Beginn des daraufhin eingeleiteten Ermittlungsverfahrens sieht es für W... K.... den Umständen entsprechend noch ganz gut aus. Auf die routinemäßige Vorlage der Akten an den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof hin lehnt dieser eine Übernahme des Verfahrens ab und weist im übrigen darauf hin, dass W... K... und dem Mädchen wohl nicht zu widerlegen sein werde, sie hätten aus Mitleid gehandelt, um den französischen Kriegsgefangenen die Rückkehr in ihre Heimat und zu ihren Familien zu ermöglichen.

Bei einer weiteren Vernehmung W... K...s durch die Gestapo erhält die Angelegenheit aber eine erste entscheidende Wende. Auf entsprechenden Vorhalt hin gibt W... K... an, ihm sei klar, dass, wenn der Fluchtplan gelungen wäre, er sich gleichzeitig auch einer Wehrdienstentziehung schuldig gemacht hätte. Unterwegs sei ihm die Sache denn auch tatsächlich leid geworden und er habe vorgehabt, dem Koffer seine Brieftasche zu entnehmen und ohne Wissen des Mädchens von der Flucht Abstand zu nehmen.

Die anschließende Anklage lautet gegen beide auf verbotenen Umgang mit Kriegsgefangenen in einem besonders schweren Fall und für W... K... außerdem darauf, es unternommen zu haben, sich durch die Flucht ins Ausland der Erfüllung des Wehrdienstes ganz zu entziehen, und zwar in einem minderschweren Fall. Einen minderschweren Fall der Wehrkraftzersetzung gemäß § 5 Abs. 1 Ziff. 3 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung nimmt der Staatsanwalt an, weil W... K..., ohne dass ihm dies widerlegt werden könne, behauptet, es sei ihm leid geworden und er habe deshalb vorgehabt, sich von seinen Begleitern zu trennen und nach Essen zurückzukehren.

Vor und während der Hauptverhandlung vor dem Sondergericht Koblenz erhält das Verfahren zum Nachteil von W... K... eine zweite entscheidende Wende. Nachfragen bei dem Arbeitgeber haben ergeben, dass W... K... in dem Rüstungsbetrieb Krupp kein sehr guter und fleißiger Arbeiter ist. Es fällt dabei auch das hässliche Wort vom Arbeitsbummelanten. Außerdem stellt sich heraus, dass W... K... wegen kleiner Straftaten vorbestraft ist. Wenn diese Delikte auch nur mit Geldstrafen oder ganz geringfügigen Freiheitsstrafen geahndet wurden, so nehmen sie das Sondergericht doch gegen W... K... erkennbar ein.

Vor diesem Hintergrund ist es dann geradezu tödlich, dass sich das junge Mädchen auf Kosten des W... K... zu entlasten versucht. Sie, die doch mit die Ursache und der Auslöser dieser Situation war, während W... K... doch nur durch Zuträgerdienste da hineingezogen wurde, sie stellt den Fall jetzt so dar, als sei W... K... die treibende Kraft gewesen und habe sie unter schlimmen Druck gesetzt, damit sie mit ihm fliehe. Obwohl diese Geschichte wenig glaubhaft erscheint, überzeugt sie doch das Gericht, zumal das Mädchen Rot-Kreuz-Helferin ist und sich für einen Einsatz im Osten gemeldet hatte. Man merkt geradezu, wie das Gericht in den damals üblichen Schablonen der Tätertypen dachte und dann einseitig wertete.

Inzwischen war auch der Staatsanwalt umgeschwenkt und beantragte für W... K... die Todesstrafe. So kam es dann auch. Im Namen des Deutschen Volkes bestrafte das Sondergericht Koblenz W... K..., weil er es unternommen hat, sich der Erfüllung des Wehrdienstes zu entziehen, mit dem Tode. Dass das Sondergericht auch äußerst milde sein konnte, zeigte dann die Verurteilung des Mädchens. Sie wurde wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten und zwei Wochen, die durch die erlittene Untersuchungshaft für verbüßt erklärt wird, verurteilt. Bei ihr ist - wie noch in der Anklage - von einem besonders schweren Fall keine Rede mehr, vielmehr war es - wie es ausdrücklich im Urteil heißt - ein leichter Fall.

W... K... bekam aber die ganze Härte des Sondergerichts und des Gesetzes zu spüren. Neben dem verbotenen Umgang mit Kriegsgefangenen, der ihm als besonders schwerer Verstoß angelastet wird, wird er wegen Zersetzung der Wehrkraft zum Tode verurteilt. Er habe es nämlich unternommen, sich durch die Fahrt ins unbesetzte Frankreich zumindest zeitweise der Erfüllung des Wehrdienstes zu entziehen. Dabei habe er auch schuldhaft gehandelt, da er wusste, was er tat.

In seinem Verhalten vermochte das Gericht auch keinen minder schweren Fall i.S. von § 5 Abs. 2 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung zu erblicken. Denn die Einlassung - so das Gericht -, ihm sei bereits auf der Fahrt von Köln nach Trier sein geplantes Vorhaben leid geworden, so dass er den Entschluss gefasst habe, sich unterwegs von dem Mädchen und den beiden Franzosen heimlich zu trennen, erscheine unwahr. Denn er hätte sicherlich eine Gelegenheit finden können, an die Brieftasche im Koffer zu kommen, wenn er sie ernsthaft gesucht hätte. Vielmehr handele es sich um eine nachträglich erfundene Einlassung, mit der er seine Stellung im Strafverfahren verbessern wolle.

Doch damit nicht genug. Das Sondergericht Koblenz setzt noch einen drauf und fährt dann fort:

„Aber selbst wenn man die Richtigkeit der Einlassung unterstellt, würde das Gericht in dem in Frage stehenden Sachverhalt den Tatbestand eines normalen Falles des Verbrechens gemäß § 5 Abs. 1 Ziff. 3 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung, nicht aber einen minder schweren Fall i.S. dieser Gesetzesbestimmung erblicken, da bereits der Versuch der Entziehung der Erfüllung des Wehrdienstes ausreicht, den gesetzlichen Tatbestand des Verbrechens zu erfüllen, und da der Angeklagte im übrigen sein Unternehmen unter äußerst hässlichen und verwerflichen, ein sehr schlechtes Licht auf sein Charakterbild werfenden Begleitumständen, durch planmäßiges, rücksichtsloses und selten gemeines Handeln gegenüber der Angeklagten... durchgeführt hat. Wegen dieses Verbrechens musste gegen den Angeklagten die in der genannten gesetzlichen Bestimmung zwingend vorgeschriebene Todesstrafe verhängt werden.“

Für den Umgang mit Kriegsgefangenen erhielt W... K... dann noch fünf Jahre Zuchthaus.

Am Tag der Urteilsverkündung stellte der Verteidiger noch ein Gnadengesuch, mit dem er um die Umwandlung der Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe bat. Zur Begründung wies er auf die u.k.-Stellung hin, so daß eine Einberufung zu militärischen Diensten im Zeitpunkt der Tat gar nicht zur Debatte gestanden habe, außerdem machte er geltend, W... K... sei recht willensschwach und habe sich von Dritten etwas einflüstern lassen. Auch das kann das Sondergericht Koblenz nicht erweichen. In der vorgeschriebenen Stellungnahme des Vorsitzers des Sondergerichts heißt es u.a., das Gericht stehe dem Antrag durchaus ablehnend gegenüber, schließlich habe die Hauptverhandlung ergeben, dass W... K... charakterlich ein durchaus minderwertiger Mensch sei.

Was dann folgte, lief nach Verwaltungsanordnungen routinemäßig ab. Noch am selben Tag wird W... K... in das Gefängnis Köln-Klingelpütz überführt und die Hinrichtung wird vorbereitet. Unter dem 4. November 1942 teilt der Reichsminister der Justiz Dr. Thierack mit, dass er mit Ermächtigung des Führers beschlossen habe, von dem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch zu machen, sondern der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen. Gleichzeitig bittet er die Oberstaatsanwaltschaft in Koblenz, mit größter Beschleunigung das Weitere zu veranlassen.

Dann wird der Leiter des Gefängnisses vom Hinrichtungstermin am 12. November 1942 um 21.00 Uhr benachrichtigt und der Scharfrichter beauftragt. Der Landgerichtspräsident von Koblenz wird gebeten zu veranlassen, dass zur Entscheidung über einen von W... K... etwa in den letzten Stunden gestellten Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder über Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Strafvollstreckung die Richter der zuständigen Strafkammer des Landgerichts sich am Hinrichtungstag bereit halten und eine halbe Stunde vor dem Hinrichtungstermin sich im Arbeitszimmer des Leiters des Gefängnisses einfinden, um über einen etwaigen Antrag oder etwaige Einwendungen sofort zu entscheiden. Der Präsident des Oberlandesgerichts Köln wird gebeten, die Mitglieder des Strafsenats des Oberlandesgerichts Köln vom Hinrichtungstermin in Kenntnis zu setzen und sie zu veranlassen, sich vor der Hinrichtung dauernd bereit zu halten, dass gegen etwaige Beschlüsse der zuständigen Strafkammer des Landgerichts Koblenz über Anträge des W... K... auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Strafvollstreckung das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde eingelegt werden sollten, so dass erforderlichenfalls unverzüglich eine Entscheidung des Strafsenats des Oberlandesgerichts Köln herbeigeführt werden kann. Der Präsident des Amtsgerichts in Köln wird gebeten zu veranlassen, dass sich zur Entgegennahme eines von W.. K... etwa in den letzten Stunden noch beabsichtigten Antrages auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder zur Entgegennahme von Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Vollstreckung ein Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Amtsgerichts Köln am Hinrichtungstag bereithält und er sich eine halbe Stunde vor dem Hinrichtungstermin im Arbeitszimmer des Leiters des Gefängnisses einfindet, damit etwaige solche Anträge zu Protokoll erklärt werden können. Der Oberstaatsanwalt in Köln wird gebeten, für die Hinrichtung einen Beamten der dortigen Geschäftsstelle als Protokollführer zu bestimmen und diesen zu veranlassen, am Hinrichtungstag im Gefängnis zu erscheinen. Schließlich wird bei dem Direktor des Anatomischen Instituts der Universität in Bonn angefragt, ob der Leichnam alsbald nach der Hinrichtung einem Beauftragten des Instituts übergeben werden soll; im übrigen heißt es noch, ein Raum zur Sezierung des Leichnams stehe im Gefängnis zur Verfügung. Letztlich wird der Verteidiger W...K...s vom Termin unterrichtet und darüber, dass die Staatsanwaltschaft Koblenz W... K... die Entschließung des Reichsministers der Justiz und den Hinrichtungstermin am selben Tag um 18.00 Uhr bekannt gegeben wird. Ausdrücklich wird der Verteidiger darauf hingewiesen, dass er zur strengsten Geheimhaltung dieser Mitteilung verpflichtet ist, dass er insbesondere auch nicht W... K... vor der am 12. November 1942 18.00 Uhr stattfindenden Eröffnung irgendwelche Mitteilung machen darf.

Am 12. November 1942 um 18.00 Uhr wird W... K... dann die Ablehnung seines Gnadengesuchs und die Vollsteckung der Todesstrafe am selben Tag um 21.00 Uhr eröffnet.

Abends um 21.00 wird W... K... in Köln-Klingelpütz hingerichtet. Die letzten Augenblicke seines Lebens sind büromäßig in der Niederschrift hierzu festgehalten.

In den Akten befindet sich noch ein Brief von W... K... an seine Angehörigen, der nicht weitergeleitet, sondern zurückbehalten wurde. In ihm heißt es u.a.:


Meine Lieben,

möchte Euch noch schnell ein paar Zeilen zukommen lassen. Ich habe noch nichts wieder von meiner Sache gehört. Da wird auch nichts mehr dran zu rütteln sein.
Ich habe mich auch damit abgefunden.... Sorgt für meine Kinder. In der Zeit, wo Ihr den Brief erhaltet, wird das wohl vollstreckt sein.

Es grüßt Euch ganz herzlich
W...


Viele Grüße an.....
Wenn Ihr noch was unternehmen könnt gegen das Mädel, dann tut das, denn die hat doch meinen Tod auf dem Gewissen.
W...“

Schon dieser eine Fall eines sog. Wehrkraftzersetzers - finde ich - ist außerordentlich diskreditierend und beschämend. Davon gab es aber mindestens hunderte...

Selbst Richter jener Zeit fanden diese Praxis sehr bedenklich. Ich zitiere im Folgenden aus einem Stimmungsbericht des Präsidenten des Landgerichts Koblenz vom 11. Juli 1944 an den OLG-Präsidenten in Köln. Darin heißt es u.a.:

„Ein Punkt, der mir in der heutigen Zeit der ernstesten Beachtung Wert erscheint, ist die viel zu geringe vorbeugende Aufklärung des Volkes, insbesondere durch die Presse, über Kriegsverbrechen und ihre Bestrafung. Die außerordentlich hohen Strafen der heutigen Kriegszeit, insbesondere diejenigen der Sondergerichte, rechtfertigen sich nur unter dem Gesichtspunkt der Abschreckung. Abschrecken kann man aber nur, wenn man dem Volk immer wieder vor Augen führt, was heute verboten ist und wie Verstöße dagegen heute bestraft werden. In dieser Beziehung herrscht nicht nur in weitesten Kreisen des Volkes sondern selbst unter Richtern auch heute noch manche Unklarheit. Es hat sich als nötig erwiesen, die Richter in Arbeitstagungen und Schulungen darüber zu unterrichten bzw. auf dem Laufenden zu halten, was man heute unter Heimtücke, Plünderung, Zersetzung der Wehrkraft usw. versteht. Wie kann dann der einfache Volksgenosse über diese Dinge und vor allem über die darauf stehenden Strafen im Bilde sein? Eine Strafe muss in aller Regel voraussehbar sein. Wie kann aber ein Vater, der seinem an der Front stehenden Sohn schreibt, dass die Kriegslage nicht günstig sei, wissen, dass dies unter Umständen als Zersetzung der Wehrkraft mit dem Tode bestraft wird?
Über die vorgenannten Begriffe Heimtücke, Plünderung, Zersetzung usw. unterhält man sich in Richterkreisen unter der ständigen Mahnung, dass alles dieses streng vertraulich zu behandeln sei. Dabei müssten aber eigentlich alle diese Dinge in breitester Öffentlichkeit verhandelt werden, damit jeder weiß, was verboten ist und ihm blüht, wenn er dagegen verstößt. Zum mindesten müssten derartige Urteile viel häufiger, als es jetzt geschieht, in der Presse veröffentlicht werden.
In der letzten Nummer der Wochenschrift ‘Das Reich’ befindet sich ein größerer Aufsatz, der sich mit der Tätigkeit des Volksgerichtshofs befasst. So lesenswert dieser Artikel ist, so enthält er doch mehr allgemeine Ausführungen über die Notwendigkeit einer strengen Bestrafung von Zersetzungshandlungen, als die Angabe, worin denn nun eigentlich die häufigsten und typischen Zersetzungstatbestände bestehen. Es ist dabei zu bedenken, dass der Begriff Zersetzung der Wehrkraft erst seit Beginn dieses Krieges besteht und daher im Volke noch fremd ist. Auf die Schweigepflicht wird das Volk unter dem Motto: ‘Feind hört mit’ im weitesten Maße öffentlich hingewiesen. In gleicher Weise müsste es darüber belehrt werden, was Heimtücke, Zersetzung der Wehrkraft, Plünderung und dergl. ist. Dadurch würden manche, und gerade die besseren Elemente vorbeugend abgeschreckt werden.“

Dieser Bericht zeigt u.a., wie fragwürdig für die Richter selbst ihr Handeln war bzw. sein konnte. Zugleich offenbart er, dass damit der weitere Sinn überharter Strafen und gerade auch der Todesstrafe wohl noch nicht erkannt war. Wie hatte doch Freisler die Vorsitzer der Sondergerichte belehrt: „Jede Zersetzungserscheinung, kaum dass sie erkennbar wird, zu beseitigen; jeden Spaltpilz - wenn das Bild nicht schlecht wäre - möchte man sagen, mit Stumpf und Stiel auszurotten!“ Das war es auch: Ausrottung! Menschen wie W... K..., die man als charakterlich minderwertig ansah, sollten nicht abgeschreckt werden. Da ging es nach der NS-Ideologie und deren Umsetzung in die Praxis durch die Gerichte nur um sog. Ausmerze.

Bei derartigen Vorgaben und einem solchen Selbstverständnis der Sondergerichte kann man sich über die von ihnen verursachte Blutspur eigentlich nicht wundern. Für den Volksgerichtshof sind 5.243 Todesurteile belegt. Die regionalen Sondergerichte haben nach den übereinstimmenden Schätzungen der geschichtswissenschaftlichen Forschung mindestens 11.000 Todesurteile gefällt. Das summiert sich für die NS-Sondergerichte auf mindestens 16.000 Todesurteile.


VII. Erster Täter: Werdegang und Wirken des Staatsanwalts A...

Mit diesem Justizverbrechen an W... K... wollen wir den Blick von den Opfern der NS-Militär- und Strafjustiz zunächst ab- und den Tätern dieser Justiz zuwenden.

Es drängt sich geradezu auf, sich näher mit den Richtern des Sondergerichts Koblenz, die W... K... zum Tode verurteilt haben, und mit dem Staatsanwalt, der ihn bis zum Fallbeil gebracht hat, näher zu beschäftigen. Das möchte ich hier aber nicht tun. Koblenzer Juristen, d.h. solche, die während des Nationalsozialismus hier tätig waren, sowie auch solche, die zuvor woanders eingesetzt waren, und denen dann nach dem Krieg die Rechtspflege in Koblenz anvertraut war, bzw. auch solche, die sowohl während der Nazizeit als auch nach dem Krieg hier tätig waren, gab es viele, viel zu viele. Deshalb erscheint es fast willkürlich, den einen zu erwähnen und den anderen zu verschweigen. Dessen bin ich mir bewusst. Ich beschränke mich hier auf vier Juristen, die vor vielen Jahren namentlich und mit ihrer Funktion in der Presse eingehend erwähnt wurden und in ganz besonderem Maß dem Bild einer demokratischen und rechtsstaatlichen Justiz schweren Schaden zugefügt haben.

Während der NS-Zeit waren Koblenzer Juristen nicht nur in Koblenz, sondern - wenn auch in geringerem Umfang - im gesamten Reichsgebiet tätig, etwa bei Sondergerichten in Berlin, Aachen, Nürnberg usw. Darüber hinaus waren sie als Militärrichter tätig. Schließlich waren sie auch in die besetzten Gebiete abgeordnet. Die notgedrungen unvollständige Auflistung der dort tätigen Richter liest sich wie das „Who is who“ der Nazi-Justiz in Groß-Deutschland. Da gab es einen Koblenzer Staatsanwalt beim Sondergericht in Danzig, einen Landgerichtsrat am Sondergericht in Breslau, einen Vorsitzer und zwei Landgerichtsräte beim Sondergericht in Luxemburg, einen ersten Staatsanwalt am Sondergericht in Posen, einen Amtsgerichtsrat am Sondergericht in Prag, einen Staatsanwalt am Sondergericht in Leitmeritz, drei Staatsanwälte am Sondergericht Luxemburg sowie einen Landgerichtsrat am Sondergericht in Leslau.

Erwähnen möchte ich hier zunächst den Koblenzer Staatsanwalt A... Er war im Jahre 1913 geboren und legte 1932 sein Abitur ab. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft bestand er im Jahre 1936 sein erstes juristisches Staatsexamen. Im Jahre 1937 trat er in die NSDAP ein, viel früher ging das nicht, weil zum 1. Mai 1933 ein Aufnahmestopp für die NSDAP verfügt wurde. 1940 legte er das zweite juristische Staatsexamen ab. Im selben Jahr kam A... als Gerichtsassessor zur Staatsanwaltschaft Koblenz.

Die Einberufung zum Kriegsdienst kam für ihn nicht in Betracht, da er an spinaler Kinderlähmung litt und körperbehindert war. Auf eine Karriere wollte er aber gleichwohl nicht verzichten. Offenbar deshalb ließ er sich schon ein halbes Jahr später in den Osten abordnen. Nach einer kürzeren Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Graudenz war er bald bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Danzig beschäftigt und im Wesentlichen für Wirtschaftsstrafsachen zuständig. Einen guten Ruf hatte er nicht. Nach dem Krieg bescheinigten ihm - um es ganz grob zu sagen - eigentlich alle - ein ehemaliger Kollege, ein in Danzig beschäftigter Justizbeamter, dort tätige Rechtsanwälte und auch Angeklagte -, dass er ein sehr strenger und harter Ankläger war. Ein ehemaliger Justizbeamter beim Landgericht Danzig erinnerte sich noch nach Jahren an die Situation, als in Danzig mit der Anlieferung eines Fallbeils im Jahre 1943 eine Hinrichtungsstätte eingerichtet wurde. Als alle Staatsanwälte und sonstige Bedienstete um das neue Fallbeilgerät herumstanden, soll einer der Anwesenden in die Runde gefragt haben: „Na, wer liefert nun den ersten Delinquenten?“ Da riefen - so der Betreffende - wie aus einem Munde alle Staatsanwälte: „Natürlich A..“ Worauf A... gesagt haben soll: „ Ja, selbstverständlich, das lasse ich mir nicht nehmen. Das Fallbeil wird durch mich stark in Anspruch genommen. Dann brauche ich nicht mehr die Leute nach Königsberg zur Hinrichtung zu schicken.“ In Bezug auf einen polnischen Angeklagten soll A... nach dessen Bekundung in einer Hauptverhandlung gesagt haben: „Die Angeklagten sind ein Dreck und solche Leute müssen vernichtet werden.“ Wie dem auch sei. Jedenfalls ist A... aus Anlass seiner planmäßigen Ernennung zum Staatsanwalt im Jahre 1943 als geeignet beurteilt worden. So heißt es in der Personal- und Befähigungsnachweisung u.a.: „A... ist ein guter, stets hilfsbereiter Mitarbeiter. Seine politische Zuverlässigkeit steht außer Zweifel. Er gehört der NSDAP an und ist HJ-Oberscharführer (Referent). Ich halte ihn für das Amt eines Staatsanwalts für geeignet.“

Aus der Tätigkeit As... als Staatsanwalt beim Sondergericht Danzig sind zwei Anklagen bekannt.

Die eine betraf eine Prostituierte und Zuhälterin namens K..., die von ihrem Neffen in einem Zeitraum von etwa einem Jahr gefälschte Lebensmittelkarten erworben hatte; damit besserte sie teilweise ihre eigene Versorgung auf oder machte damit Geschäfte oder gab sie an Prostituierte ab. Daneben waren auch ihre Abnehmer und Prostituierten angeklagt. Die von A... hierzu gefertigte Anklageschrift ist insgesamt gesehen von Härte geprägt.

So heißt es etwa mit Blick auf die Vorstrafen der K...:

„Aufgrund dieser Vorstrafen kann die Angeklagte K... zwar nicht gemäß §... als Gewohnheitsverbrecherin angesehen werden... Dennoch müssen auch diese Bestrafungen bei der Würdigung der Persönlichkeit der Angeklagten berücksichtigt werden. Sie zeigen insbesondere die Asozialität der Angeklagten. Die Angeklagte ist aber gemäß § .. als gefährliche Gewohnheitsverbrecherin anzusehen. Sie hat laufend Lebensmittelkarten in größtem Umfang gekauft und weiter verschoben. Wenn auch anzunehmen ist, dass die Angeklagte von vornherein die Absicht hatte, jedes Mal Karten zu kaufen und zu verschieben, wenn sie von ihrem Neffen welche erlangen konnte, so müssen dennoch die einzelnen Ausführungshandlungen als ‘vorsätzliche Taten’ im Sinne des §... angesehen werden. Es würde dem gesunden Volksempfinden widersprechen, wenn ein Täter, der auf lange Sicht sich vornimmt, die gleichen Straftaten immer wieder zu begehen, günstiger gestellt würde als derjenige Täter, der mehrere Straftaten mit jedesmaligen neuem Vorsatz begeht.“

Hier wird auch dem juristischen Laien deutlich, mit welchem Kalkül die Anklage darangeht, die an sich einheitlich zu beurteilende Fortsetzungstat in die einzelnen Tathandlungen zu zerlegen, um die einzelnen Akte der Gesamttat dann als Grundlage für die Annahme eines Gewohnheitsverbrechers zu machen!

Einmal den Gewohnheitsverbrecher im Blick erkennt A... auch in den anderen Angeklagten Gewohnheitsverbrecher. Zu dem einen Abnehmer der Lebensmittelkarten heißt es u.a.:

„Der Angeklagte W... ist ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher. Sein bisheriger Lebensweg zeigt, dass er offensichtlich nicht gewillt ist, sich ordnungsgemäß in die Volksgemeinschaft einzufügen. Bereits sehr jung wurde er zum Dieb und blieb es auch jahrelang, ohne dass ihn Not oder sonstige Umstände zu den Taten getrieben hätten. Auch die jetzt zur Aburteilung stehende Tat zeigt eindeutig, dass der Angeklagte keineswegs ein gefestigter Mensch geworden ist und dass die früheren Straftaten etwa nur Entwicklungsauswüchse gewesen sind. Kaum hatte er Gelegenheit, auf leichte Art und Weise an Lebensmittelmarken in erheblichem Umfange zu kommen, ergreift er sie und lässt alle Bedenken, die ihm hätten erwachsen müssen, weil er sich hätte sagen müssen, daß hierdurch der Ernährungsplanung des deutschen Volkes ein erheblicher Schaden entsteht, rücksichtslos fallen, nur um sich vorübergehend ein besseres Leben als andere schwer arbeitende Volksgenossen zu verschaffen. Auch die Tatsache, dass er in engsten Beziehungen zu Dirnenkreisen steht, zeigt seine moralische Minderwertigkeit und Verkommenheit.“

Bei dieser Sachlage hatte die Prostituierte B..., die ebenfalls Lebensmittelkarten erworben hatte, auch keine Chance. In der Anklageschrift heißt es zu ihr u.a.:

„Auch die Angeklagte B... ist als gefährliche Gewohnheitsverbrecherin anzusehen. Sie ist moralisch derartig verkommen, dass sie nicht den geringsten Widerstand fand, sich in umfangreicher Weise gegen die kriegswirtschaftlichen Bestimmungen zu vergehen. Ihr kam es offensichtlich nur darauf an, gut zu leben, während andere Volksgenossen bei erheblich geringerer Kost schwere Kriegsarbeit leisten müssen. Dass sie die sich ihr bietende Gelegenheit, auf einfache Art und Weise in erheblichem Umfang sich Zusatzverpflegung zu verschaffen, ohne irgendwelche Bedenken ergriffen hat, zeigt, dass sie asozial ist. Auch ist eine Besserung nicht zu erwarten, wie die Vorstrafen ergeben. Die öffentliche Sicherheit erfordert daher auch bei ihr die Anordnung der Sicherungsverwahrung.“

Antragsgemäß werden die Angeklagte K... zum Tode und die anderen Angeklagten zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt.

Mit dieser menschenverachtenden Einstellung gelingt es dann für Straftaten, die allenfalls der mittleren Kriminalität zuzurechnen sind, völlig unangemessene Strafen bis zur Todesstrafe zu beantragen und zu verhängen.

Die zweite von A... bekannte Anklage betrifft vier Polen, die wohl seit 1939 eine größere Anzahl von Diebstählen begangen hatten. In der Anklageschrift heißt es u.a.:

„Die Angeklagten... haben als gefährliche Gewohnheitsverbrecher sich zur Begehung von Diebstählen verabredet und fortgesetzt Stalleinbrüche, andere Einbrüche und Diebstähle verübt, wobei sie u.a. zahlreiche Schweine, Geflügel und Kleintiere erbeuteten und abschlachteten. Soweit sie das Fleisch nicht selbst verbrauchten, wurde es im Schleichhandel zu Überpreisen abgesetzt. Hierdurch haben die Angeklagten den Bedarf der Bevölkerung gefährdet und als Polen das Wohl des deutschen Volkes schwer geschädigt... Die Angeklagten... sind als regelrechte Einbrecherbande anzusehen... Die Vielzahl (der Einbrüche) allein beweist eindeutig, dass es sich bei ihnen um gefährliche Gewohnheitsverbrecher handelt, ohne dass es erforderlich wäre, ihr früheres Leben einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. Sie sind zu jenem organisierten polnischen Verbrechertum zu rechnen, das durch fortgesetzten Sachterror das Wohl des deutschen Volkes in den eingegliederten Ostgebieten schwer geschädigt hat und deshalb ausgemerzt werden muss.“

VIII. Zweiter und dritter Täter: Werdegang und Wirken des Staatsanwalts D... und des Landgerichtsdirektors R...

Die beiden nächsten Täter, die Täter zwei und drei, kommen hier - Sie sehen mir bitte die flapsige Bemerkung nach - im Doppelpack.

Denkt man an Verbrechen und Justizverbrechen, dann fallen einem vor allem die Ostgebiete ein, in denen relativ viele Juden und - nach der NS-Rassenideologie - rassisch minderwertige Slawen, also Polen, Russen usw., lebten. Verbrechen gab es aber auch im Westen, und wieder waren Koblenzer Juristen daran beteiligt. Greifen wir uns das Großherzogtum Luxemburg heraus.

Bei dem Überfall auf die westlichen Nachbarstaaten am 10. Mai 1940 überrannte die deutsche Wehrmacht das kleine Luxemburg. Noch am selben Tag sicherte Hitlers Außenminister von Ribbentropp den Luxemburgern zu, „dass Deutschland nicht die Absicht hat, durch seine Maßnahmen die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit des Großherzogtums jetzt oder in Zukunft anzutasten.“

Schon bald brachen die Deutschen ihr Unabhängigkeits-Versprechen. Der Gauleiter des Gaues Koblenz-Trier, Gustav Simon, wurde zum Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg bestellt und mit Hitlers Erlass vom 2. August 1940 diesem unmittelbar unterstellt. Fortan oblag Simon die gesamte Verwaltung im zivilen Bereich, oder wie es Simon selbst formulierte: „Die Verfassung bin ich! Die Gesetze mache ich.“ Luxemburg war für Simon eine Art Laboratorium, in dem er ungestört nationalsozialistische Politik betreiben konnte.

Zwei Wochen später hatte Simon den Justizbereich neu organisiert und eine Sondergerichtsbarkeit geschaffen. Er ging in seinem Streben nach Eigenständigkeit so weit, dass er nicht einmal die Zuständigkeit des Volksgerichtshofs für „sein“ Territorium anerkannte. Vielmehr übertrug er dem Luxemburger Sondergericht auch die Zuständigkeit für eigentlich beim Volksgerichtshof anzuklagende Straftaten, wie etwa Hochverrat, Landesverrat u.ä. Von daher war das Sondergericht einmal „normales“ Sondergericht und zum anderen „kleiner Volksgerichtshof“. Bis zu seiner letzten Sitzung am 3. August 1944 hatte das Sondergericht Luxemburg 875 Urteile mit 17 Todesstrafen, 1132 Jahren Zuchthaus und 339 Jahren Gefängnis gefällt. In neun Sitzungen fungierte das Sondergericht als Volksgerichtshof. In wichtigen Fällen legte Simon das Strafmaß selbst fest. So heißt es z.B. als Ergebnis einer Besprechung beim Gauleiter Simon im Mai 1942:

a) für den Fall Müller und Hubert hält der Gauleiter die Todesstrafe für die gegebene Bestrafung,
b) im Falle Clesse ist er mit einer Bestrafung des Haupttäters von sechs bis zehn Jahren Zuchthaus einverstanden,
c) im Fall Bernardy erscheint eine Bestrafung von zwei bis drei Jahren Gefängnis am Platze,
d) im Falle Helten ist eine Zuchthausstrafe von bis zu zehn Jahren geboten...“

Vorsitzer dieses Sondergerichts war u.a. der Landgerichtsdirektor R...1896 geboren hatte er am Ersten Weltkrieg teilgenommen, war danach im Freikorps und bei den Kämpfen im Baltikum. Zur Zeit der Weimarer Republik war er im Verband „Der Stahlhelm“ und legte in dieser Zeit auch sein erstes und zweites juristisches Staatsexamen ab. Mit Wirkung vom 1. April 1933 wurde er zum Amtsgerichtsrat in Wipperfürt und am 1. November 1935 zum Landgerichtsrat in Trier ernannt. Im September 1939 berief man ihn zur Wehrmacht ein. Ein Jahr später wurde er für den Aufbau der deutschen Justizverwaltung in Luxemburg u.k.-gestellt. Fast von Anfang bis zum Ende war er Richter in Luxemburg, und zwar vom 1. Dezember 1940 bis zum 31. Juli 1941 Beisitzer des Sondergerichts und vom 1. August 1941 bis zum 1. September 1944 Vorsitzer des Sondergerichts und Vorsitzender einer Strafkammer. In seiner dienstlichen Beurteilung aus Anlass seiner Ernennung zum Landgerichtsdirektor aus dem Jahre 1941 heißt es u.a.:

R... ist ein tüchtiger Praktiker.... Er hat beim Landgericht Trier wiederholt den Kammervorsitzenden im Vorsitz vertreten und auch zweimal den Vorsitz im Schwurgericht geführt; dabei hat er die Verhandlung mit Umsicht und Verständnis geleitet. Als Aufsichtsrichter hat er sich demgegenüber durch sein etwas schroffes und empfindliches, sehr selbstbewußtes Wesen weniger bewährt.
Dagegen hat er bei seiner Tätigkeit als Mitglied des Sondergerichts in Luxemburg die in ihn gesetzten Erwartungen voll erfüllt. R... ist eine unerschrockene und charakterfeste, etwas starre Persönlichkeit. Sein Auftreten ist bestimmt und selbstbewußt. Politisch ist er einwandfrei.
Er ist Baltikumkämpfer und alter Stahlhelmer, versteht es
jetzt auch, sich mit den örtlichen Parteistellen in ein gutes Verhältnis zu stellen... R... eignet sich unbedenklich zum Landgerichtsdirektor.“


Mit von der Partie waren neben dem einen oder anderen Beisitzer beim Sondergericht in Luxemburg auch der Erste Staatsanwalt D... 1903 geboren hatte er seine juristische Ausbildung ebenfalls in der Weimarer Republik absolviert. Seit 1931 war er Staatsanwalt in Trier. Von dort aus war er seit Mitte August 1940 als Staatsanwalt nach Luxemburg abgeordnet. Unter Aufrechterhaltung dieser Abordnung wurde er im Wirkung vom 1. Februar 1941 zum Ersten Staatsanwalt in Koblenz befördert.

D... war in Luxemburg also ein Mann der ersten Stunde. Als Dank dafür erhielt er am Gedenktag für die sog. Machtergreifung, am 30. Januar 1942, das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse ohne Schwerter als Dank für seine - wie es hieß - Aufbauarbeit in Luxemburg und die „sachliche Erledigung politischer Strafverfahren“ verliehen.

Die nahe Zukunft sollte dem Ersten Staatsanwalt D... noch weitere Gelegenheit zur „sachlichen Erledigung politischer Strafverfahren“ geben. Auslöser hierfür war die Verordnung des Reichsministers des Innern über die Staatsangehörigkeit im Elsass, in Lothringen und in Luxemburg vom 23. August 1942. Darin war u.a. geregelt, dass diejenigen deutschstämmigen Luxemburger von Rechts wegen die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, die zur Wehrmacht oder zur Waffen-SS einberufen sind oder werden. Wenige Tage später, am 30. August 1942, wurde diese Regelung vom Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg durch die Anordnung über die Staatsangehörigkeit in Luxemburg, durch die Verordnung über die Wehrpflicht in Luxemburg und durch die Anordnung über wehrpflichtige Jahrgänge in Luxemburg umgesetzt. Die Luxemburger widersetzten sich dieser Einführung der allgemeinen Wehrpflicht spontan und tatkräftig und riefen tags darauf zu einem Generalstreik auf.

Einer dieser Widerständler war der Gymnasiallehrer Professor Alfons Schmit in Echternach. Am Morgen des 31. August 1942 war er zum Schulunterricht ohne das obligatorische Abzeichen der „Volksdeutschen Bewegung“ im Knopfloch vor seiner Klasse erschienen. Auch seine Schüler hatten das Abzeichen aus Protest gegen den Wehrpflicht-Erlass nicht angelegt; viele von ihnen mussten mit ihrer Einberufung zur deutschen Wehrmacht rechnen. In der daraufhin am selben Morgen einberufenen Lehrerkonferenz soll der Professor Schmit nach den Bekundungen des deutschen Direktors erklärt haben, die Deutschen hätten ihre feierlichen Versprechen, die „Heimführung“ Luxemburgs erst nach der siegreichen Beendigung des Krieges durchzuführen, gebrochen. Tags drauf wurde Schmit verhaftet, drei Tage später zum Tode verurteilt und am folgenden Tag im SS-Sonderlager/KZ Hinzert im Hunsrück erschossen.

Stattgefunden hat dieses Verfahren - wie auch andere - vor einem polizeilichen Standgericht. Es wurde im Zusammenhang mit der Verhängung des zivilen Ausnahmezustandes in Luxemburg am 31. August 1942 eingerichtet. Nach einer vom Gauleiter Simon erlassenen Verordnung war das polizeiliche Standgericht zuständig „zur Aburteilung von Straftaten, die das deutsche Aufbauwerk gefährden“. Der Gauleiter selbst bestimmte jeweils, welche Handlungen unter diesen Tatbestand fielen. Verfahrensvorschriften gab es fast keine. Es hieß lediglich: Das Standgericht bestimmt sein Verfahren selbst. Es hat alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. Das Standgericht konnte nur auf Todesstrafe, Überstellung an die Gestapo oder auf Freispruch erkennen. Das Urteil und die Besetzung des Gerichts sowie eine kurze Urteilsbegründung sind schriftlich niederzulegen. Rechtsmittel hiergegen gab es keine. Simon hatte sich aber die Bestätigung der Urteile vorbehalten.

Das Standgericht setzte sich aus dem Leiter des Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD, einem SS-Obersturmbannführer und Oberregierungsrat, und zwei von ihm berufenen Beisitzern, und zwar dem bereits erwähnten Vorsitzer des Sondergerichts Luxemburg, Landgerichtsdirektor R... sowie einem SS-Obersturmbannführer und Kriminalrat zusammen. Ankläger war der ebenfalls bereits erwähnte Erste Staatsanwalt D...

Praktisch nur in Nachtsitzungen fällte das polizeiliche Standgericht binnen weniger Tage 20 Todesurteile. Bei diesen Verfahren handelte es sich nur dem äußeren Schein nach um ein gerichtliches Verfahren. Selbst ein deutscher Schulleiter, der als Zeuge gegen luxemburgische Lehrerkollegen aussagen musste, war bestürzt und beschrieb die Szene so: „Da sitzen drei Mann, die haben ein Dutzend Todesurteile in der Tasche und brauchen nur noch die Namen einzusetzen.“

Die 20 Todesurteile wurden umgehend und - bis auf eins - alle im SS-Sonderlager Hinzert vollstreckt. Außerdem sprach das Standgericht 50 Überstellungen an die Gestapo aus. Freisprüche gab es keine, in mehreren Fällen wurde jedoch das Verfahren eingestellt. Die Urteile des Standgerichts wurden jeweils am darauf folgenden Tag auf blutroten Plakaten im ganzen Land veröffentlicht. Der Gauleiter Simon war mit der Arbeit des Standgerichts sehr zufrieden und äußerte sich anerkennend.

Die am Schulstreik beteiligten Schüler von Professor Schmit wurden übrigens ebenfalls verhaftet. Ihren Eltern wurde vom Gauleiter Simon die Erziehungsberechtigung entzogen und - wie es weiter hieß - der Hitler-Jugend übertragen. Man deportierte die Schüler zur „Umerziehung“ in die Nähe von Koblenz, und zwar in das „Erziehungslager“ der Hitler-Jugend, das damals auf der Burg Stahleck bei Bacharach eingerichtet war.


IX. Täter und formelles Opfer zugleich: Werdegang und Wirken des Landgerichtsrats G...

Zum Abschluss dieser rheinischen Bilder aus der NS-Zeit möchte ich Ihnen noch den Werdegang und das Wirken des Landgerichtsrats G... kurz schildern.

G... ist 1907 geboren. 1931 bestand er die erste juristische Staatsprüfung, 1935 die zweite. 1936 war er Gerichtsassessor in Andernach, ab 1939 Landgerichtsrat beim Landgericht in Koblenz. Ein fanatischer Nationalsozialist war er nicht, aber er war einer, der mitgemacht hat. Immer, wenn etwas von ihm verlangt wurde, entsprach er den Erwartungen, so dass der ihn beurteilende Landgerichtspräsident meinte, in politischer Hinsicht bedürfe er noch der Leitung; er scheine indes mehr und mehr mit dem NS-Staat zu verwachsen.

Mitte März 1940 wurde G... auf seinen Antrag hin zum Aufbau der deutschen Justizverwaltung in das nach dem Überfall auf Polen eingerichtete „Generalgouvernement“ abgeordnet, und zwar an das deutsche Gericht in Cholm bei Lublin. Er bearbeitete Zivilsachen, Vormundschaftssachen usw. Dort blieb G... nur bis Anfang November desselben Jahres. Anlass für seine vorzeitige Abberufung aus Cholm waren Vorwürfe gegen ihn wegen Bestechlichkeit, verbotenen intimen Verkehrs mit Polinnen, Begünstigung von Polen und Juden. Wie man ihm später zugute hielt, war G... offenbar durch einen anderen deutschen Beamten, der ebenfalls ins Generalgouvernement abgeordnet worden war, und gegen den ein Strafverfahren wegen verschiedener Wirtschaftsvergehen, Verbrechens gegen das Heimtückegesetz und Untreue eingeleitet worden war, in diese Sache ein Stück weit hineingezogen worden. G... hielt man aber seine Jugend und mangelnde Menschenkenntnis zugute. Mit dem Widerruf der Abordnung ließ man die Sache für G... auf sich beruhen. - Nicht unerwähnt lassen möchte ich in diesem Zusammenhang, dass G... nach dem Zweiten Weltkrieg seine Abberufung aus dem Generalgouvernement ganz anders dargestellt hat. Ohne dass der geringste Beleg hierfür den Akten entnommen werden kann, hat er folgendes behauptet: „Der eigentliche Grund für meine Rückkehr nach Deutschland war jedoch, wie mir zwar nicht gesagt ist, wie ich aber mit aller Sicherheit vermuten kann, die Tatsache, dass ich im Juli 1940 einen bestialischen Mord von SS-Männern an einem Polen aus eigenem Antrieb aufgedeckt und an die Staatsanwaltschaft in Lublin berichtet habe.“

Damit war G... wieder als Landgerichtsrat beim Landgericht in Koblenz tätig. Im nächsten Jahr erhielt er einen Einberufungsbefehl zur Wehrmacht und schaffte es schon bald, in der Militärjustiz eingesetzt zu werden. Zuletzt war er im Rang eines Marine-Oberstabsrichters Vorsitzender eines Marine-Kriegsgerichts auf der Insel Kreta. Infolge der veränderten Kriegslage und dem damit verbundenen Abzug deutscher Truppen von Kreta wurde das Marine-Kriegsgericht von G..., wie schon andere auf Kreta stationierte Kriegsgerichte, am 1. Oktober 1944 aufgelöst. Fortan bestand nur noch das Kriegsgericht der Festungsdivision Kreta. Mit diesem Kriegsgericht hatte G... an sich nichts zu tun. Vielmehr hätte er schon längst von Kreta abfliegen müssen. Den Abflug hatte er aber immer mit der Begründung hinausschieben können, er habe noch Geschäfte des früheren Marine-Kriegsgerichts abzuwickeln. So kam es, dass der Kriegsrichter beim Kriegsgericht der Festungsdivision G... bat, in einer von ihm am 20. Oktober 1944 abzuhaltenden Kriegsgerichtssitzung die Anklagevertretung zu übernehmen. Das tat G... dann auch.

An diesem Tag stand vor dem Kriegsgericht der Festungsdivision Kreta u.a. eine Sache gegen einen deutschen Soldaten und einen italienischen Unteroffizier, die beide wegen Fahnenflucht angeklagt waren. Obwohl sie Sache für den Italiener nach den gesamten Umständen des Falles ganz gut für ihn stand, beantragte G... gegen beide Soldaten die Todesstrafe. Dabei hat sich G... mit Nachdruck für die Verhängung der Todesstrafe eingesetzt und sich zur Begründung darauf berufen, dass die Fahnenflucht ein besonders schimpfliches Verbrechen des Soldaten sei, was noch in besonderem Maße bei der Insellage Kretas, wo alle zusammenhalten müssten, zu gelten habe. Das Kriegsgericht folgte schließlich seinen Anträgen und verurteilte beide Soldaten zum Tode.

G... erreichte am selben Tag nochmals einen Aufschub für seinen Abflug um 24 Stunden. Nachmittags oder abends begab er sich zu einer griechischen Familie auf Kreta. Mit dieser war er länger bekannt. Zu ihr gehörte auch eine erwachsene Tochter, die deutsch sprach und die der griechischen nationalen Widerstandsbewegung „EOK“ angehörte. Durch ihre Vermittlung wurde G... in Zivilkleidern von Griechen durch die deutschen Linien zu den sich ebenfalls inzwischen auf der Insel befindlichen Engländern gebracht.

Die Flucht des G... löste unter den deutschen Soldaten auf Kreta eine ungeheure Empörung und besonders große Wut aus, weil er Oberstabsrichter war, in dieser Eigenschaft die Fahnenflucht wiederholt als das schimpflichste Verbrechen eines Soldaten bezeichnet, sie mit Rücksicht auf die Insellage und Isolierung Kretas als ganz besonders verwerflich hervorgehoben und für das Verbrechen der Fahnenflucht selbst wiederholt die Todesstrafe ausgesprochen bzw. beantragt hatte. Die Wut über das Verhalten des G... war so groß, dass sich eine große Zahl von Freiwilligen meldete, um ihn in einem gemeinsamen Unternehmen den Engländern wieder zu entreißen und zurückzuholen. Das Unternehmen wurde aber nicht erlaubt und deshalb nicht durchgeführt.

Dann erfüllt sich das Schicksal aber an G... Er, der Ankläger und Marine-Oberstabsrichter, wird wegen Fahnenflucht und Kriegsverrats vor dasselbe Kriegsgericht auf Kreta gestellt und zum Tode verurteilt. Doch anders als seine Opfer hat er Glück. Die Verurteilung geschieht in seiner Abwesenheit und bis Kriegsende wird man seiner nicht mehr habhaft.

X. Resümee

So, meine sehr geehrten Damen und Herren. Damit bin ich mit den insgesamt sieben rheinischen Bildern zu Ende. Ich wollte Ihnen damit exemplarisch aufzeigen, zu welchem Herrschaftsinstrument im nationalsozialistischen Staat die Justiz gemacht wurde und sich auch hat machen lassen. Natürlich gibt es auch andere Fälle, etwa den, dass ein Amtsgericht der Klage eines getäuschten Käufers gegen den Verkäufer zu Recht stattgegeben hat. In vielen tausend Fällen hat die Justiz im traditionellen Sinne angemessen entschieden. Das gilt in Teilen sogar für die Militärjustiz und selbst für die Sondergerichtsbarkeit - denken Sie nur an die sehr schonende Verurteilung des jungen Mädchens im Falle des W...K...Was soll man beispielsweise gegen die letztgenannte Entscheidung einwenden? Ein „Schönheitsfehler“ dieser Verurteilung zu drei Monaten und zwei Wochen Gefängnis wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen ist halt nur, dass W... K... in der Sache falsch und von allem abgesehen völlig unangemessen zum Tode verurteilt und dann deswegen gar noch geköpft wurde. Die - sagen wir - 95 Prozent aller nicht falsch oder völlig unangemessen entschiedenen Fälle können doch die Justiz als Institution nicht entlasten. Denn da, wo es auf ihre drakonische Härte und „Ausmerze“ ankam, war sie als Institution eine Säule des faschistischen Herrschaftssystems. Im Übrigen: Würden Sie sich freiwillig in ein Krankenhaus begeben, von dem Sie wissen, daß schätzungsweise fünf Prozent der Patienten grob falsch behandelt oder gar umgebracht würden? Hätten Sie Vertrauen zu dieser Institution, wenn man Ihnen sagte, aber in 95 Prozent der Fälle seien die Patienten doch „normal“ behandelt worden? Zudem: Die Justiz im Nationalsozialismus hat in viel mehr Bereichen versagt, als es der breiten Öffentlichkeit bewusst ist. In diesem Zusammenhang möchte ich nur die unsägliche Spruchpraxis der Erbgesundheitsgerichte zur Zwangssterilisation aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erwähnen, der in reichsweit 220 Erbgesundheitsgerichten etwa 400.000 Menschen zum Opfer fielen. Aus alledem wird deutlich, dass die Justiz in der NS-Zeit nicht nur - was keines Aufhebens bedarf - in „Wald- und Wiesenfällen“ „normal“ entschieden hat, sondern auch eine von den Machthabern zwar eher verachtete, aber unverzichtbare Säule des NS-Herrschaftssystems mit furchtbaren Juristen war.

XI. Abspann: Die Zeit nach 1945

Sicherlich erwarten Sie von mir auch zu dieser fortgeschrittenen Stunde noch ein paar Bemerkungen zur Nachkriegszeit. Diese will ich Ihnen nicht schuldig bleiben, mich dabei aber auf das Allernötigste beschränken. Darüber könnte man allein für Koblenz ein ganzes Buch schreiben.

Der zuletzt erwähnte Marineoberstabsrichter G... meldete sich schon Ende 1945 aus dem Zweiten Weltkrieg zurück und beantragte seine Verwendung beim Landgericht Koblenz. Mit Zustimmung der französischen Militärregierung wurde er als Richter auch wieder eingesetzt. Die politische Säuberung überstand er völlig unbeschadet. Die Spruchkammer sah in ihm einen „klassischen Fall“ eines Nichtschuldigen. Alsdann beförderte man G... gar zum Landgerichtsdirektor. Dahinein platzte im Jahre 1951 ein Zeitungsartikel, in dem aus Anlass eines beim Landgericht Koblenz anhängigen Strafverfahrens die Tätigkeit G...s auf Kreta publik gemacht wurde. Dem Ministerium der Justiz blieb dann gar nichts anderes übrig, als gegen den Landgerichtsdirektors G... ein richterdienstgerichtliches Verfahren in Gang zu bringen. In diesem wurde G... vom Oberlandesgericht Koblenz im Jahre 1954 wegen verschiedener Pflichtwidrigkeiten mit einer Gehaltskürzung bestraft. Hinsichtlich seiner Tätigkeit auf Kreta machte man ihm übrigens nicht die Beantragung der beiden Todesurteile wegen Fahnenflucht zum Vorwurf, sondern allein den Umstand, dass er selbst fahnenflüchtig geworden war. Darin sah das Richterdienstgericht ein widersprüchliches Verhalten und eine Charakterlosigkeit, die mit der Würde und der Achtung einer Richterpersönlichkeit nicht zu vereinbaren ist.

Der am Sondergericht in Danzig tätig gewesene Erste Staatsanwalt A... kam ebenfalls aus dem Krieg zurück und bewarb sich 1946 um die Wiederverwendung als Staatsanwalt in Koblenz. Nachdem er fast zwei Jahre hier tätig gewesen war, holte ihn seine Vergangenheit aber ein. Auf Drängen der polnischen Regierung wurde er von der französischen Militärregierung Anfang 1947 verhaftet und an Polen ausgeliefert. Dort wurde er im Jahre 1950 wegen seiner Tätigkeit als Staatsanwalt zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung des größten Teils der Strafe kehrte er 1955 wieder nach Koblenz zurück und bat unter Hinweis auf den ihm ausgestellten Vertriebenenausweis um Wiedereinstellung. Das geschah dann auch. Bereits 1957 wurde A... mit der Note „gut“ beurteilt. Im Übrigen heißt es u.a.: „Bei dem Beamten handelt es sich um einen Staatsanwalt von Passion, der völlig in seinem Beruf aufgeht, dessen Temperament allerdings gelegentlich mit ihm durchgeht. Bei einwandfreier charakterlicher Grundeinstellung ist er aufgeschlossen, willig, energisch, strebsam und jederzeit hilfsbereit. Sein dienstliches Verhalten ist tadellos...“. Damit stand eigentlich einer weiteren Karriere A...s in der Nachkriegsjustiz des Landes nichts mehr im Wege. Indessen war er in jenen Jahren immer wieder Angriffen wegen seiner Tätigkeit als Erster Staatsanwalt beim Sondergericht in Danzig ausgesetzt. Dies war dem Fortkommen A...s nicht dienlich. Im Jahre 1974 unternahm der damalige Leiter der Koblenzer Staatsanwaltschaft einen letzten Versuch, beurteilte ihn wiederum mit „gut“ und schrieb: „Erster Staatsanwalt A... ist eine reife Persönlichkeit mit gediegenem Charakter und soliden Lebensgrundsätzen. Er ist treu, anhänglich und verlässlich, humorvoll und optimistisch. Er widmet sich seinem Amt ungeachtet menschlicher Schicksalsschläge und beruflicher Enttäuschungen mit ungebrochener Hingabe und Aufopferungsbereitschaft. Die Belange der Justiz sind ihm stets ein echtes eigenes Anliegen. Bei guter juristischer Veranlagung und überdurchschnittlicher Intelligenz ist er sehr vielseitig verwendbar. Er leistet an jeder Stelle mit nimmermüdem Fleiß, großer Gewissenhaftigkeit und steter Einsatzbereitschaft Vorbildliches.“ - Das hilft. Wenig später wird A... zum Oberstaatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Koblenz befördert. 1977 hat er sein 40jähriges Dienstjubiläum, im selben Jahr geht er in den Ruhestand. Zu beiden Anlässen spricht ihm der Ministerpräsident für die der Allgemeinheit geleisteten treuen Dienste Dank und Anerkennung aus.

Nun zum Komplex Luxemburg. Nach dem Krieg rechnete die luxemburgische Justiz mit der deutschen ab. Aufgrund eines 1947 formulierten „Gesetzes zur Bestrafung von Kriegsverbrechern“ warfen sie den deutschen Juristen vor, sie hätten vorsätzlich nationale Einrichtungen geändert, die Treue der Bürger zur Großherzogin erschüttert, einer zum Zwecke der systematischen Terrorisierung gegründeten „Vereinigung von Übertätern“ angehört sowie Privatpersonen willkürlich festgehalten und mit Vorbedacht getötet. Die beiden Komplexe „Standgerichtsurteile“ und „Sondergerichtsurteile“ wurden in zwei Verfahren durchleuchtet, zum einen im sog. Juristenprozess 1948/49 und im sog. Standgerichtsprozess von 1951.

In beiden Kriegsverbrecherprozessen wurden Koblenzer bzw. Trierer Juristen verurteilt. Der Vorsitzer des Sondergerichts Luxemburg und Beisitzer im polizeilichen Standgericht, der Landgerichtsdirektor R..., wurde zum Tode verurteilt, der Erste Staatsanwalt D... wurde im Juristenprozess zu 15 Jahren Zuchthaus und im Standgerichtsprozess - unter Anrechnung der ersten Strafe - zu 20 Jahren verurteilt, später bildete man hieraus eine Gesamtstrafe von 15 Jahren Zuchthaus. Weitere Beisitzer beim Sondergericht Luxemburg wurden zu zehn Jahren Zuchthaus bzw. vier Jahren Gefängnis verurteilt. Abgesessen hat seine Strafe nur der Erste Staatsanwalt D... Landgerichtsdirektor R... wurde in Abwesenheit verurteilt, er hat Luxemburg nie mehr betreten. Der zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilte Beisitzer nutzte einen Urlaub auf Ehrenwort, um nicht mehr nach Luxemburg zurückzukehren. D... hingegen hat seine Strafe bis Weihnachten 1954 verbüßt. Dann kam er frei. Luxemburgs Staats- und Außenminister Werner kommentierte dies mit den Worten: „D... wurde unter Anwendung von Menschlichkeitsgesichtsmaßstäben, die ihm bei seiner eigenen Tätigkeit völlig fremd gewesen waren, begnadigt und in seine Heimat entlassen.“ Der damalige luxemburgische Justizminister formulierte dies drastischer: „Wir haben den Dreck über die Mosel abgeschoben.“

Die Rückkehr D...s in die deutsche Justiz verlief nahtlos. Schon während seiner Haft in Luxemburg wurde erst einmal das Säuberungsverfahren gegen ihn eingestellt. Schon bald nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis übernahm man ihn wieder in den Justizdienst. Man zog es aber vor, ihn nicht wieder in Koblenz zu beschäftigen und setzte ihn vielmehr in der Pfalz ein. 1960 beförderte man D... gar noch zum Oberstaatsanwalt. Nachdem all dies so geräuschlos vonstatten gegangen war, kam es doch noch zum Eklat. Als D... als Ankläger in den 60er Jahren die Verurteilung eines früheren rheinland-pfälzischen Finanzministers wegen Untreue veranlasste, denunzierte dieser D... wegen seiner Tätigkeit in Luxemburg. Der Fall beschäftigte noch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landtages. D... ließ sich schließlich im 64. Lebensjahr in den Ruhestand versetzen.

Der Vorsitzer des Sondergerichts Luxemburg und Beisitzer des polizeilichen Standgerichts wurde ebenfalls in die rheinland-pfälzische Justiz eingestellt, aber nicht im Nordteil des Landes, sondern ebenso in der Pfalz. Bereits 1958 ließ er sich in den Ruhestand versetzen, da ihm die Dienstverrichtung in der Pfalz zu beschwerlich war. Auch ihm sprach der damalige Ministerpräsident für die in langjähriger treuer Pflichterfüllung geleisteten Dienste Dank und Anerkennung der Landesregierung aus.

Einer der Beisitzer des Sondergerichts Luxemburg war nach dem Krieg noch bis Anfang der 70er Jahre Erster Staatsanwalt in Koblenz. Ein anderer Beisitzer machte gar noch Karriere. Erst wurde dieser Präsident des Landgerichts in Bad Kreuznach und dann noch Präsident des Prüfungsamtes für Juristen des Landes; er war damit zuständig für die Ausbildung des Juristennachwuchses in Rheinland-Pfalz.

Ein letztes Wort gilt den Opfern der NS-Militär- und Strafjustiz.

Die sterblichen Überreste von Pater Franz Reinisch sind in Vallendar-Schönstatt im Grab neben der Gnadenkapelle bestattet. Auf Antrag der Pallotiner erklärte der Leitende Oberstaatsanwalt beim Landgericht Schweinfurt im Jahre 1991 das Feldurteil von 1942 für aufgehoben. Vor wenigen Wochen ist in Vallendar eine Straße nach Pater Franz Reinisch benannt worden.

Der in Köln-Klingelpütz hingerichtete W...K... hat keine letzte Ruhestätte gefunden. Seine sterblichen Überreste sind an das Anatomische Institut der Universität in Bonn gelangt. Ein früher Versuch, ihn zu rehabilitieren, ist gescheitert. Bereits 1949 beantragte die Staatsanwaltschaft Koblenz bei der Strafkammer Koblenz die Aufhebung des Urteils aufgrund des „Landesgesetzes zur Beseitigung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege“ aus dem Jahre 1948. Bald darauf nahm die Staatsanwaltschaft diesen Antrag wieder zurück, weil nach dem Landesgesetz u.a. Voraussetzung hierfür war, daß die der Verurteilung zugrunde liegende Handlung ausschließlich aus politischen, rassenmäßigen oder weltanschaulichen Gründen aus Gegnerschaft zum Nationalsozialismus begangen worden war und die Staatsanwaltschaft diese Voraussetzung nicht als erfüllt ansah. Aus dem gleichen Grund blieb auch eine von der Tochter W...K...s in Nordrhein-Westfalen angestrengte Klage auf Waisenrente nach dem Bundesentschädigungsgesetz ohne Erfolg. Auf Initiative unseres Justizministers Peter Caesar hin wurden Ende der 80er Jahre die Sondergerichtsverfahren rheinland-pfälzischer Gerichte von Amts wegen durchforstet. Dabei wurde im Jahre 1990 auch das gegen W...K... ergangene Todesurteil aufgrund desselben Landesgesetzes aus dem Jahr 1948, aber aufgrund einer anderen Vorschrift, aufgehoben.

Von dem Schützen H...Sch... schließlich wissen wir gar nichts. Es ist nicht einmal bekannt, ob er das Strafgefangenenlager II Aschendorfermoor lebend verlassen hat. Immerhin sieht das vor wenigen Wochen beschlossene (Bundes-)Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege wohl eine Aufhebung auch eines solchen Urteils vor, sofern der Verurteilte oder ein naher Angehöriger von ihm das beantragt.

Mögen diese nur sehr spät und unvollkommen rehabilitierten Opfer der NS-Militär- und Strafjustiz die Erinnerung an dieses schwarze Kapitel unserer Justizgeschichte und Geschichte überhaupt in uns wach halten und uns für alle Zukunft mahnen, damit sich eine solche Blutjustiz auch nicht in Ansätzen wiederholt. Von daher wäre es sehr zu wünschen, wenn die Initiative zur Errichtung eines Mahnmals für Opfer des Nationalsozialismus in Koblenz, die sich vor etwa einem Jahr hier gegründet hat, Erfolg hätte und bald ein Mahnmal in Koblenz an diese und andere Opfer des Nationalsozialismus in Koblenz erinnert.