Drei Vorträge von Joachim Hennig bei der Volkshochschule Koblenz zum Generalthema „Täter“
Teil 2:
Harald Turner (1891 – 1947)
Harald Turner wurde am 8. Oktober 1891 in dem Städtchen Leun geboren. Leun liegt an der Lahn, zwischen Wetzlar und Limburg, gegenüber von Braunfels. Es gehörte damals zum Kreis Wetzlar. Leun war wohl ein schönes Städtchen, mit alten Fachwerkhäusern in seinem Ortskern. Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass Leun wie der ganze Kreis Wetzlar damals zum Regierungsbezirk Koblenz gehörte.
Zur Welt kam Harald Friedrich Emil Turner als Sohn eines Oberleutnants im 1. Nassauischen Infanterieregiment Nr. 87 und der Tochter eines evangelischen Pfarrers. Diese Mischung ist schon ein bisschen ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher wird es, wenn man den Namen des Vaters hört: William West Turner. Unweigerlich kommt man da ins Englische – Turner – und das ist richtig so. Denn Harald Turners Vorfahren väterlicherseits waren Engländer. Sein Vater war 1861 in London geboren. Sein Großvater Spence Derrington Turner war Soldat in der indischen Armee. Seine größte Leistung vollbrachte er auf einer Reise von Indien nach England, als das Schiff an einer Flussmündung ins Meer nachts in Brand geriet. Das Schiff brannte aus, viele Menschen kamen ums Leben, weil sie verbrannten, ertranken oder von Haifischen aufgefressen wurden. Der Großvater rettete sein nacktes Leben sowie auch das Leben der Frau des Schiffskapitäns durch Schwimmen. Im Nachhinein spielte er seine Tat herunter. Er behauptete, weil sie nur ein Nachthemd angehabt habe und sehr beleibt gewesen sei, hätten die Haifische schon von ihrem bloßen Anblick genug gehabt. Dadurch habe sie letztlich die Haifische in die Flucht geschlagen und damit sein Leben gerettet. Und im Übrigen habe die Frau angesichts ihrer Körperfülle gar nicht ertrinken können.
Das Faible fürs Militärische lässt sich bis zu Harald Turners Urgroßvater zurückverfolgen. Dieser William Turner war Offizier der englischen Armee. Als Major der englischen Dragoner kämpfte er während des Halbinselkrieges in Spanien und in Portugal und ebenso bei der Schlacht bei Waterloo gegen Napoleon.
Irgendwie hatte es dann den Vater Turners nach Deutschland verschlagen und in die preußische Armee. Zu jener Zeit gehörte das Nassauer Land als Folge des preußisch-österreichischen Krieges, in dessen Verlauf Nassau auf Seiten Österreichs gegen Preußen stand, seit 1866 als Provinz Hessen-Nassau zum Königreich Preußen. Stationiert war Turners Vater mit seinem Regiment in Mainz. Im Jahre 1885 heiratete Turners Vater Turners Mutter Marie, geb. Zimmermann in Leun. Sie war die Tochter des dortigen Pfarrers Julius Zimmermann, der die beiden auch traute. Viele ihrer männlichen Vorfahren waren evangelische Pfarrer oder auch Lehrer gewesen. Es war dann auch der Großvater mütterlicherseits, der Harald Turner sechs Wochen später taufte. Typisch für den familiären Hintergrund waren die Taufpaten. Von den drei männlichen Taufpaten war einer Theologiestudent und zwei waren Offizier bzw. angehender Offizier.
Seine Kindheit verlebte Turner im Standort des Vaters, in Mainz. Dort besuchte er von 1897 bis 1901 die Vorschule des „Alten Gymnasiums“. Schon sehr früh wurden für ihn die Weichen für eine militärische Laufbahn gestellt. Zu Ostern 1901, mit neun Jahren, kam er in die Kadettenanstalt Oranienstein bei Diez an der Lahn. Ostern 1906 schloss sich der Besuch der Hauptkadettenanstalt Groß-Lichterfelde bei Berlin bis einschließlich zur Obersekunda an. Im März 1908 wurde er Fähnrich und im August desselben Jahres Leutnant. Im Herbst kam er auf die Kriegsschule Potsdam.
Bei Ausbruch des I. Weltkrieges war Turner sogleich Soldat. Erst kämpfte er an der Westfront und wurde schon Ende September 1914 in Frankreich verwundet. Nach seiner Genesung war Turner bereits im Dezember 1914 wieder an der Front - diesmal an der Ostfront, in der Winterschlacht in Masuren. Durch einen doppelten Lungenschuss wurde er aber Mitte Februar 1915 erneut schwer verwundet. Noch in der Genesungsphase beförderte man ihn im Juli 1915 zum Oberleutnant. Im Dezember desselben Jahres kam er wieder an die Front.
Gleichsam zwischen den Fronten und in einer Kampfpause heiratete Turner am 23. Februar 1916 seine drei Jahre jüngere Frau Adelheid, geb. Bechtel. Sie war die Tochter eines Bad Kreuznacher Seifenfabrikanten. Unter den Vorfahren der Ehefrau Turners finden sich allerlei Handwerker, aber auch evangelische Pfarrer. Kirchlich getraut wurden sie von Turners Großvater mütterlicherseits. Aus dieser Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen, die im Jahre 1917 geborene Tochter Irmingard und der 1918 geborene Sohn Harald.
Schon bald nach der Eheschließung, im Mai 1916, erlitt Turner einen Blutsturz und musste ins Lazarett. Damit war sein Fronteinsatz im I. Weltkrieg beendet. Nach seiner Genesung wurde er nur noch im rückwärtigen Bereich eingesetzt. So war er von Juli 1916 an ein Jahr lang Platzmajor und Adjutant der Kommandantur der Festung Wesel am Niederrhein. Von dort kam er ein Jahr später als 2. Ordonanzoffizier zum Armeeoberkommando Küste nach Hamburg und von dort als 1. Ordonanzoffizier in die Karpaten. Nach einer kurzen Kommandierung in die Champagne war er Adjutant der 16. Landwehrdivision in der Ukraine. Am 15. Juli 1918 wurde er zum Hauptmann befördert, kam aber am selben Tag mit schwerer Ruhr in Lazarett, das war jetzt – wenn Sie richtig mitgezählt haben - der vierte Lazarettaufenthalt. Die Armee dankte Turner seinen Militärdienst mit der Verleihung von Orden und Ehrenzeichen. Er war Träger des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse, des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer, des Hilfsdienstkreuzes und des Verwundetenabzeichens in Silber.
... Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches im November 1918 ging Turner nicht nach Hause ins Zivilleben sondern blieb beim Militär. Er gehörte jenen irregulären Verbänden ab, in denen militärisch ausgebildete Frontsoldaten weiterhin Krieg spielten. Das waren eine Art Landsknechte, zu denen sich bald auch konservative bis rechtsradikal gesinnte junge Leute gesellten. Man nannte sie Freikorps. Es gab insgesamt 68 „amtlich anerkannte“ Verbände mit zusammen fast 400.000 Mann. Bekannt sind vor allem die Freikorps Ehrhardt und Löwenfeld, die im Baltikum ihren „Kampf gegen den Bolschewismus“ kämpften. Turner kämpfte weiter im Westen, er war wieder Platzmajor und Adjutant des Festungskommandanten von Wesel, er gehörte zum Freikorps Wesel. Später richtete er – wie er sagte - die Einwohnerwehr von Bochum ein. 1919 wurde Turner Mitglied des Treubundes, dann des Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes. Republikfreundlich war das alles sicherlich nicht.
Der am 10. Januar 1920 in Kraft getretene Vertrag von Versailles brachte dann das soldatische Ende für Turner. Der Friedensvertrag begrenzte die Streitkräfte auf das „Hunderttausend-Mann-Heer“. Damit musste die auf 400.000 Mann angewachsene Reichswehr auf ein Viertel verringert werden, von der Reduzierung waren vor allem die Freikorps betroffen, die weitgehend aufgelöst wurden. Als Reichswehrminister Gustav Noske (SPD, der sog. geschmähte „Bluthund-Noske“) Ende Februar 1920 die Auflösung von Freikorps anordnete, kam es zur offenen Rebellion. Der Befehl wurde nicht befolgt. General von Lüttwitz alarmierte die „Brigade Ehrhardt“ und befahl ihr, in Berlin einzumarschieren und „das rote Pack“ davonzujagen. Mit dabei war auch der Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp. Danach wird diese Rebellion auch als Kapp-Putsch bezeichnet. Die Reichsregierung floh aus Berlin. Die sozialdemokratischen Minister und die Gewerkschaftsführer riefen zum Generalstreik auf. U.a im westdeutschen Industriegebiet wurde dieser Streik befolgt. Und gerade da in Wesel saß Turner bei seinem Freikorps Wesel. Schon nach wenigen Tagen scheiterte der Staatsstreich in Berlin. Im Ruhrgebiet gingen die Kämpfe weiter. Immer mehr bekamen die bewaffneten Arbeiter die Oberhand. Zuletzt wurde gerade noch in Wesel gekämpft. Im April 1920 marschierte dann die Reichswehr im Ruhrgebiet ein.
Damit hatte auch Turner fürs erste ausgekämpft. Im selben Monat – übrigens zur gleichen Zeit auch wie Adolf Hitler – schied er aus dem Militärdienst aus. Während Hitler sich von da ab restlos der – wie es hieß – „Bewegung“, der NSDAP widmete, wurde Turner Verwaltungsbeamter. Zunächst war er Regierungsamtmann im Versorgungsamt in Wesel. Im Jahre 1922 kam er zum Versorgungsamt nach Mainz, 1923 nach Bad Kreuznach und 1924 nach Trier.
Turner war von Anfang an sehr ehrgeizig und bildungsbeflissen. So ließ er sich während dieser Berufstätigkeit im Wege des Fernstudiums zum Referendar weiterbilden. Aufgrund von damals geltenden Sonderregelungen – Turner ja hatte kein Abitur - gelang ihm im Jahr 1926 der Sprung vom gehobenen in den höheren Dienst. Er wurde im Februar 1926 zum Regierungsrat ernannt und weiter beim Reichsversorgungsamt in Trier eingesetzt. Obwohl er damit im höheren Dienst war, strebte er noch das Abitur an. Nach einer recht kurzen Vorbereitungszeit legte er die Reifeprüfung im Februar 1927 als Externer am Hindenburg-Realgymnasium in Trier ab. Sogleich schrieb er sich für das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität in Gießen ein und studierte neben seinem Dienst sechs Semester.
Noch während er studierte wurde er im April 1929 – unter Beibehaltung seiner Hauptstelle beim Versorgungsamt in Trier - zum Deutschen Finanzkommissar für das Versorgungswesen im Saargebiet ernannt. – Damals hatte das Saargebiet noch einen Sonderstatus – aufgrund des Versailler Vertrages war es damals den Franzosen zur Nutzung überantwortet und wurde von einer Kommission des Völkerbundes verwaltet. Erst nach 15 Jahren, im Jahre 1935, sollte die Bevölkerung des Saargebiets in einer Volksabstimmung über das weitere Schicksal entscheiden. Sie kennen den Ausgang. Ich sage nur: „Die Saar kehrt heim!“
Dort also in diesem völkerrechtlich eigenwilligen Gebilde „Saargebiet“ war Turner deutscher Finanzkommissar für das Versorgungswesen. Schon wenig später, zum 1. Januar 1930, trat Turner in die NSDAP ein. Mit der Mitgliedsnummer 181.533 schaffte er es aber nicht mehr, unter der „Schallmauer“ von 100.000 zu bleiben. Zum 1. August 1932 wurde er Mitglied der SS. Seine ersten SS-Erfahrungen sammelte er als Truppführer in Trier. Ein halbes Jahr später, am 12. Februar 1933, wurde Turner zum Oberregierungsrat beim Reichsversorgungsamt in Trier befördert. Zu dieser Zeit war er schon mit der Wahrnehmung der Geschäfte zur Führung eines Sturmbanns beauftragt.
Mittlerweile hatten die Nazis im Reich und auch in Preußen die Macht übernommen. Hitler war Reichskanzler geworden, zwei weitere Nazis, Frick und Göring, Reichsminister. Göring wurde kommissarisch auch preußischer Ministerpräsident. Es war der letzte Akt des Kampfes um das ehemals „rote Preußen“. Es galt das geflügelte Wort: „Wer Preußen hat, hat Deutschland“. Schon mit dem „Preußenschlag“ am 20. Juli 1932, als der damalige Reichskanzler von Papen die preußische Regierung unter Carl Severing (SPD) absetzte und durch einen Reichskommissar ersetzte, war die Macht dieses „Bollwerks Preußen“ gebrochen. Jetzt, nach der sog. Machtergreifung und seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten, ging Göring sofort daran, republikanisch gesinnte Beamte aus ihren Ämtern zu vertreiben und diese durch Nazis zu ersetzen bzw. überhaupt NS-Personalpolitik zu betreiben. Der erste republikanisch gesinnte Beamte, der in Koblenz im Rahmen der von den Nazis sog. politischen Säuberung entfernt wurde, war der Koblenzer Polizeipräsident Dr. Ernst Biesten. Dies geschah bereits am 13. Februar 1933. Wenig später wurde auch der Vizepräsident der Rheinprovinz, Dr. Wilhelm Guske, aus dem Amt gejagt.
Die Ernennung Turners zum Oberregierungsrat beim Reichsversorgungsamt in Trier am 12. Februar 1933 gehörte wohl noch nicht in diese – wie die Nazis es nannten – politische Säuberung. Zwar geschah die Beförderung nach der sog. Machtergreifung und seine recht frühe Parteimitgliedschaft und Zugehörigkeit zur SS waren bestimmt förderlich dabei, aber das war noch nicht Teil der „politischen Säuberung“. Dafür handelte es sich um einen zu untergeordneten Posten. Nach der Machtübernahme ging es den Nazis vielmehr darum, die Schaltstellen der Macht auf allen Ebenen zu übernehmen. Hierzu war die Stelle eines Oberregierungsrates beim Reichsversorgungsamt in Trier viel zu unbedeutend.
Wahrscheinlich war es Zufall, dass Turner gerade kurz nach der „Machtergreifung“ befördert wurde. Schließlich war er inzwischen 41 Jahre alt und hatte sich in den letzten zehn Jahren – auch durch Weiterbildung – hochgearbeitet.
Anders ist eine Turner betreffende Personalmaßnahme zu bewerten, die nur wenige Wochen später erfolgte. Im Mai 1933 kam es zu einer weiteren Ernennung Turners, diesmal zum Regierungspräsidenten von Koblenz. Diese muss man sehr wohl vor dem Hintergrund der „Machtergreifung“ der Nazis und den letzten halbwegs legalen Wahlen zum Reichstag am 5. März 1933 sehen. Dabei erhielten die Nazis 43,9 Prozent der Stimmen und zusammen mit der „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ mit 52 Prozent die absolute Mehrheit. Dieser „Säuberung“ fielen allein im Februar und im März 1933 insgesamt fünf Oberpräsidenten, 11 Regierungspräsidenten, 21 Vizepräsidenten und 25 Polizeipräsidenten zum Opfer. Der Koblenzer Regierungspräsident Walter von Sybel war zunächst noch davon verschont, gehörte er doch der DVP (Deutsche Volkspartei) an, stand weit rechts und hielt sogar Reden für die NSDAP. Aber das alles half ihm letztlich auch nichts. Die Nazis wollten ihre Leute an den Schalthebeln der Macht. Deshalb musste von Sybel gehen und wurde dann Anfang Mai 1933 „beurlaubt“. Allerdings fiel er nicht wie die politischen Gegner der Nazis – wie etwa Biesten und Guske – ins Bodenlose. Von Sybel fiel weich, die Nazis brachten ihn als Abteilungsdirigent und Verwaltungsgerichtsdirektor bei der (Bezirks-)Regierung in Wiesbaden unter.
Von Sybel wurde im Mai 1933 durch Turner ersetzt. Das war kein Ausnahmefall, denn die Machtmonopolisierung der Nazis ging weiter. Bis Ende Juli 1934 waren sämtliche Oberpräsidenten und 32 von 34 Regierungspräsidenten der Weimarer Republik aus ihren Ämtern entfernt und mit Nationalsozialisten, auch deutschnationalen und anderen Rechten neu besetzt.
Die Ernennung Turners zum Regierungspräsidenten kam für ihn nicht überraschend, er hatte darauf hingearbeitet. Bereits 1931 oder 1932 äußerte er sich gegenüber einem Freund, dem Amtsrichter Dr. Oskar Elste, nachdem dieser festgestellt hatte, dass der Gauleiter Robert Ley Parteigelder unterschlagen hatte, dies publik gemacht hatte und aus der NSDAP ausgetreten war, wie folgt:
Oskar, Du bist kein Idiot, sondern ein Vollidiot. Wenn wir an die Macht kommen, wärest Du Chef beim Oberlandesgericht Köln geworden. Meine Karriere fängt als Regierungspräsident in Trier oder in Koblenz an.
So war es denn auch. Während Elste nach 1933 Amtsrichter in Boppard/Rhein wurde, wurde Turner wie gesagt – zunächst – Regierungspräsident in Koblenz. Die Ernennung und Amtseinführung Turners als Regierungspräsident fand ein breites Echo – jedenfalls in der inzwischen gleichgeschalteten Presse. Das Koblenzer Nationalblatt schloss die Vorstellung Turners in seiner Ausgabe vom 13. Mai 1933 mit den Worten: „Mit dem neuen Regierungspräsidenten zieht in Koblenz ein alter, treuer Kämpfer der Bewegung ein, der seiner neuen Aufgabe vollauf gerecht werden wird.“
Am 16. Mai 1933 fand dann in der Festhalle in Koblenz die feierliche Einführung statt. Für das Koblenzer Nationalblatt war dies ein „Markstein (…) in der Geschichte (der) Bewegung; dieser hohen Bedeutung des Tages wurde die außerordentlich eindrucksvoll verlaufene Veranstaltung in würdigster Weise gerecht.“ Als die Musik einsetzte, marschierten sie ein: „Gauleiter Pg. G. Simon, Oberpräsident von Lüninck, Polizeipräsident und Oberführer Wetter, SS-Standartenführer Zenner, Regierungspräsident Turner und Oberbürgermeister Wittgen sowie der Stab der Gauleitung, die Führer des Stahlhelm und der Schutzpolizei (…) Ihnen folg(t)en die Fahnen und Standarten der im Saal vertretenen Formationen.“
Nach Oberpräsident von Lüninck ergriff der neue Regierungspräsident Turner das Wort und führte u.a. aus:
Ich bin mir der Schwere meiner Aufgabe bewusst. Aber ich bin ein Kind meines Bezirkes, kenne die Nöte und die Verhältnisse meiner Heimat. Siebzehn Jahre war ich im Rheinland tätig, elf Jahre in dem von den Franzosen besetzten Gebiet. Meine Aufgabe fasse ich so auf, dass ich in erster Linie Exponent der Regierung Adolf Hitlers bin, in zweiter Linie erst Beamter. Mein Ziel wird es sein, aus meinem Bezirk eine Hochburg des nationalen Sozialismus zu schaffen, denn der Nationalismus allein tut es nicht. Es muss der Sozialismus hinzukommen, für den wir 14 Jahre gekämpft haben. Dieser Nationalsozialismus soll unser Leitstern sein, wenn es gilt die Nöte der vergangenen Jahre in jeder Weise zu lindern. Mein ganzes Herz will ich für dieses Hochziel einsetzen, ein treuer Soldat Adolf Hitlers zu sein.
Der Artikel im Koblenzer Nationalblatt endet dann mit den Worten:
Mit einem dreifachen Heil auf den Führer und dem Horst-Wessel-Lied schloss die wahrhaft erhebende Feier in der Festhalle.
Die Formationen zogen nun durch die Rheinanlagen zur Hitler-Eiche gegenüber der Regierung, wo die Führer der Bewegung und die Spitzen der Behörden Aufstellung genommen hatten. In strammem Paradeschritt zogen die SS- und SA-Männer, Stahlhelm, Schutzpolizei und SS-Motorsturm vorbei, stürmisch begrüßt von den die Straßen säumenden Menschenmassen.
Ein herrliches Bild strammer Manneszucht, deutschen Kraftwillens!
Ein unvergesslicher Tag!
Mit Turner gab es sicherlich einen spektakulären Wechsel an der Spitze der Regierung von Koblenz. Dies darf allerdings nicht zu der Annahme verleiten, dass es generell solche Veränderungen gab. In organisationsrechtlicher und personeller Hinsicht blieb vielmehr vieles so wie es war. Es wurde gerade einmal das „Führerprinzip“ in der Verwaltung eingeführt. Das hatte zur Folge, dass Gremien wie der Bezirksausschuss abgeschafft wurden. Eine wesentliche Änderung gab es lediglich im Bereich der politischen Polizei. Durch die Herausbildung der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) als Parallel- bzw. Alternativorganisation verlor die politische Polizei, die ein Teil der (Bezirks-)Regierung war, an Bedeutung. Damit ging die Regelung einher, dass die Leiter der Gestapo-Stellen zugleich die politischen Sachbearbeiter bei den Regierungen sein sollten. Insoweit gehörte zum Kreis der höheren Regierungsbeamten auch ein weiterer strammer Nazi.
Eine Umstellung in der Arbeit der Regierungen gab es insoweit, als weitere Stellen - und zwar staatliche und solche der NSDAP – bei der Erledigung der Arbeiten zu beteiligen waren. In vielen Fällen mussten die Gauleitung und die Kreisleitungen eingeschaltet werden. Außerdem entstanden staatliche und Partei-Dienststellen, die teilweise eine Doppelarbeit und eine Gegenarbeit zur Folge hatten. So hatten beispielsweise Dienststellen des „Reichsnährstandes“ Befugnisse auf dem Gebiet der Marktregelung und der Preisfestsetzung, in diesem Bereich war aber auch die Regierung tätig. Nach und nach kam es zu einem nebeneinander von Dienststellen und einem Wildwuchs von Behörden und Institutionen. Das war natürlich einer effektiven Arbeit abträglich und beschnitt zudem die Aufgaben der Regierung als Mittelbehörde.
Dieser Dualismus von Partei und Staat wurde in der Person Turners und damit in der Verwaltungsspitze des Regierungsbezirks Koblenz dadurch gelöst, dass der Regierungspräsident Turner auch in der SS schnell Karriere machte. Schon zwei Wochen nach seiner offiziellen Amteinführung, am 12. Juni 1933, wurde er vom Truppführer zum Untersturmführer (= Leutnant) befördert, zwei Monate später (am 20. August 1933) zum Sturmbannführer (= Major), an „Hitlers Geburtstag“ am 20. April 1934 zum Obersturmbannführer (= Oberstleutnant), schon einen Monat später (am 20. Mai 1934) zum Standartenführer (= Oberst). Diese SS-Karriere dürfte auch Turners Eitelkeit befriedigt haben. Eine solche Annahme liegt nahe, wenn man sich die – wenigen – Fotos ansieht, die es von Turner gibt. Sie alle zeigen ihn in SS-Uniform, die er ersichtlich voller Stolz trägt.
Insoweit hatte er auch allen Grund, stolz zu sein. Denn innerhalb eines Jahres hatte Turner unter Berücksichtigung seiner Karriere als Verwaltungsbeamter auch als SS-Führer reüssiert, er hat – wie man so sagte – „nachgezogen“ und war vom „kleinen“ Truppführer zum Standartenführer (= Oberst) aufgestiegen. Außerdem hatte man ihn mit den Insignien der SS ausgestattet: mit dem SS-Totenkopfring, mit dem Ehrendegen des Reichsführers SS und mit dem Julleuchter. Den Julleuchter verlieh ihm Himmler persönlich zu Weihnachten 1935 bzw. wie die Nazis das Weihnachtsfest umfunktionierten und umbenannten zum „Julfest“ 1935.
Aus der Koblenzer Zeit Turners ist bislang sehr wenig bekannt. Ich selbst weiß nur von seinen Kontakten zum „Nerother Wandelvogel“ und zu den Zwillingsbrüdern Karl und Robert Oelbermann. Turner war Mitglied des Verwaltungsrates des „Nerother Wandervogels“, der damals schon seinen Sitz auf der Burg Waldeck bei Dorweiler im Hunsrück hatte. Auch Turners Sohn Harald war bei den „Nerothern“. Er muss ein schwer zu bändigendes Temperament gehabt haben, lediglich vor Karl Oelbermann hatte er Respekt. Obwohl Turner ein Freund der „Nerother“ war, konnte auch er den Druck von Hitler-Jugend und Partei auf die „Nerother“ nicht verhindern. Der Druck diente übrigens dazu, dass sich die „Nerother“ selbst auflösen sollten. Sie waren für die HJ eine Konkurrenz-Organisation, die die Nazis wegen ihres Totalitätsanspruchs nicht neben sich dulden wollten. Turner gab dann den Oelbermännern“ auch den Rat, sich selbst aufzulösen, ehe sie zwangsweise aufgelöst wurden. So geschah es auch, allerdings schlossen sich die „Nerother“ in einem Geheimbund, der „Gefolgschaft Oelb“ zusammen.
Turner blieb den Brüdern Karl und Robert Oelbermann weiter verbunden. Noch im Januar 1936 schrieb er ihnen:
Euch beiden habe ich umso lieber geholfen, weil ich überzeugt davon bin, dass ihr – wie man so sagt – anständige Kerle seid, die sich nur von idealen Beweggründen leiten ließen und auch in Zukunft leiten lassen werden. Ihr könnt versichert sein, dass nach wie vor ich mich mit meiner ganzen Person schützend vor Euch stelle, weil ich ein Gegner jeder nicht offenen und nicht geraden Handlung bin.
All dies half aber nichts. Am 8. Februar 1936 wurde der „Nerother Wandervogel“ offiziell verboten. Eine Woche später verhaftete die Gestapo Robert Oelbermann. Der Bruder Karl befand sich zu dieser Zeit auf einer Afrikaexpedition. Er kehrte während der ganzen NS-Zeit nicht nach Deutschland zurück. Die Gestapo warf Robert Oelbermann vor, sich im Sommer 1935 in zwei Fällen homosexuell betätigt zu haben. Aufgrund von manipulierten Zeugenaussagen wurde Robert Oelbermann noch im selben Jahr zu 21 Monaten Zuchthaus verurteilt. Der Reichsführer-SS Heinrich Himmler ordnete die Beschlagnahme der Burg Waldeck an, weil sie – wie es hieß – ein „Seuchenherd widerlicher Unzucht“ sei. Für die Gestapo war Oelbermann ein „Mensch, der überhaupt nicht wieder in die Freiheit gehört“. Unmittelbar nach Verbüßung seiner Zuchthausstrafe wurde er von der Gestapo ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Von dort aus brachte man ihn ins KZ Dachau. Am 29. März 1941 starb Robert Oelbermann im KZ Dachau, angeblich an einem „Versagen von Herz und Kreislauf bei Asthma und Ödemen“.
Das war kurz skizziert das Schicksal von Robert Oelbermann, eines ebenfalls in der Dauerausstellung porträtierten Opfers des Nationalsozialismus aus Koblenz und Umgebung.
Kehren wir nun zu Harald Turner zurück. Turners Stellung in Koblenz war nicht unangefochten. Das lag u.a. auch an seiner Nähe zum „Nerother Wandervogel“ und auch daran, dass er seinen Sohn noch nach dem Verbot der „Nerother“ mit auf eine Albanienfahrt schickte, die unter der Leitung Karl Oelbermanns stand.
In dieser Zeit wurden für Turners weitere Karriere wichtige Weichen gestellt. Hierzu gehörten seine „rassemäßige“ Durchleuchtung und die seiner Ehefrau. Im Sommer 1935 musste Turner für sich und seine Frau einen SS-Erbgesundheitsbogen und eine SS-Ahnentafel vorlegen. Sie können sich vorstellen, dass dies für Turner mit seinen englischen Vorfahren nur schwer möglich war. Auch seine Ehefrau hatte große Mühe, ihre Ahnen bis ins 18. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Mit einer gewissen Verspätung legte Turner den Ahnennachweis mit 43 amtlich beglaubigten Abschriften sowie einem Teil des Briefwechsels bei, den er zur Beschaffung der Urkunden geführt hatte. Dem Ahnennachweis seiner Ehefrau lagen gar 116 amtlich beglaubigte Abschriften bei.
Die anschließende „rassemäßige“ Überprüfung verlief für Turner günstig, denn sonst hätte er vom Reichsführer-SS zum „Julfest“ 1935 nicht den Julleuchter erhalten. Mit diesem „Julfest“ endete für Turner dann seine Koblenzer Zeit. Schon drei Wochen später machte er einen weiteren Karrieresprung. Am 17. Januar 1936 wurde er zum Ministerialdirektor im Preußischen Finanzministerium in Berlin ernannt. Am Tag der „Machtergreifung“, am 30. Januar des Jahres 1936, wurde er auch noch zum Oberführer der SS (= das ist so ein Dienstgrad zwischen Oberst und Generalmajor) befördert. Mit dieser Perspektive verließen Turner und seine Familie Koblenz. Turner sollte in den folgenden etwas mehr als neun Jahren des „Tausendjährigen Reiches“ noch zahlreiche berufliche und persönliche Höhen und Tiefen erleben, er sollte aber nie mehr nach Koblenz zurückkehren.
In seinem weiteren beruflichen Werdegang spiegelte sich regelrecht der verbrecherische Expansionsdrang Hitler-Deutschlands wider. Turners erstes Einsatzgebiet wurde Tschechien. Bekanntlich einigten sich Chamberlain, Daladier, Mussolini im Münchner Abkommen Ende September 1938 auf die Angliederung der sudetendeutschen Gebiete an Deutschland. Dies war dann der Anfang der von Hitler längst ins Auge gefassten „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ und der Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“. Am 15. März 1939 marschierten deutsche Truppen in die „Rest-Tschechei“ ein. Schon einen Tag später wurde die Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ verkündet. Danach wurde das Protektorat Teil des Großdeutschen Reiches mit – wie es hieß – „autonomer“ Selbstverwaltung, während sich das Reich die außenpolitische Vertretung und den „militärischen Schutz“ vorbehielt. Dieser Vorgang markierte – nach der „Rückkehr des Saargebiets“ ins Reich aufgrund einer Volksabstimmung, nach dem „Anschluss“ Österreichs und der „Abtretung“ des Sudetengebiets an das Reich im Münchner Abkommen – einen qualitativen Sprung in der nationalsozialistischen Expansionspolitik. Denn zum ersten Mal hatte Deutschland einen europäischen Nachbarstaat gewaltsam unterworfen, aufgelöst, teilweise annektiert und seinen Machtbereich über die Siedlungsgebiete von Deutschen oder sich als solche empfindenden Menschen hinaus ausgedehnt. Weder die Forderung „Deutschland den Deutschen“ noch die Revision von „Versailles“ konnten als Rechtfertigung für diesen Gewaltakt dienen. Vielmehr zeigte sich das deutsche Streben nach einer beherrschenden Stellung in Mitteleuropa unverhüllt und aggressiv.
Und Harald Turner war dabei. Und zwar als Beamter bei der deutschen Verwaltung in Karlsbad/Böhmen.
Man wusste offensichtlich, was man an ihm hatte. Denn schon zuvor, im Jahre 1938, hatte man ihn zum Staatsrat ernannt. Hierbei handelte es sich lediglich um einen Ehrentitel. Eine politische Funktion war damit nicht verbunden. Zum Jahrestag der „Machtergreifung“ im Jahre 1939 wurde Turner zum Brigadeführer der SS (= Generalmajor) befördert.
Als Hitler-Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel und damit den Zweiten Weltkrieg vom Zaum brach, war Turner ebenfalls dabei. Diesmal als Soldat, und zwar als Major und Bataillonskommandeur einer Personalnachschubeinheit. Nach dem Blitzkrieg und Blitzsieg gegen Polen verließ Turner die deutsche Wehrmacht. Er blieb aber in Polen und wechselte als Beamter in die Verwaltung des Generalgouvernements, wie der nicht annektierte deutsch besetzte Teil Polens damals genannt wurde. Es wurde ein deutsches „Nebenland“, das von dem Generalgouverneur Hans Frank regiert wurde. Es war auch Frank, der Turner in die Verwaltung des Generalgouvernements wechseln ließ.
Dort blieb Turner aber nicht lange. Nachdem Hitler-Deutschland am 10. Mai 1940 mit dem sog. Westfeldzug Holland, Belgien und Luxemburg überfallen hatte und dann auch gleich – wie Hitler meinte – mit dem „glorreichsten Sieg aller Zeiten“ noch Frankreich besiegt hatte, wurde Turner nach Frankreich beordert. Nach dem Waffenstillstand am 22. Juni 1940 wurde Frankreich viergeteilt: der eine Teil war Elsaß/Lothringen, der zweite Teil die zu Belgien geschlagene Nordzone, der dritte Teil das eigentliche Besatzungsgebiet (mit Paris als Zentrum) und der vierte Teil schließlich war der unbesetzte Süden (= Vichy-Frankreich). Für das besetzte Frankreich wurde eine Militärverwaltung eingerichtet. An der Spitze der Militärverwaltung stand ein General, General Otto von Stülpnagel. Diesem unterstanden ein „Kommandostab“ und ein „Verwaltungsstab“. Der Verwaltungsstab wiederum unterteilte sich in eine Abteilung Verwaltung und eine Abteilung Wirtschaft. Chef der Abteilung Verwaltung war Dr. Werner Best.
Regional war die Militärverwaltung in fünf Verwaltungsbezirke untergliedert, einer davon war der Bezirk Paris. Chef dieses Militärbezirks war – Turner. Über seine Tätigkeit dort ist wenig bekannt. Diese muss aber im Kontext mit der deutschen Besatzungspolitik in Frankreich insgesamt gesehen werden. Zudem dürfte Turner in Frankreich das Rüstzeug erhalten haben, das ihn später zu weiteren Aufgaben empfahl und befähigte.
Während Turner im Protektorat Böhmen und Mähren und im Generalgouvernement Teil einer deutschen Verwaltung war, die im Wesentlichen unmittelbar Regierung und Verwaltung in den besetzten Gebieten ausübte, und den einheimischen Kräften lediglich lokale Verwaltungen und den Vollzugsbereich überließ, war die Situation im besetzten Frankreich eine andere. Grundgedanke der Besatzung dort war die bruchlose und vollständige Fortsetzung der gesamten Tätigkeit der französischen Verwaltungsbehörden, die von den deutschen Besatzungsoffizieren lediglich kontrolliert werden sollten. Voraussetzung dafür war eine Kollaboration, eine mehr oder minder erzwungene Bereitschaft sowohl der französischen Verwaltung als auch der Bevölkerung zur Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern. Diese Bereitschaft war jedenfalls am Anfang weitgehend vorhanden, so dass die deutsche Besatzung in der Pariser Zentrale mit ca. 200 und im besetzten Gebiet mit insgesamt ca. 1000 Offizieren und Beamten auskam, um das besetzte Frankreich zu regieren.
In der ersten Phase der deutschen Besatzung in Frankreich, in der Turner Chef des Militärverwaltungsbezirks Paris war, ging es im Wesentlichen – soweit es hier interessiert – um zwei Probleme: Einmal um die Ausschaltung der politischen Gegner und zum anderen um die ersten Maßnahmen gegen die in Frankreich lebenden Juden. Das eine Problem wurde mit der weitgehenden Übertragung der in Deutschland praktizierten „Schutzhaft“ auf die Verhältnisse in Frankreich gelöst. Das zweite Problem, die sog. Judenfrage, wurde mit Judenverordnungen angegangen. Damit wurden bei den französischen Präfekten Judenregister aufgebaut, alle jüdischen Geschäfte gekennzeichnet und der jüdische Besitz erfasst. Weiter wurde eine Meldepflicht für jüdische Wirtschaftsunternehmen eingeführt. Schon Ende des Jahres 1940 zeigten diese Maßnahmen erste „Erfolge“ und sie bildeten die Grundlage für die wirtschaftliche Enteignung der Juden in den nächsten Monaten.
Diese weitere Entwicklung erlebte Turner nicht mehr vor Ort mit. Denn Anfang 1941 wurde er von seinem Posten als Chef des Militärverwaltungsbezirks Paris abberufen. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Sie dürften aber für Turner nicht sehr vorteilhaft gewesen sein, denn zwischen seiner Abberufung und der Übertragung einer neuen Aufgabe lag eine gewisse Zeitspanne.
Während Turner Anfang 1941 auf eine neue Aufgabe wartete, entstand eine „Festschrift“ für Heinrich Himmler zu dessen 40. Geburtstag. Einer der Beiträger war Werner Best. Sein Aufsatz trug den Titel: „Grundfragen einer deutschen Großraumverwaltung“. Dieser Beitrag dürfte Turners künftige Arbeit weitgehend mit beeinflusst haben, deshalb soll er hier kurz skizziert werden:
Danach ist Gewalt die Grundlage jeder Großraumordnung, und mit Gewalt muss sich das stärkste Volk gegenüber den anderen durchsetzen. Wie die in die Großraumordnung gezwungenen Völker dann im Einzelnen zu behandeln seien, sei eine taktische Frage – abhängig von der „Rasse“, dem kulturellen Entwicklungsstand, der politischen Entwicklung und der Tradition des jeweiligen Volkes. Sie sei aber auch abhängig von anderen Faktoren, wie räumliche Gestalt und Lage des jeweiligen Gebietes. Eine generelle Regel gebe es nicht; Maßstab sei allein das Interesse des „Führungsvolkes“. In dem Aufsatz lieferte Best eine komplette Systematik aller möglichen Herrschafts- und Besatzungsformen und richtete sie streng nach Prinzipien „rationalen“ Verwaltungshandelns, aber gleichzeitig auch nach „völkischen“ Prinzipien aus. Außerdem beschäftigte er sich mit der Frage, was zu tun sei, wenn innerhalb des Raumes, in dem ein werdendes „Führungsvolk“ seine Großraum-Ordnung erreichen wolle, ein Volk oder mehrere existierten, die das Führungsvolk aus welchen Gründen auch immer nicht in dem von ihm beherrschten Großraum dulden wolle oder könne. Gemeint waren damit die Juden. Bests Antwort war: Wenn im Großraum Völker lebten, die vom „Führungsvolk“ „unerwünscht“ seien und nicht in die Großraum-Ordnung eingegliedert werden sollten, so sei eine lebensgesetzlich zwingende Notwendigkeit, dass diese Völker vom „Führungsvolk“ entweder „total vernichtet (oder aus seinem Bereiche total verdrängt)“ werden müssten.
Zur gleichen Zeit, als Best diesen Aufsatz schrieb, überfiel Hitler-Deutschland zusammen mit Italien und Ungarn in der Tradition der Blitzkriege und Blitzsiege im April 1941 Jugoslawien und Griechenland, um die südöstliche Flanke für den Angriff auf die Sowjetunion zu sichern. Deutsche Truppen eroberten das Königreich Jugoslawien in nicht einmal zwei Wochen. Noch vor der Kapitulation der jugoslawischen Armee und auch in den ersten Tagen danach kam es bereits zu Geiselerschießungen von willkürlich festgenommenen Zivilisten. Aus dieser Zeit gibt es Fotos, eins davon will ich Ihnen hier zeigen. Dieses Bild hier zeigt eine Erschießung von Serben in Pancevo bei Belgrad am 22. April 1941. Nach der Erschießung der Männer prüft ein SS-Arzt, ob alle tot sind. Ein Wehrmachtsoffizier gibt einem Schwerverletzten den Fangschuss.
Nach der Zerschlagung Jugoslawiens schaffte Hitler-Deutschland mit seinen Verbündeten die „Neuordnung des Balkanraums“. Es entstand ein Konglomerat von Besatzungszonen, Vasallenstaaten und territorialen Abtretungen. Das Deutsche Reich stellte Serbien nebst dem Banat unter deutsche Militärverwaltung.
Die Militärverwaltung bestand aus einem militärischen Operationsstab und einem zivilen Verwaltungsstab. Turner wurde der Chef der Zivilverwaltung. Ihm unterstanden auch die Abteilung für „jüdische Angelegenheiten“ und auch die Einsatzgruppe Serbien. Turner vertrat das Konzept einer pragmatischen Besatzungspolitik wie er sie im besetzten Frankreich kennen gelernt hatte. Mit Hilfe eines kleinen Arbeitsstabes sollte die einheimische Verwaltung beaufsichtigt; dabei setzte man auf die Kollaborationsbereitschaft im Lande. Das gelang auch zunächst.
Die erste Phase der deutschen Besetzung Serbiens war auch gekennzeichnet von einer Diskriminierung der Juden und Zigeuner. Dies geschah durch die Übernahme von reichsdeutschen Regelungen und ihre Übertragung auf serbische Verhältnisse. Zahlreiche Anordnungen der deutschen Verwaltung legten fest, wer als Jude und Zigeuner zu betrachten war, die Juden und Zigeuner wurden gezählt und registriert, sie mussten gelbe Armbinden tragen, wurden aus allen öffentlichen Ämtern und privaten Betrieben entfernt, ihr Grundbesitz wurde „arisiert“ und die Zwangsarbeit wurde eingeführt. Diese Repressionen gegenüber Juden und Zigeunern verliefen relativ unkompliziert.
Ein Schlaglicht auf die Situation wirft ein Feldpostbrief von Peter G. vom 18. Juni 1941. Darin heißt es u.a.:
Manchmal können die Juden ja einem Leid tun. Hier laufen sie noch in rauen Mengen umher. Eigenartig ist aber, dass ich bisher noch keinen Rassejuden angetroffen habe. Äußerlich kann man sie von den Ariern gar nicht unterscheiden. Auf den Dörfern wird dieses Pack zu Schipparbeiten usw. herangezogen. Morgens muss die Bagage antreten und einstimmig im Chor den Morgenspruch aufsagen: „Wir haben keine Ahnung von Deutschlands Macht und Stärke!“ Ganz ordentlich, nicht wahr? Wir werden die Bande schon zur Zucht erziehen. Was die Bevölkerung vor uns für einen Respekt hat, ist unheimlich. Im Übrigen sind wir bei allen sehr angesehen und beliebt. Ob Deutsche, Ungarn, Serben oder Rumänen.
Die Situation änderte sich mit dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion (sog. Fall Barbarossa) am 22. Juni 1941. Noch am selben Tag, also am 22. Juni 1941, befahl Turner die Verhaftung sämtlicher führender Kommunisten und ehemaliger Spanienkämpfer. Zugleich musste die jüdische Gemeinde Belgrads täglich 40 Männer bereitstellen, die bei etwaigen Anschlägen von Partisanen als Geiseln erschossen werden sollten.
Kurze Zeit später, am 4. Juli 1941, rief die jugoslawische kommunistische Partei, von Moskau dazu angewiesen, zum bewaffneten Kampf gegen die „Besatzer und ihre einheimischen Helfershelfer, gegen die Henker unserer Völker“ auf. KP-Chef war Josip Broz genannt Tito. Er schloss sich dann auch bald den Partisanenverbänden an. Die Aufstandsbewegung entwickelte sich zu einer großflächigen Revolte. Schon nach den ersten Zwischenfällen reagierte die deutsche Besatzungsmacht mit unvergleichlicher Härte. Es erging dann der Befehl: „In jeder von Truppen belegten Ortschaft des gefährdeten Gebiets sind sofort Geiseln (aus allen Bevölkerungsschichten!) festzunehmen, die nach einem Überfall zu erschießen und aufzuhängen sind.“ Daraufhin kam es – wie es hieß – „zu „sofortigen Sühnemaßnahmen gegen Sabotageakte gegenüber der deutschen Wehrmacht, bei denen bis Ende August insgesamt rund 1.000 Kommunisten und Juden erschossen oder öffentlich aufgehängt worden sind, bei denen Häuser von Banditen, sogar ein ganzes Dorf niedergebrannt wurden“.
Gleichwohl gelang es den deutschen Besatzern nicht, die Partisanen zu schlagen. Die eingesetzten Truppen waren zahlenmäßig zu gering und schlecht ausgebildet. Turner meldete dementsprechend nach Berlin, „dass die hier zur Verfügung stehenden Truppen für den Kampf gegen die aufständischen Elemente bei den hiesigen Geländeverhältnissen, wie sich ergab, völlig ungeeignet waren.“
Zur gleichen Zeit begannen die Deutschen, überall in Serbien jüdische Männer zu verhaften und in Konzentrationslager zu verschleppen. Die meisten von ihnen waren in einem KZ am Stadtrand von Belgrad. Sie waren das „Geiselreservoir“ für weitere „Sühnemaßnahmen“.
Der Terror der Deutschen erhielt eine neue Qualität, nachdem die Deutsche Wehrmacht unmittelbar mit der „Partisanenbekämpfung“ beauftragt wurde. Der neue Befehlshaber von Serbien, General Böhme, erhielt von Hitler alle Vollmachten, um „auf weite Sicht im Gesamtraum mit den schärfsten Mitteln die Ordnung wiederherzustellen“.
In einem der ersten Befehle machte General Böhme den deutschen Soldaten in Serbien klar, um was es hier ging:
Eure Aufgabe ist in einem Landstreifen durchzuführen, in dem 1914 Ströme deutschen Blutes durch die Hinterlist der Serben, Männer und Frauen, geflossen sind. Ihr seid Rächer dieser Toten. Es muss ein abschreckendes Beispiel für ganz Serbien geschaffen werden, das die gesamte Bevölkerung auf das Schwerste treffen muss. Jeder, der Milde walten lässt, versündigt sich am Leben seiner Kameraden. Er wird ohne Rücksicht auf die Person zur Verantwortung gezogen und vor ein Kriegsgericht gestellt.
Anfang Oktober 1941 war es dann so weit. Nachdem am 2. Oktober deutsche Soldaten in einen Hinterhalt der Partisanen geraten, 21 Mann sofort gestorben waren und ein weiterer später seinen Verletzungen erlegen war, erteilte General Böhme zwei Tage später seinen ersten „Judenmordbefehl“: Zur „Sühne“ befahl er, für die 21 gefallenen Soldaten 2.100 „Geiseln“ zu erschießen. Den Chef der Militärverwaltung, Turner, wies er an, „2.100 Häftlinge in den Konzentrationslagern Sabac und Belgrad (vorwiegend Juden und Kommunisten) zu bestimmen“. Erschossen wurden dann tatsächlich auch Juden und Zigeuner, um auf die erforderliche Opferzahl zu kommen, wurden dann auch noch serbische Zivilisten erschossen.
Eine Woche später erließ General Böhme einen Tagesbefehl, der die systematische Liquidierung der erwachsenen männlichen Juden und der nichtsesshaften Zigeuner durch die Wehrmacht einleitete. Böhme ordnete an, „verdächtige männliche Einwohner und sämtliche Juden festzunehmen und sie im Verhältnis 1:100 für jeden getöteten und von 1:50 für jeden verwundeten Wehrmachtssoldaten zu erschießen“.
Sofort nach diesem Judenmordbefehl schritten die Exekutionskommandos der Wehrmacht zur Tat. Sie hatten es dabei nicht sehr schwer, da der Zugriff auf Juden und auf Zigeuner ohne weiteres möglich war, waren sie doch bereits in Lagern interniert.
Am folgenden Tag und am 11. Oktober 1941 kam es zu Erschießungen von Juden in der Umgebung von Pancevo bzw. des Schießstandes von Belgrad. Hierüber ist ein Bericht erhalten geblieben, aus dem ich Ihnen folgendes zitieren möchte:
Nach gründlicher Erkundung des Platzes und Vorbereitung erfolgte die erste Erschießung am 9. Oktober 1941.
Die Gefangenen wurden mit ihrem Notgepäck von dem Lager in Belgrad um 5.30 Uhr abgeholt. Durch Ausgabe von Spaten und sonstigem Arbeitsgerät wurde ein Arbeitseinsatz vorgetäuscht. Jedes Fahrzeug wurde nur mit drei Mann bewacht, damit aus der Stärke der Bewachung keine Vermutungen über die wahre Handlung aufkommen sollten.
Der Transport erfolgte ohne jegliche Schwierigkeiten. Die Stimmung der gefangenen während des Transportes und der Vorbereitung war gut. Sie freuten sich über die Entfernung vom Lager, da angeblich ihre Unterbringung dort nicht wunschgemäß wäre. Die Gefangenen wurden 8 Kilometer von der Erschießungsstelle beschäftigt und später nach Gebrauch zugeführt. (…) Die Erschießung erfolgte mit Gewehr auf eine Entfernung von 12 Meter. Für jeden Gefangenen wurden 5 Schützen zum Erschießen befohlen. Außerdem standen dem Arzt zwei Schützen zur Verfügung, die nach Anweisung des Arztes den Tod durch Kopfschüsse herbeiführen mussten. (…) Die Haltung der Gefangenen beim Erschießen war gefasst. Zwei Leute versuchten die Flucht zu ergreifen und wurden dabei sofort erschossen. (…) Es wurden am 9. Oktober 1941 180 Mann erschossen. Die Erschießung war um 18.30 Uhr beendet. Besondere Vorkommnisse waren nicht zu verzeichnen. Die Einheiten rückten befriedigt in ihre Quartiere ab. (…)
Die zweite Erschießung konnte (…) erst am 11. Oktober 1941 erfolgen. (…) Sie verlief planmäßig. Es wurden 269 Mann erschossen. Bei beiden Erschießungen ist kein Gefangener entwischt, und die Truppe hatte keine besonderen Ereignisse und Zwischenfälle zu verzeichnen. Im Ganzen wurden am 9. und am 11. Oktober 1941 449 Mann von den genannten Einheiten erschossen. Leider musste aus Einsatzgründen eine weitere Erschießung von den genannten Einheiten eingestellt werden und eine Übergabe des Auftrages an (eine andere Einheit) erfolgen.
Wenige Tage zuvor war Turner am 27. September 1941 noch zum SS-Gruppenführer (= Generalleutnant) befördert worden. Die Beförderung erfolgte aus Anlass seines 50. Geburtstages. Diesen feierte er am 8. Oktober 1941. Zum Geburtstag hatte ihm auch ein Freund, der Höhere SS- und Polizeiführer von Danzig Richard Hildebrandt, gratuliert und ihm ein Büchlein geschenkt.
Eine Woche nach diesen beiden Erschießungsaktionen bedankte sich Turner bei Hildebrandt für das „Büchlein, das eine willkommene Abwechslung in dem ewigen Einerlei des hiesigen Dienstes sein wird“.
Dann heißt es in dem Brief, dass hier der Teufel los sei, wisse er ja wohl. Es gebe Mord, Sabotage usw. Fünf Wochen zuvor habe er die ersten 600 Männer „an die Wand gestellt“, dann 2.000, kürzlich noch einmal 1.000. Weiter führte Turner aus:
Und zwischendurch habe ich dann in den letzten acht Tagen 2000 Juden und 200 Zigeuner erschießen lassen nach der Quote 1:100 für bestialisch hingemordete deutsche Soldaten und weitere 2.200, ebenfalls fast nur Juden, werden in den nächsten Tagen erschossen. Eine schöne Arbeit ist das nicht! Aber immerhin muss es sein, um einmal den Leuten klar zu machen, was es heißt, einen Soldaten überhupt nur anzugreifen, und zum anderen löst sich die Judenfrage auf diese Weise am schnellsten. (…) Es ist ja eigentlich falsch, wenn man es genau nimmt, dass für ermordete Deutsche, bei denen ja das Verhältnis 1:100 zu Lasten der Serben gehen müsste, nun 100 Juden erschossen werden, aber die haben wir nun mal im Lager gehabt, - schließlich sind es ja auch serbische Staatsangehörige und sie müssen ja auch verschwinden. Jedenfalls habe ich mir keine Vorwürfe zu machen, dass es von meiner Seite aus an der nötigen Rücksichtslosigkeit des Durchgreifens zum Schutze des deutschen Ansehens, aber auch der Angehörigen der deutschen Wehrmacht, gefehlt hat.“
In den nächsten Tagen kam es zu weiteren Erschießungen. In einem Runderlass vom 26. Oktober 1941 erläuterte Turner den Feldkommandanturen die Notwendigkeit dieser Aktion. Es müsse – so hieß es – grundsätzlich daran erinnert werden, dass Juden und Zigeuner ganz allgemein ein Element der Unsicherheit und damit eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und den Frieden seien. Es sei die jüdische Intelligenz gewesen, die diesen Krieg vom Zaun gebrochen habe; sie müsse daher vernichtet werden. Was den Zigeuner anbelange, so Turner weiter, so könne er aus Gründen seiner inneren und äußeren „Konstruktion“ kein nützliches Mitglied der internationalen Völkergemeinschaft sein.
Die Verwaltung kam mit dem Zählen der exekutierten Menschen kaum nach. Geradezu in einem Blutrausch wurden von Wehrmachtseinheiten innerhalb von nur zwei Wochen mehr als 9.000 Juden, Zigeuner und andere Zivilisten exekutiert.
Erwähnenswert ist auch noch ein Bericht eines Oberleutnants vom 1. November 1941 über die Erschießung von Juden und Zigeunern. Darin heißt es u.a.:
Nach Vereinbarung mit der Dienststelle der SS holte ich die ausgesuchten Juden bzw. Zigeuner vom Gefangenenlager Belgrad ab. (…) Das Erschießen der Juden ist einfacher als das der Zigeuner. Man muss zugeben, dass die Juden sehr gefasst in den Tod gehen – sie stehen sehr ruhig -, während die Zigeuner heulen, schreien und sich dauernd bewegen, wenn sie schon auf dem Erschießungsplatz stehen. Einige sprangen sogar vor der Salve in die Grube und versuchten sich tot zu stellen.
Anfangs waren meine Soldaten nicht beeindruckt. Am 2. Tage machte sich schon bemerkbar, dass der eine oder andere nicht die Nerven besitzt, auf längere Zeit eine Erschießung durchzuführen. Mein persönlicher Eindruck ist, dass man während der Erschießung keine seelischen Hemmungen bekommt. Diese stellen sich jedoch ein, wenn man nach Tagen abends in Ruhe darüber nachdenkt.
Inzwischen waren etwa 6.000 Juden und tausende Zigeuner „liquidiert“. Damit standen gar nicht mehr genügend Juden und Zigeuner für solche „Sühnemaßnahmen“ zur Verfügung. Daraufhin sah sich die Wehrmacht genötigt, für weitere „Sühnemaßnahmen“ weitgehend auf nicht-jüdische und nicht-zigeunerische Serben zurückzugreifen. Allein zwischen Oktober und Dezember 1941 wurden daraufhin 25.000 bis 30.000 serbische Menschen unter dem Vorwand der Sühne ermordet.
Über diese Massenmorde wurde auch Buch geführt. Es gab Formblätter für „Geiselerschießungen“, in die maschinenschriftlich nur noch das Datum, der zu „sühnende“ Vorfall, die Zahl der zu exekutierenden und die Exekutionseinheit eingesetzt werden mussten.
In einem Brief vom 4. Dezember 1941 an den Freund Richard Hildebrandt schrieb Turner mit Blick auf die Schwierigkeit, der Partisanen habhaft zu werden:
Hier hilft eben nur die von mir beabsichtigte brutale Ausrottung aller, die sich im Sommer nicht in ihrer Wohnung aufgehalten haben. Dann wird nicht nur im Frühjahr kein Aufstand mehr kommen, sondern auch für alle Zeiten den guten Leuten die Lust genommen werden, Dummheiten zu machen.
Nach der Ermordung der jüdischen Männer blieb noch ein Problem: Was sollte mit den ca. 15.000 jüdischen Frauen und Kindern geschehen? In einem Rundschreiben vom 26. Oktober 1941 an die Feld- und Kreiskommandanten verwies Turner darauf, dass es der Auffassung vom deutschen Soldaten und Beamten widerspreche, Frauen als Geiseln zu nehmen, es sei denn, es handele sich um Frauen oder Angehörige der in den Bergen kämpfenden Aufständischen.
Turner plädierte dafür, die jüdischen Frauen und Kinder in ein Durchgangslager abzuschieben. Dafür wurde die in der Nähe von Belgrad gelegene Stadt Semling (Zemun oder Sajmiste) ausgewählt. Die Organisation Todt ging daran, dort Baracken herzurichten. Etwa im Dezember 1941 begannen deutsche Truppeneinheiten, die Familien der getöteten Geiseln nach Sajmiste zu bringen. Das Lager wurde von der SS bewacht. Anfang März 1942 traf dann aus Berlin ein Spezialfahrzeug im Lager ein. Es war ein Gaswagen.
Unter dem 11. April 1942 brüstete sich Turner:
Schon vor Monaten habe ich alles an Juden im hiesigen Lande greifbare erschießen lassen und sämtliche Judenfrauen und –kinder in einem Lager konzentrieren lassen und sogleich mit Hilfe des SD einen „Entlausungswagen“ (Gaswagen) angeschafft.
Mit Ausnahme der Sonntag- und Feiertage wurden die Frauen und Kinder des Lagers in den Wagen verladen. Nach einigen hundert Metern wurde das Gas mit einem Schlauch in das Wageninnere geleitet. Der Wagen fuhr dann mit den sterbenden Juden durch Belgrad und brachte sie zu einem Schießplatz; dort waren für die Leichen bereits Gräber ausgehoben. Das Morden ging zügig voran. Waren im März 1942 noch ca. 5.000 bis 6.000 Juden im Lager Sajmiste, so waren es im April nur noch 2.974 und am 10. Mai 1942 war das Lager leer und die „Operation“ beendet. Befriedigt gab man die Meldung heraus, es gebe in Serbien abgesehen von den Juden in Mischehen „keine Judenfrage mehr“. Gleichzeitig schickte man den Gaswagen nach Berlin zurück; er war für weitere Einsätze in Weißrussland vorgesehen.
Als Ende August 1942 der Oberbefehlshaber wechselte, meldete Turner dem neuen Oberbefehlshaber Südost: „Serbien einziges Land, in dem Judenfrage und Zigeunerfrage gelöst.“
Turners Position in Serbien war schon länger nicht mehr unangefochten. Im Spätsommer 1942 geriet er dann endgültig ins Abseits. Grund war neben persönlichen Querelen und Animositäten vor allem Turners angebliche „weichliche Art der Regierung“ und sein Festhalten an der serbischen Kollaborationsregierung. Zum Jahresende 1942 wurde Turner als Militärverwaltungschef von Serbien abgelöst.
Das war ein schwerer Schlag für diesen extrem ehrgeizigen und Macht besessenen Menschen. Turner kehrte nach Berlin und in das Preußische Finanzministerium zurück. Er gab aber nicht auf. Da er offensichtlich im Ministerium nicht ausgelastet war, promovierte er in der Zeit von 1943 bis 1944 an der Humboldt-Universität in Berlin zum Doktor der Volkswirtschaft.
Unterdessen hatte sich für Turner eine günstige Personalentwicklung ergeben. Sein Freund Hildebrandt war inzwischen zum Chef des SS-Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) ernannt worden und dann ab Anfang 1944 zugleich auch zum Höheren SS- und Polizeiführer Schwarzes Meer. Dadurch war der Chefposten beim SS-Rasse- und Siedlungshauptamt nicht ständig besetzt. Das war dann Anlass für Hildebrandt, Himmler zu bitten, Turner vertretungsweise mit der Führung des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes zu beauftragen. Dementsprechend wurde Turner ab Anfang 1944 mit der Vertretung Hildebrandts beauftragt.
Auch an diesem neuen Posten konnte sich Turner nicht lange erfreuen. Mitte August 1944 wurde dem Reichsführer-SS ein Vorfall in der SS-Junkerschule Tölz gemeldet, der sich sechs Wochen vorher ereignet hatte und zur sofortigen Enthebung Turners von seiner Dienststellung als Führer des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes und seiner Beurlaubung vom Dienst führte. Anfang Juli 1944 hatte Turner die SS-Junkerschule in Tölz besucht und mit ehemaligen Angehörigen des Rasse- und Siedlungshauptamtes im Junkerheim einen feucht-fröhlichen Abend verbracht. Unter erheblichem Alkoholgenuss und – wie es hieß – „stark gelockerter Verfassung“ hatte Turner Bormann, den Leiter der Partei-Kanzlei, angegriffen und ihn für manche falsche Entscheidung Hitlers verantwortlich gemacht. Außerdem behauptete Turner, zwischen Bormann und Himmler gäbe es Rivalitäten. Abschließend meinte Turner, Bormann sei aus seiner Position als Leiter der Partei-Kanzlei zu entfernen, da er viele Feinde habe und sehr gefährlich sei.
Daraufhin leitete die SS ein Disziplinarverfahren. Die Untersuchung bestätigte die Vorwürfe. Aufgrund des festgestellten Sachverhalts hätte Turner eigentlich aus der SS entfernt werden müssen. In seiner Entscheidung vom 13. Januar 1945 sah der Reichsführer-SS aber von dieser Maßnahme ab und begründete dies wie folgt:
Zugunsten von Turner kann ich lediglich in die Wagschale werfen, dass er als Beamter sich bereits frühzeitig in der Kampfzeit zur Partei und SS bekannt hat und dass seine Redensarten nach meiner Überzeugung auf die mir bekannte Unüberlegtheit, Poltrigkeit und Streitsucht des T. zurückzuführen sind. Nur aus diesen Gründen habe ich mich dazu entschlossen, meine Entscheidung noch zurückzustellen und Turner die Möglichkeit zum Einsatz und zur Bewährung an der Front zu geben.
Gleichzeitig lasse ich mich hierbei von dem Gedanken leiten, dass Turner abseits von Ministerien, Stäben und dem Gerüchtenest Berlin in der gesünderen Luft der Front die Torheit seines diesmaligen und manches früheren Verhaltens einsieht und durch restlosen Einsatz an der Front die schwere Entgleisung, die er sich als hoher SS-Führer hat zuschulden kommen lassen, vergessen macht.
Die „Bewährung an der Front“ hatte Turner offensichtlich nicht in seiner Lebensplanung vorgesehen. Ihm gelang es, durch Krankheit seinen Einsatz noch in den letzten Kriegstagen erst hinauszuschieben und schließlich ganz zu verhindern. Wie sein Freund Hildebrandt Ende Januar 1945 angab, lag Turner (angeblich) mit einer schweren Thrombose zu Hause. Damit schaffte es Turner, der früher so gern Soldat war, in diesem Zweiten Weltkrieg nicht mehr Soldat werden zu müssen.
Turner überlebte den Krieg. Nach einer Fahrt durch das besiegte Deutschland mit dem Fahrrad zu seiner Familie in Schleswig-Holstein holte er sich eine Lungenentzündung und kam ins Krankenhaus in Flensburg. Von dort aus hätte er mit Hilfe eines englischen Offiziers gleichen Namens nach England fliehen können. Das lehnte er aber ab, da Turner der Auffassung war, sich in allen dienstlichen Angelegenheiten stets korrekt verhalten zu haben. Er kam dann in englische Kriegsgefangenschaft und wurde an Jugoslawien ausgeliefert. Dort machte man ihm zusammen mit anderen Verantwortlichen für die Massenmorde in Serbien den Prozess und verurteilte ihn als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt. Im März oder April 1947 wurde das Urteil vollstreckt und Turner in Belgrad hingerichtet.
Drei Vorträge von Joachim Hennig bei der Volkshochschule Koblenz zum Generalthema „Täter“
Teil 3:
Leonhard Drach (1903 – 1996)
Bei Turner ist man unwillkürlich erinnert an die Geheimrede des Reichsführers-SS Heinrich Himmler auf einer SS-Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943. Darin hieß es u.a.:
Ich will auch ein ganz schweres Kapitel (, will ich) hier vor Ihnen aus Offenheit nennen: Es soll zwischen uns ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir nicht in der Öffentlichkeit (nie) darüber reden. (…) Ich meine die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht: „Das jüdische Volk wird ausgerottet“, sagt Ihnen jeder Parteigenosse, „ganz klar, steht in unserem Programm drin, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir, pah, Kleinigkeit.“ Und dann kommen sie alle, alle die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Sagt: „Alle anderen sind Schweine, aber der ist ein prima Jude.“ Und so gesehen, es durchgestanden hat keiner.
Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1.000 daliegen und dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, hat uns hart gemacht und ist ein niemals genanntes und niemals zu nennendes Ruhmesblatt.
Mit Faust und Turner haben wir zwei typische NS-Täter kennen gelernt. Faust war der brutale Zuschläger und Sadist, der sich vor und nach seinen Prügelexzessen besoff. Turner war der kalte, „rationale“ Verwaltungsbeamte, der im Rahmen der „Großraumverwaltung“ den zig-tausendfachen Mord an Juden, „Zigeunern“ und Serben plante und organisierte und der sich über das Büchlein zu seinem 50. Geburtstag freute, „das eine willkommene Abwechslung in dem ewigen Einerlei des hiesigen Dienstes“ war. Sie beide, Faust und Turner, waren Exekutoren, gleichsam verlängerte Arme Hitler und seiner Nazis zur Ausübung politischer Gewalt. Diese - wenn Sie so wollen - „nackte“ politische Gewalt übte Faust in der Frühphase des Nationalsozialismus aus, und zwar nach innen gegenüber Kommunisten und anderen politischen Gegnern der Nazis in der „Kampfzeit“ und in der ersten Zeit nach der sog. Machtergreifung. Turner war in dieser Phase auch schon ein kleiner NS-Aktivist. Das Gepräge erhielt sein Tun aber im Zusammenhang mit der verbrecherischen NS-Expansionspolitik, mit der Großraumverwaltung und der Vernichtung von zig tausenden Juden, „Zigeuner“ und Serben in dem von Nazi-Deutschland im Rahmen des Zweiten Weltkrieges eroberten Serbien.
In der NS-Zeit gab es eine Anzahl solcher NS-Täter-Typen. Heute will ich Ihnen einen weiteren Täter vorstellen, der auch exemplarisch für einen Tätertyp steht und der im Rahmen des verbrecherischen NS-Systems eine typische Aufgabe hatte und diese typische Rolle auch spielte. Es ist Leonhard Drach, oder auch kurz Leo Drach. Drach gehört zu den Tätern, die das Internationale Militär-Tribunal in dem dritten der Nürnberger Folgeprozesse, dem sog. Fall 3, in dem Juristen angeklagt waren, wie folgt beschrieb:
Die Preisgabe des Rechtssystems eines Staates zur Erreichung verbrecherischer Ziele untergräbt dieses mehr als ausgesprochene Gräueltaten, welche den Talar des Richters nicht besudeln. (…)
Die Angeklagten sind solch unermesslicher Verbrechen beschuldigt, dass bloße Einzelfälle von Verbrechenstatbeständen im Vergleich dazu unbedeutend erscheinen. Die Beschuldigung, kurz gesagt, ist die der bewussten Teilnahme an einem über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und der Ungerechtigkeit unter Verletzung der Kriegsgesetze und der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts und unter Autorität des Justizministeriums mit Hilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen.
Diesem „Dolch des Mörders“, der „unter der Robe des Juristen verborgen“ war, wollen wir heute nachspüren. Und das soll hier anhand der Biografie von Leo Drach geschehen.
Leonhard Josef Hubert Drach wurde am 9. März 1903 in Aachen geboren. Sein Vater war Bankkaufmann. Drach wurde römisch-katholisch getauft und erzogen. Die Schule besuchte er in seiner Geburtsstadt Aachen, zunächst die Volksschule, dann das Gymnasium. Ostern 1921 legte er dort sein Abitur ab. Drach gehörte zur sog. Zwischenkriegsgeneration. Er war damals so jung, dass er – anders als Faust und Turner – nicht am Ersten Weltkrieg teilnahm. Die eine ganze Generation und darüber hinaus prägenden Erlebnisse vom Ersten Weltkrieg, mit dem Mythos des „Frontkämpfers“, den Stellungskriegen an der Westfront und den unermesslichen Weiten des Ostens sowie die oft sich anschließenden Aktivitäten in den Freikorps blieben Drach erspart oder – oder je nach Sicht der Dinge - versagt.
Stattdessen dürften die Folgen der militärischen Niederlage Deutschlands Drach geprägt haben: der Abschluss des Versailler Friedensvertrages, die Besetzung des Rheinlandes, vor allem durch die Franzosen, der „Ruhrkampf“, der passive Widerstand und die Inflation.
In dieser Zeit studierte er Rechtswissenschaften an den Universitäten Köln und Bonn. Er hatte sich dabei die von Aachen gesehen nächsten Universitäten ausgesucht – sicherlich auch ein Ausdruck dafür, dass es in diesen wirtschaftlich schweren Zeiten darum ging, möglichst kostengünstig zu studieren. Dem entsprach es auch, dass Drach schon sehr bald, nämlich am 25. Januar 1925, die Erste juristische Staatsprüfung in Köln ablegte – und zwar mit der deutlich herausgehobenen Gesamtnote „vollbefriedigend“. Drei Wochen später trat er dann in den juristischen Vorbereitungsdienst ein, den er in Aachen und Köln absolvierte, und bestand die Zweite juristische Staatsprüfung am 24. November 1928 mit dem deutlich schlechteren Ergebnis „ausreichend“. Im Mai 1929 wurde er als Gerichtsassessor bei der Staatsanwaltschaft Aachen angestellt. Mit Wirkung vom 1. April 1931 wurde Drach zum außerplanmäßigen ständigen Hilfsarbeiter im höheren Dienst bei der Staatsanwaltschaft in Trier ernannt. Noch im selben Jahr heiratete Drach Herta Frevert, eine Lehrerin an einer Musikhochschule, die später kaufmännische Angestellte war.
Ein gutes Jahr später, am 30. Januar 1933, kam es zur Machtübernahme der Nazis. Wie wir wissen, verfügte der greise Reichspräsident von Hindenburg sofort Neuwahlen. Die linken Parteien KPD, aber auch SPD wurden behindert, nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 wurde die KPD verboten. Viele Kommunisten, auch hier in Koblenz, kamen in sog. Schutzhaft. Die Nazis gewannen die Reichstagswahlen und bildeten mit der rechten „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ die Regierung der „nationalen Revolution“. Noch im März 1933 erließ die Reichsregierung die Verordnung über die Bildung von Sondergerichten und am selben Tag wurde das „Muster-Konzentrationslager“ Dachau bei München eröffnet. Am 24. März 1933 verabschiedete der zahlenmäßig dezimierte, eingeschüchterte und korrumpierte Reichstag das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das sog. Ermächtigungsgesetz, und schaffte sich damit selbst ab. Nachdem Hitler am 28. März 1933 zum Boykott gegen Juden aufgerufen hatte, begann am 1. April 1933 ein allgemeiner Judenboykott. Er richtete sich gegen jüdische Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte. Julius Streicher, Vorsitzender des „Zentralkomitees der NSDAP zur Abwehr der jüdischen Gräuel- und Boykotthetze“, drohte eine totale Vernichtung des Judentums an.
Mit Wirkung vom selben Tag, also vom 1. April 1933, erhielt Drach bei der Staatsanwaltschaft in Trier einen neuen Wirkungskreis. Er wurde Sachbearbeiter u.a. von Presse- und politischen Strafsachen. Dieses gerade in jener Zeit sehr wichtige Dezernat wurde Drach mit Sicherheit nicht ohne sein eigenes Zutun und ohne seine Sympathie für das neue Regime übertragen. Bereits seit dem 1. Januar 1932 war er mit diesen Angelegenheiten vertretungsweise betraut gewesen. Diese Arbeit in der Spätphase der Weimarer Republik, in der die Nazis immer stärker und unverschämter wurden, hatte Drach zur Zufriedenheit seines Vorgesetzten erledigt.
Im Hinblick auf eine planmäßige Anstellung als Staatsanwaltschaftsrat gab Drachs Vorgesetzter im August 1933 für ihn folgende Beurteilung über ihn ab:
Staatsanwalt Drach besitzt neben seiner fachlichen Eignung alle erforderlichen charakterlichen Eigenschaften für die Ausübung des von ihm angestrebten Amtes. Er ist ein pflicht- und verantwortungsbewusster Beamter, wie ihn der heutige Staat fordert, der es mit seinem Dienst ernst nimmt und jederzeit freudig und ohne Rücksicht auf seine Person seine Pflicht erfüllt. Er hat den Mut zur Verantwortung und trifft seine Entscheidungen zielbewusst, klar und bestimmt.
Staatsanwalt Drach ist im April 1933 der NSDAP beigetreten. Er ist national unbedingt zuverlässig und steht voll und ganz auf dem Boden des nationalsozialistischen Staates. Durch seine soziale Gesinnung und seine strenge Gerechtigkeitsliebe, die kein Ansehen der Person und des Standes kennt, hat er gezeigt, dass er im Volke wurzelt und nur Staat und Volk zu dienen bestrebt ist.
Das war sicherlich eine gute dienstliche Beurteilung für Drach. Da passte alles, auch dass er im April 1933 in die NSDAP eingetreten war. Diese Mitgliedschaft von Drach darf aber nicht zu der Annahme verleiten, nur solche Juristen seien damals in die NSDAP eingetreten, die besonders „zackig“ und Karriere bewusst waren wie er. Vielmehr war es so, dass sehr viele Juristen (Richter und Staatsanwälte) frühzeitig der NSDAP beitraten und im März („Märzgefallene“) oder im Mai („Maiveilchen“)1933 Mitglied wurden. Es gab einen richtigen Run auf die Mitgliedschaft, da nämlich im Mai 1933 von den Nazis ein Aufnahmestopp verfügt wurde. Diese frühen und überaus zahlreichen Parteieintritte sind umso bemerkenswerter, als gerade in konservativen und reaktionären Kreisen zu Beginn der Naziherrschaft durchaus Ressentiments gegen Hitler und seine „braunen Rabauken“ bestanden. Viele meinten, meinten Hitler „zähmen“ und sich dann seiner bedienen zu können, um dann die eigenen Interessen zu verfolgen. Dazu passt nicht, dass die Juristen geradezu in Scharen in die NSDAP eintraten. Um ein Schlaglicht auf diese Zeit und diese Verhältnisse zu werfen, möchte ich Ihnen einen Eindruck vom ersten Deutschen Juristentag nach der sog. Machtergreifung vermitteln. Dieser Juristentag fand Ende September/Anfang Oktober 1933 in Leipzig statt. Am Ende der mehrtägigen Veranstaltung versammelten sich zig tausende Juristen, Quellen sprechen von 12.300 bis zu knapp 20.000 Juristen, vor dem Reichsgericht in Leipzig und schworen einen Schwur, den Rütli-Schwur. Dieses Bild war dann die Titelseite des offiziellen Organs des Deutschen Richterbundes, der traditionsreichen Deutschen Richter-Zeitung. Sie zeigt diese Juristen beim Rütli-Schwur. Dieser Schwur hatte folgenden Wortlaut:
Wir schwören beim ewigen Herrgott,
wir schwören bei dem Geiste unserer Toten,
wir schwören bei all denen, die das Opfer einer
volksfremden Justiz einmal geworden sind,
wir schwören bei der Seele des deutschen Volkes,
dass wir unserem Führer auf seinem Wege als deutsche
Juristen folgen wollen bis zum Ende unserer Tage.
Das waren nun nicht alle Drachs, aber immerhin: Das wirft ein sehr bezeichnendes Licht auf diese sog. Richterpersönlichkeiten, die nach etwas mehr als einem halben Jahr Hitler persönlich ewige Treue schworen.
Um auf Drach zurückzukommen: Drach war mit Sicherheit auch auf diesem Juristentag. Und dieser Rütli-Schwur war für ihn kein Lippenbekenntnis. Drach war nicht nur Mitglied der NSDAP, sondern im Laufe der Jahre war er auch Mitglied der SA, SS-Fördermitglied, Mitglied des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes sowie der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, des Reichsluftschutzbundes, des Reichskolonialbundes und des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland.
Drachs Schaden war es nicht. Im März 1934 wurde er planmäßig zum Staatsanwaltschaftsrat bei der Staatsanwaltschaft Trier ernannt.
Drach hat sich voll in den Dienst von Partei und Staat gestellt. Er hat auch als SA-Mann seinen Dienst versehen. Als er im Jahr 1934 ernstlich krank wurde, musste er aber seine Mitgliedschaft in der SA beenden. Sein Vorgesetzter stellte dazu u.a. fest:
Sein Gesundheitszustand war eine Zeitlang schlecht. (…) Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass sich Drach nach meiner Meinung den Ausbruch der Krankheit durch seinen SA-Dienst, dem er körperlich nicht gewachsen war, zugezogen hat.
Damit aber nicht der Eindruck entstehen konnte, mit dem Austritt aus der SA habe sich Drach vom Regime distanzieren wollen, stellte sein Vorgesetzter im gleichen Schreiben fest:
Drach ist Mitglied der NSDAP und nach meiner Meinung auch wirklicher Nationalsozialist.
Mit diesem Urteil hat sein Vorgesetzter sicherlich richtig gelegen und Drach tat auch alles, um diesen Eindruck weiter zu verstärken. Dabei verlegte er sich von den wehrsportlichen Übungen und den Aufmärschen der SA mehr auf geistige und ideologische Unterstützung des Regimes. So war er seit 1933 kommissarischer Mitarbeiter im Gaurechtsamt sowie Stellvertreter des Kreisgruppenführers des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes und seit 1937 kommissarischer Kreis-organisations- und Propagandaleiter und ordentlicher Mitarbeiter im Gaurechtsamt – Abteilung Schulung. Bei so viel Engagement verwundert es nicht, wenn der Oberstaatsanwalt in Trier in seiner Personal- und Befähigungs-Nachweisung vom 23. November 1937 feststellte:
Ich halte ihn für einen überzeugten Nationalsozialisten, der sich stets in den Dienst der Partei stellen wird. In Parteikreisen ist Drach geschätzt und beliebt.
Nimmt es dann nicht wunder, dass Drach nach der Besetzung Luxemburgs maßgeblicher deutscher Staatsanwalt vor Ort wurde. Neben Verwaltungsaufgaben hatte Drach die Aufgabe, die Staatsanwaltschaft in den Sondergerichtsverfahren zu vertreten. Dieses war zuständig für:
„a) das Zusammenrotten auf der Straße, das unerlaubte Herstellen und Verbreiten von Flugschriften, das unerlaubte Veranstalten von öffentlichen Versammlungen und Aufzügen sowie die Beteiligung daran und deutschfeindliche Kundgebungen aller Art,
b) der unbefugte Besitz von Waffen,
c) die Veröffentlichung von dem Deutschen Reiche schädlichen oder von der Veröffentlichung ausgeschlossenen Nachrichten in Zeitungen und Zeitschriften,
d) die Verbreitung deutschfeindlicher Funknachrichten oder sonstiger deutschfeindlicher Nachrichten,
e) unbefugter Verkehr mit Kriegs- und Zivilgefangenen, die sich im Gewahrsam der Deutschen Wehrmacht oder der deutschen Behörden oder Beamten befinden,
f) die Arbeitseinstellung entgegen deutschen Interessen, die Aussperrung von Arbeitnehmern oder die Aufforderung zur Arbeitseinstellung oder Aussperrung.“
Des Weiteren musste das Sondergericht alle Strafsachen verhandeln, die die Staatsanwaltschaft bei dem Sondergericht anklagte. Das Sondergericht wandte deutsches Recht an. In leichten Fällen sollte es Geldstrafen aussprechen, ansonsten verhängte es Gefängnisstrafen und in schweren Fällen Zuchthausstrafen und sogar die Todesstrafe. Ein Jahr später wurde das Sondergericht in Luxemburg auch zuständig für die Verfahren, die eigentlich vor dem Volksgerichtshof anzuklagen gewesen wären, also auch für Hochverrat, Landesverrat und Angriffe gegen Hitler - sofern die Tat in Luxemburg begangen wurde. Damit diese Bestimmungen auf Luxemburg angewendet werden konnten, erklärte Simon für die erwähnten Straftaten Luxemburg zum Inland, in diesem Zusammenhang wurden die Luxemburger als deutsche – und nicht als ausländische - Staatsangehörige behandelt. Das Sondergericht konstituierte sich in diesen Fällen als Sondergericht/Volksgerichtshof.
Anfangs wurden vor dem Sondergericht leichtere Fälle verhandelt. Bei Durchsicht der Aussagen der luxemburgischen Zeugen fällt aber auf, dass Drach sehr oft eine härtere Bestrafung forderte, als nachher durch das Sondergericht verhängt wurde. So gab ein Angeklagter u.a. an: „Der Staatsanwalt schilderte mich als großen Deutschenfeind und forderte eine härtere Bestrafung.“ In der Sitzung vom 8. Oktober 1941 verhängte das Sondergericht – mit Drach als Sitzungsvertreter - erstmals Todesstrafe wegen Sprengstoffverbrechens und deutschfeindlicher Kundgebung. Dabei ging es um einen ganz harmlosen Fall.
Am 19. Januar 1942 tagte das Sondergericht Luxemburg erstmals als Volksgerichtshof. Angeklagt waren 13 Luxemburger, ein Hüttenarbeiter, ein Gendarm, ein Beamter, ein Gastwirt, Handwerker u.a. wegen Verabredung eines hochverräterischen Unternehmens in Tateinheit mit Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens, unerlaubter Herstellung und Verbreitung von Flugschriften, Verbreitung deutschfeindlicher Funknachrichten, unbefugten Waffenbesitzes und Abhörens nicht zugelassener Sender. Zwei von ihnen wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet, ein weiterer erhielt eine lebenslange Zuchthausstrafe, die anderen wurden mit drei bis 15 Jahren Zuchthaus bestraft. Vertreter der Anklagebehörde war in diesem Verfahren wie auch in allen weiteren 14 Verfahren des Sondergerichts als Volksgerichtshof Staatsanwalt Drach.
Diese 13 Luxemburger waren die ersten der Widerstandsbewegung „Letzeburger Freiheitskämpfer“. Diese Bewegung war wie ein Verein aufgezogen. Man druckte Flugblätter und verteilte sie. Auch sammelte man Geld, mit dem man die Familienangehöriger verhafteter Luxemburger unterstützte und mit dem man anscheinend auch Waffen kaufte. Es war aber nach den Angaben der Mitglieder kein bewaffneter Aufstand gegen die Besatzer geplant, die Intervention sollte erst bei der Befreiung des Landes erfolgen. Am 5. November 1941 wurden 30 Mitglieder der „Letzeburger Freiheitskämpfer“ durch die Gestapo verhaftet und dann in das Konzentrationslager Hinzert bei Hermeskeil verbracht. Dort wurden sie schwer misshandelt und auch verhört. Am 19. Januar 1942 begann der Prozess vor dem Sondergericht für die 13 Angeklagten. Er fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Er war richtiggehend inszeniert. So waren die Angeklagten etwa aneinandergekettet und streng bewacht. Drach war Anklagevertreter. Als Zeugen waren nur fünf Gestapobeamte zugelassen. Die Verhandlungen fanden nachmittags bis nachts statt. Für zwei Angeklagte beantragte Drach die Todesstrafe. Die Urteilsverkündung begann kurz nach Mitternacht des 23. Januar 1942. Das Datum war dabei mit Bedacht gewählt: Es war der Geburtstag der außer Landes geflohenen Großherzogin. Die beiden Hauptangeklagten wurden vom Sondergericht auch antragsgemäß zum Tod verurteilt und am 12. Februar 1942 in Köln-Klingelpütz hingerichtet.
Immer wieder gaben Überlebende solcher Sondergerichtsverfahren an, Drach habe die Todesstrafe für sie gefordert, sie seien aber „nur“ zu einer zeitigen Zuchthausstrafe verurteilt worden. In wichtigen Fällen legte Simon das Strafmaß selbst fest. So heißt es z.B. als Ergebnis einer Besprechung beim Gauleiter Simon im Mai 1942:
„a) für den Fall Müller und Hubert hält der Gauleiter die Todesstrafe für die gegebene Bestrafung,
b) im Falle Clesse ist er mit einer Bestrafung des Haupttäters von sechs bis zehn Jahren Zuchthaus einverstanden,
c) im Fall Bernardy erscheint eine Bestrafung von zwei bis drei Jahren Gefängnis am Platze,
d) im Falle Helten ist eine Zuchthausstrafe von bis zu zehn Jahren geboten.“
Mit der Arbeit Drachs war man sehr zufrieden. In einer Personal- und Befähigungs-Nachweisung des Generalstaatsanwalts Köln vom 30. Juli 1943 heißt es u.a.:
Drach ist seit dem 19. August 1940 zum Stabe des Chefs der Zivilverwaltung in Luxemburg abgeordnet und dort als mein örtlicher Vertreter in meiner Eigenschaft als Kommissar für die Staatsanwaltschaft tätig. Er hat sich bei Aufbau und Durchführung der deutschen Strafrechtspflege sowohl bei der Bearbeitung der Sondergerichtssachen (darunter mehrerer umfangreicher wegen Hochverrats) als auch insbesondere bei der Bearbeitung von Verwaltungssachen voll bewährt. Bei seiner Tätigkeit als mein örtlicher Vertreter hat er viel Geschick und Umsicht gezeigt. Drach besitzt ein ruhiges, bescheidenes und taktvolles Wesen. Er ist überzeugter Nationalsozialist, in Parteikreisen geschätzt und beliebt.
Zum 1. Februar 1941 war Drach mittlerweile zum Ersten Staatsanwalt in Koblenz befördert worden. Seine Abordnung nach Luxemburg blieb aber aufrecht erhalten. Ein Jahr später – am 30. Januar 1942 – wurde ihm für seine „Aufbauarbeit“ und seine „sachliche Erledigung politischer Strafverfahren“ das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse ohne Schwerter verliehen. Interessant ist auch eine dienstliche Beurteilung Drachs aus dem Jahr 1943. Darin heißt es u.a.:
Erster Staatsanwalt Drach ist weit über dem Durchschnitt befähigt und besitzt gute Gesetzes- und Rechtskenntnisse. Er ist äußerst fleißig und gewissenhaft. Neben einer guten Auffassungsgabe zeichnen ihn Entschlusskraft und –freudigkeit, sowie ein sicheres Urteil aus. Infolge seiner Gründlichkeit berücksichtigt er stets bei der Sachbearbeitung jeden in Frage kommenden Gesichtspunkt nach der rechtlichen und tatsächlichen Seite. Dieses restlose Ausschöpfen einer Sache in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht, das nicht in fruchtlose, theoretische Erörterungen ausartet, befähigt ihn, umfangreiche und rechtlich wie tatsächlich schwierige Sachen vorbildlich zu erledigen. Drach besitzt ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, das bei seinen gesamten Entscheidungen zum Ausdruck kommt. Sein mündlicher Vortrag ist gefällig, klar und erschöpfend, sein Auftreten vor Gericht sachgemäß und wirkungsvoll. Seine schriftlichen Arbeiten sind gut aufgebaut und durchdacht und in einem gewandten Stile zu Papier gebracht.
Diese und andere Fähigkeiten sollten Drach dann im September 1942 besonders zustatten kommen. Da erhielt er noch weitere Gelegenheit zur „sachlichen Erledigung politischer Strafverfahren“. Auslöser hierfür war die Verordnung des Reichsministers des Innern über die Staatsangehörigkeit im Elsaß, in Lothringen und in Luxemburg vom 23. August 1942. Darin war u.a. geregelt, dass diejenigen deutschstämmigen Luxemburger von Rechts wegen die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, die zur Wehrmacht oder zur Waffen-SS einberufen sind oder werden. Wenige Tage später, am 30. August 1942, wurde diese Regelung vom Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg durch die Anordnung über die Staatsangehörigkeit in Luxemburg, durch die Verordnung über die Wehrpflicht in Luxemburg und durch die Anordnung über wehrpflichtige Jahrgänge in Luxemburg umgesetzt. Dies rief bei der luxemburgischen Bevölkerung einmütige Entrüstung hervor. Einige Tage zuvor wurden auch Flugblätter verteilt, die zum Streik aufriefen. Viele Luxemburger wussten davon aber nichts.
Die Unmutsäußerungen begannen am Vormittag des 31. August 1942 an verschiedenen Orten in Luxemburg. Den Anfang nahmen sie offenbar in der Stadt Esch. Bald gab es sie aber auch in der Stadt Düdelingen und schließlich an zahlreichen anderen Orten.
In Wiltz nahmen Arbeiter einer Fabrik und Angestellte der Gemeindeverwaltung ihre Arbeit nicht auf. Sie formierten sich dann zu einem Protestzug. Die SA zerstreute die Demonstration und nahm zahlreiche Leute fest. Die Lehrer des Ortes nahmen nicht am Protestzug teil, beschlossen aber, an diesem Tag keinen Unterricht abzuhalten. Auch einige von ihnen wurden verhaftet.
Am selben Tag spielte sich folgendes in Echternach ab. Am Morgen des 31. August kam der Gymnasiallehrer Professor Alfons Schmit zum Schulunterricht ohne das obligatorische Abzeichen der „Volksdeutschen Bewegung“ im Knopfloch. Auch seine Schüler hatten das Abzeichen aus Protest gegen den Wehrpflicht-Erlass nicht angelegt; viele von ihnen mussten mit ihrer Einberufung zur deutschen Wehrmacht rechnen. In der daraufhin am selben Morgen einberufenen Lehrerkonferenz soll Professor Schmit nach den Bekundungen des deutschen Direktors erklärt haben, die Deutschen hätten ihre feierlichen Versprechen, die „Heimführung“ Luxemburgs erst nach der siegreichen Beendigung des Krieges durchzuführen, gebrochen.
Ebenfalls am 31. August legten der Dachdeckergeselle Emil Heiderscheid und sein Vater im eigenen Geschäft in Diekirch demonstrativ die Arbeit nieder. Der junge Heiderscheid radelte sodann durch den Ort. Dabei rief er mehreren Arbeitern einer Fabrik zu: „Arbeitet ihr heute?“ Noch am selben Abend nahm die Gestapo Heiderscheid fest.
Am 2. September 1942 schlossen im Hauptpostamt der Stadt Luxemburg einige junge Postbeamte die Tür des Hauptportals zu. Dann lauschten sie im Brieflagerraum dem Postangestellten Nikolaus Kons, als er aus einem alten Exemplar der Zeitung „Luxemburger Wort“ die Garantie-Erklärung Ribbentrops vom 10. Mai 1940 vorlas, dass Deutschland nicht die Absicht habe, durch seine Maßnahmen die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit des Großherzogtums jetzt oder in Zukunft anzutasten. Der Postangestellte Jean Schröder entleerte dabei etliche Verteiler-Fächer und warf die Post durcheinander. Am Nachmittag wurden Kons und Schröder verhaftet.
Nachdem diese Protestaktionen schon stattgefunden hatten bzw. während sie liefen, erließ Simon als Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg unter dem 31. August 1942 insgesamt vier Verordnungen über die Verhängung des zivilen Ausnahmezustandes. Dabei wurde dieser zivile Ausnahmezustand zunächst nur für die Stadt Esch verhängt (1. Verordnung), später auch auf die Stadt Düdelingen (3. Verordnung) und schließlich über das gesamte Gebiet von Luxemburg (4. Verordnung). Mit der Verhängung des Ausnahmezustandes ging die Einsetzung eines Standgerichts einher. Das geschah in der 2. Verordnung vom 31. August 1942. Da das alles so schnell ging und das Verordnungsblatt nicht so schnell gedruckt werden konnte wie sich die Unzufriedenheit unter den Luxemburgern ausbreitete, ließ Simon hierüber Plakate drucken und sie aufhängen. – Ein wesentlicher Punkt bei diesem Ausnahmezustand war die Einrichtung eines polizeilichen Standgerichts. Für dieses „Super-Sondergericht“ erließ Simon eine Art Verfahrensordnung. Danach wurde das Standgericht als polizeiliches Standgericht gebildet. Es sollte zuständig sein zur Aburteilung von Straftaten, die das deutsche Aufbauwerk gefährden. Simon behielt sich die Bestimmung der Handlungen vor, die unter das Standrecht fallen sollten. Es war also völlig willkürlich, welche Handlungen und welche Personen bei dem Standgericht angeklagt wurden. Das Standgericht konnte nur auf Todesstrafe, Überstellung an die geheime Staatspolizei oder Freispruch erkennen. Das Standgericht bestand aus einem Vorsitzer und zwei Beisitzern. Simon bestimmte den Führer des Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD in Luxemburg, einen gewissen Fritz Hartmann, der SS-Obersturmbannführer und Oberregierungsrat war, zum Vorsitzer des Standgerichts. Dieser berief dann die Beisitzer. Einer von ihnen war ebenfalls Obersturmbannführer, es war ein gewisser Albert Schmidt, der Kommissar bei der Geheimen Staatspolizei in Trier war. Der zweite Beisitzer war der Landgerichtsdirektor Adolf Raderschall. Und natürlich gab es auch – wie bei einem „richtigen Gericht“ (oder was meinen Sie dazu?) - einen Vertreter der Anklagebehörde. Und das war der uns inzwischen bekannte Staatsanwalt Leonhard Drach. Das Standgericht – so hieß es in der Verordnung von Simon weiter – bestimmte sein Verfahren selbst. Es hatte alles zu tun, war zur Erforschung der Wahrheit erforderlich war. Das Urteil und die Besetzung des Gerichts sowie eine kurze Urteilsbegründung waren schriftlich niederzulegen. Die Vollstreckung der Urteile war durch den Vorsitzer zu veranlassen. Zeit und Ort der Vollstreckung waren schriftlich niederzulegen. Die Urteile des Standgerichts waren nicht mit Rechtsmitteln anfechtbar. Die Urteile bedurften der Bestätigung durch Simon als Chef der Zivilverwaltung. Und schließlich: Die Verordnung trat mit sofortiger Wirkung in Kraft.
Die Druckerschwärze von dem Verordnungsblatt war noch nicht trocken, da fand auch schon die erste Sitzung dieses polizeilichen Standgerichts in der Nacht des 1. September 1942 in Esch statt. Überhaupt wurden fast alle Sitzungen des Standgerichts am späten Abend oder nachts abgehalten. Die meisten Angeklagten waren inzwischen ins Konzentrationslager Hinzert verschleppt worden. Ganz unvorbereitet wurden sie dann kurzfristig unmittelbar aus Hinzert abends dem Standgericht vorgeführt. Diese plötzliche und nächtliche Vorführung sollte auf die Angeklagten noch besonders schockierend wirken.
Der Vorsitzer des Standgerichts war von dem Chef der Zivilverwaltung instruiert, dass grundsätzlich nur die Todesstrafe zu verhängen sei. Dementsprechend stellte Drach – nach eigenen Angaben – auch seine Anträge. In keinem Fall erkannte das Standgericht auf Freispruch. In mehreren Fällen ordnete es jedoch die Einstellung des Verfahrens gemäß § 153 der deutschen Strafprozessordnung an. 31 Angeklagte wurden zur Überstellung an die Geheime Staatspolizei verurteilt. Das hatte „Schutzhaft“ mit Einlieferung in ein Konzentrationslager zur Folge. Die meisten von ihnen wurden erst ins KZ Hinzert eingeliefert und von dort aus nach einigen Monaten in ein bei Lublin in Polen gelegenes Konzentrationslager verschleppt. 20 Angeklagte wurden vom Standgericht zum Tode verurteilt. Bei diesen Verfahren handelte es sich nur dem äußeren Schein nach um ein gerichtliches Verfahren. Selbst ein deutscher Schulleiter, der als Zeuge gegen luxemburgische Lehrerkollegen aussagen musste, war bestürzt und beschrieb die Szene so: „Da sitzen drei Mann, die haben ein Dutzend Todesurteile in der Tasche und brauchen nur noch die Namen einzusetzen.“
Die Vollstreckung aller 20 Todesurteile fand meist schon am ersten Tag nach der Verurteilung im KZ Hinzert statt. Blutrote Plakate, die noch in der Nacht der Urteilsverkündung gedruckt und sogleich im ganzen Land aufgehängt wurden, verkündeten die Todesurteile und erklärten die Hinrichtungen für bereits vollzogen, auch wenn sie in Wirklichkeit erst ein oder zwei Tage später erfolgten.
Der Gauleiter Simon war mit der Arbeit des Standgerichts sehr zufrieden und äußerte sich anerkennend. Auch Drach bekam seine Anerkennung.
In der Folgezeit ging das Sondergericht Luxemburg seiner Tätigkeit nach und Drach war weiterhin örtlicher Vertreter des Kommissars für die Staatsanwaltschaft und Anklagevertreter vor dem Sondergericht in „normaler“ Zuständigkeit und in Volksgerichtshofs-Zuständigkeit.
Unterdessen kam es an 6. Juni 1944 zur Invasion der westlichen Alliierten in Dünkirchen/Nordfrankreich. Mitte August war der Weg nach Paris frei und am 25. August 1944 zog General Charles de Gaulle in Paris ein.
Da wurde der Boden in dem von Deutschland besetzten Luxemburg zu heiß. Voller Hektik wurden noch die letzten Verfahren vor dem Sondergericht durchgezogen. Allein in einer Woche – am 11., 13. und 18. Juli 1944 – tagte das Sondergericht in Volksgerichtshofs-Zuständigkeit dreimal. Es ging um die Aburteilung von 11 Luxemburgern, denen vorgeworfen wurde, junge, wehrpflichtige Luxemburger entweder versteckt oder über die Grenze geschleust und - im Falle eines Angeklagten – der belgischen Untergrundarmee zugeführt zu haben. Anklagevertreter war wiederum Drach. Als die Angeklagten die unter Folter und Misshandlung gemachten Angaben in der Hauptverhandlung widerriefen, bemerkte Drach voller Sadismus: „Es ist doch sonderbar, dass heute alles geleugnet wird; aber es langt trotzdem.“ Jede zehn Minuten brüllte er in den Saal: „Volksschädlinge müssen ausgerottet werden!“ Der Vorsitzer des Sondergerichts war nicht besser. Er hatte sich den Satz zurecht gelegt, den er immer wiederholte: „Meine Herren, Sie werden die Engländer nicht mehr sehen.“
Von diesen 11 Angeklagten wurden sieben zum Tode verurteilt und am 10. August 1944 hingerichtet. Die anderen vier Angeklagten wurden zu 10 bzw. neun Jahren Zuchthaus verurteilt. Einer von den zu Zuchthaus Verurteilten gab später an, Drach habe bei ihnen auf Todesstrafe plädiert, das Urteil des Sondergerichts sei dann aber milder ausgefallen. Die letzte Sitzung des Sondergerichts in „normaler“ Zuständigkeit fand am 3. August 1944 statt.
Mitte August 1944 haben dann die deutschen Richter und Drach Luxemburg verlassen. Drach hat noch dafür gesorgt, dass das Luxemburger Gefängnis vollständig von Häftlingen geräumt wurde. Die aus Sicht der Ankläger schwereren Fälle kamen nicht frei, sondern wurden ins KZ Hinzert verschleppt. Dann begab sich Drach nach Koblenz, schließlich hatte er hier seine Planstelle als Erster Staatsanwalt. Anfang September kehrte er nochmals kurz mit anderem Personal nach Luxemburg zurück und bemühte sich um die Rückführung der Häftlinge ins Luxemburger Gefängnis. Wenige Tage später mussten die deutschen Besatzer endgültig Luxemburg verlassen. Drach sorgte noch dafür, dass die wichtigen Gerichtsakten sowie Gefangene mitgenommen wurden. Im Hof des Landgerichtsgebäudes in Trier ließ Drach sehr, sehr viele Akten verbrennen. Andere Akten nahm er nach Koblenz mit. Ebenso wurden Häftlinge aus dem Luxemburger Gefängnis nach Koblenz gebracht. Hier in Koblenz war Drach auf seiner Planstelle als Erster Staatsanwalt beim Landgericht weiter tätig – und war auch Anklagevertreter bei hier gegen Luxemburger durchgeführten Strafverfahren.
Das Kriegsende hat Drach hier in Koblenz erlebt. Irgendwann im März 1945 kam die Tätigkeit der Gerichte zum Erliegen. Dann kam die Niederlage und die Kapitulation – für Drach offenbar überraschend, denn er hatte nach seinen Angaben noch bis in den April 1945 hinein an die Wende des Krieges geglaubt, da er den Erklärungen Hitlers über den bevorstehenden Einsatz neuartiger und durchschlagender Kampfmittel vertraut habe. Im Juni 1945 wurde das Landgericht Koblenz wiedereröffnet. Es war im heutigen Deutschland das erste Gericht, das seine Tätigkeit wieder aufnahm. – Auch Drach nahm seine Tätigkeit wieder auf – und zwar als Erster Staatsanwalt. Wegen seiner Zeit als Staatsanwalt in Luxemburg wurde er am 6. Februar 1946 interniert und am 4. April 1946 an Luxemburg ausgeliefert.
Die Luxemburger führten Ende der 1940er Jahre gegen Drach – wie im Übrigen auch gegen andere deutsche Juristen - wegen Drachs Tätigkeit als örtlicher Kommissar für die Staatsanwaltschaft und als Staatsanwalt in Verfahren vor dem Sondergericht einen aufwändigen Prozess durch. Mit Urteil vom 24. Juni 1949 wurde Drach in diesem so genannten Juristenprozess zu 15 Jahren Zwangsarbeit bzw. Zuchthaus verurteilt. - Während er seine Strafe in Luxemburg verbüßte, gab es dort gegen ihn und andere einen weiteren Prozess. Darin ging es um Drachs Tätigkeit als Ankläger in den Standgerichtsverfahren. In diesem Verfahren wurde er Ende 1951 in dem so genannten Standgerichtsprozess – unter Anrechung der ersten Strafe - zu 20 Jahren Zwangsarbeit bzw. Zuchthaus verurteilt.
Schon Anfang der 1950er Jahre arbeitete Drach an seiner Freilassung und an seiner Rehabilitation. Mitte 1951 verwandte sich der frühere Präsident des Oberlandesgerichts Köln Dr. Bergmann, der ebenfall von dem Luxemburger Kriegsverbrecherprozess zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war, für Drach bzw. Drachs Ehefrau beim rheinland-pfälzischen Justizministerium. Dieses teilte ihm mit, dass Drach als Beamter des Landes Rheinland-Pfalz gelte und für ihn das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen gelte. Man empfahl, dass sich Drach einem Säuberungsverfahren unterziehen solle, dann könnten ggf. Bezüge für Drachs Frau gezahlt werden. Das machte Drach dann auch. Während er in Luxemburg noch im Zuchthaus seine Strafe verbüßte, wurde das Säuberungsverfahren gegen ihn von der Spruchkammer in Koblenz am 30. September 1952 eingestellt. Grundlage dafür waren vor allem Aussagen von anderen deutschen Juristen, die seinerzeit in Luxemburg tätig waren, z.B. die des Generalstaatsanwalts Rahmel. Dazu heißt es in dem Säuberungsvorschlag u.a.:
Durch die Vernehmung des Generalstaatsanwalts Rahmel, der in dem Luxemburger Prozess (gemeint ist der Juristenprozess, Erg. d.Verf.) gleichfalls angeklagt und freigesprochen wurde, ist dargetan, dass der Betroffene annehmen konnte, dass die Anwendung des deutschen Rechts in Luxemburg rechtens sei. Der Zeuge schildert den Betroffenen als einen Beamten mit hohem Berufsethos, der sich in keiner Weise zu einer ungerechten Handlung hingegeben hätte. Gerade in Monsterprozessen, wo weit über 100 Angeklagte an dem Verfahren beteiligt gewesen seien, habe sich gezeigt, dass der Betroffene alle seine Entscheidungen gründlich und sachlich getroffen habe.
Auf Drachs Antrag hin reduzierten die Luxemburger seine Gesamtstrafe später auf 15 Jahre und begnadigten ihn schließlich. Zu Weihnachten 1954 wurde Drach aus dem Luxemburger Zuchthaus entlassen. Luxemburgs Staats- und Außenminister begründete diese Entscheidung so: „Drach wurde unter Anwendung von Menschlichkeitsmaßstäben, die ihm bei seiner eigenen Tätigkeit völlig fremd gewesen waren, begnadigt und in seine Heimat entlassen.“ Der luxemburgische Justizminister formulierte es später so: „Wir haben den Dreck über die Mosel abgeschoben.“
Dann war Drach wieder hier in Koblenz und er stellte alsbald einen Antrag auf Wiederverwendung im öffentlichen Dienst. Da er zuvor Erster Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Koblenz war, war das Land Rheinland-Pfalz, sprich: das Justizministerium, zuständig für die Entscheidung hierüber.
Meine Damen und Herren, hier wollen wir eine kleine Zäsur machen. Wir wollen uns einmal fragen, wie wohl das Justizministerium über diesen Antrag entschieden hat bzw. wie wir – wenn wir müssten – über diesen Antrag entscheiden würden.
Hierfür gebe ich Ihnen noch eine Information:
Wichtig ist in diesem Zusammenhang das bereits kurz erwähnte Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (kurz: G 131). Dieses Gesetz begründete hinsichtlich so genannter verdrängter Beamter eine Pflicht des früheren öffentlichrechtlichen Dienstherrn zur Unterbringung der Beamten zur Wiederverwendung. Gehen Sie bitte einmal davon aus, dass Drach so ein verdrängter Beamter war und dass das Justizministerium für die Entscheidung über die Wiederverwendung zuständig war.
Frage: Wie ist jetzt über den Wiederverwendungsantrag von Drach zu entscheiden?
Danach ist dem Antrag stattzugeben.
Frage: Kann das wahr sein?
Nein.
Frage: Warum nicht?
…………….
Frage: Gibt es noch eine Möglichkeit, dieses Ergebnis zu verhindern?
Eine solche muss es geben. Das G 131 kann ja nur die „Verdrängung“ „reparieren“, es kann aber nicht alle Verfehlungen und Verbrechen des früheren Beamten ausblenden.
Ja, richtig. Dazu noch eine weitere Information:
Das G 131 schließt eine Wiederverwendung des früheren Beamten aus, wenn er von einem Gericht zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und mehr verurteilt wurde bzw. wenn ihm die Rechte aus dem G 131 in einem förmlichen Disziplinarverfahren nach § 9 G 131 aberkannt wurden.
Frage: Wie sieht es damit aus? Liegen die Voraussetzungen hier vor?
Nein. Er ist zwar von einem Gericht – dem Luxemburger Gericht - zu einer Zuchthausstrafe von 20 Jahren (reduziert auf 15 Jahre) verurteilt worden. Das ist aber ein ausländisches Gericht. Das ist hier aber nicht maßgeblich. Es muss schon ein deutsches Gericht sein – und das war es hier nun nicht.
Frage: Kann man daran noch etwas ändern? Vielleicht eine analoge Anwendung der Vorschrift auch auf Urteile ausländischer Gerichte?
Nein. Das geht nicht.
Frage: Könnte man nicht daran etwas ändern, dass man gegen Drach ein Strafverfahren vor einem deutschen Gericht oder ein Disziplinarverfahren einleitet?
Das ist nicht durchgeführt. Es fragt sich aber, ob man nicht ein solches durchführen sollte, um dann eine Handhabe gegen Drach zu haben.
Frage: Wie sind die Erfolgsaussichten eines solchen Strafverfahrens oder Disziplinarverfahrens? Was könnte denn Drach begangen haben?
Er könnte als Staatsanwalt eine Verfolgung Unschuldiger begangen haben (§ 344 StGB) oder er könnte Teilnehmer an den Straftaten des Sondergerichts und des Standsgerichts gewesen sein. Wenn das Gericht eine Rechtsbeugung oder durch die Verurteilung der Angeklagten zum Tode einen Mord begangen hat (denken Sie an das Bild aus dem Nürnberger Prozess: „Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen.“), dann käme für Drach als Staatsanwalt eine Anstiftung oder Beihilfe zum Mord in Betracht.
Frage: Was halten Sie davon?
Weitere Information: Gehen Sie davon aus, dass das Justizministerium das geprüft hat und für sich damals zu dem Ergebnis gekommen ist, dass ein solches Verfahren wohl nicht zum Erfolg führen wird.
Frage: Wenn man das verneint, gibt es denn dann nicht noch eine Möglichkeit, eine Wiederverwendung im öffentlichen Dienst auszuschließen?
Man könnte daran denken, dass man Drach die Eignung als Beamter abspricht. Man könnte ja von einem Beamten verlangen, dass er auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes steht. Dieses Merkmal ist zwar nicht im G 131 enthalten, aber auf die Idee so etwas zu fordern, kann man schon kommen. Das wäre auch nichts Neues. Seit Anfang der 1950er Jahre haben die Verwaltungen Antifaschisten und Emigranten, die nach ihrer Verfolgung bzw. nach der Rückkehr aus dem Exil Kommunisten waren, diese – sofern sie überhaupt Beamte geworden waren – aus dem Beamtenverhältnis entlassen bzw. nicht übernommen. Und die Gerichte haben das bestätigt. Das gleiche könnte man auch bei einem so fanatischen Nazi wie Drach machen.
Frage: Wenn man das so sieht, wie sieht das bei Drach aus?
Schlecht für ihn. Ihm wird man die Eignung als Staatsanwalt in einer (jungen) Demokratie absprechen müssen. Zwar wird man das nicht allein deshalb machen können, weil er an den Urteilen in Luxemburg mitgewirkt hat. Das ist ja nun Vergangenheit. Es kommt hier auf die aktuelle – charakterliche – Eignung an. Aber diese wird man ihm absprechen müssen, solange er nicht sein schweres „Fehlverhalten“ in Luxemburg eingesehen hat, solange er sich nicht nachvollziehbar und dauerhaft davon distanziert und eine demokratische Gesinnung dokumentiert hat. Ein „Weitermachen“ und larmoyantes Herumnörgeln an den ihm zugefügten „Ungerechtigkeiten“ reicht da bei weitem nicht.
Information: Die zuletzt angesprochene charakterliche Eignung Drachs war für das Ministerium seinerzeit kein Problem. Schon auf die Idee, dies zu problematisieren, ist seinerzeit niemand gekommen.
Fazit: Wenn das alles nicht greift, dann ist Drach in der Tat wieder zu verwenden. So ist es dann auch gekommen. Das Justizministerium hat noch versucht, ihn in Nordrhein-Westfalen unterzubringen. Man wollte das im Austausch machen. Die Nordrhein-Westfalen hatten auch so einen. Der sollte dann im Austausch anstelle von Drach in Rheinland-Pfalz arbeiten. Das „Geschäft“ zerschlug sich aber. So blieb dem Justizministerium – nach dessen damaliger Einschätzung - nichts anderes übrig, als Drach in Rheinland-Pfalz zu beschäftigen. Mit Verfügung vom 18. Januar 1956 gab der damalige Ministerpräsident Peter Altmeier auf Vorschlag des Justizministers Becher Drachs Wiederverwendungsantrag statt. Man schaffte es lediglich, ihn nicht wieder in Koblenz einzusetzen. Drach wurde ab dem 1. Februar 1956 Hilfsstaatsanwalt beim Landgericht in Frankenthal in der Pfalz.
Drach war offensichtlich ein Gewinn für die rheinland-pfälzische Rechtspflege. In einer dienstlichen Beurteilung Drachs vom 5. Januar 1957 heißt es u.a.:
Er ist ein besonders befähigter, recht beweglicher, klar denkender Staatsanwalt alter Schule, der rasch das Wesentliche erkennt und herausstellt, und mit entsprechender Entschlusskraft ein zielsicheres Urteil und (?) Rechtsempfinden verbindet. (…) Er verfügt über ein gediegenes Allgemeinwissen und ist (? und) musikalisch sehr interessiert und beschlagen. Lobend hervorzuheben ist seine volle Einsatzbereitschaft und sein (?) Fleiß, der jüngeren Beamten als Vorbild dienen kann. Die Rechtskenntnisse sind recht gut. (…) Sein hohes Verantwortungsbewusstsein führt ihn von morgens bis in die späten Abendstunden an seinen Schreibtisch. (…) In der Ausbildung der Referendare gibt Drach sein Bestes.
Die gesamten Leistungen des uneingeschränkt leistungsfähigen Staatsanwalts übersteigen den Durchschnitt ganz erheblich. Eifer, Fleiß und Leistungen verdienen uneingeschränkt das Gesamtprädikat: „vollbefriedigend bis gut“.
Drach ist ein aufgeschlossener, bescheidener, stets gleich bleibend freundlicher Mensch, von offenem, durchaus anständigem Charakter und sehr gediegener Lebensauffassung. (…) Nach seinen Fähigkeiten, Kenntnissen und Leistungen halte ich Drach, der viel Bitteres durchgemacht hat und als Spätheimkehrer gilt, für die baldige Einweisung in die Stelle eines Ersten Staatsanwalts ganz besonders geeignet.
So kam es dann auch. Am Verfassungstag des Jahres 1957 wurde Drach wieder als Erster Staatsanwalt in den Landesdienst übernommen. - Doch damit nicht genug. Drei Jahre später, am Verfassungstag des Jahres 1960, wurde Drach noch zum Oberstaatsanwalt befördert.
Im Rahmen eines Strafverfahrens gegen den früheren rheinland-pfälzischen Finanzminister Nowack, bei dem Drach die Anklage vertrat, kam Ende 1964 die „Sache Drach“ wieder ans Tageslicht und diesmal in die Öffentlichkeit. In einem „offenen Brief“ klagte Nowack die rheinland-pfälzische Justiz an, sie habe
wissend um die Verbrechen des Drach (…) eine bestürzende Kameraderie betrieben, die diese Verbrechen zum mindesten verschleiert, sie entschuldigt oder gar als solche leugnet. (Sie habe) diesen Leon Drach (…) wieder in den Kreis ihrer Richter und Staatsanwälte eingereiht, so als ob nichts oder schlimmstenfalls ein pensionsfähiges „Kavaliersdelikt“ vorläge. (…) Ich lehne es ab, mich von einem Kriegsverbrecher anklagen zu lassen.
Das gab dann ein bisschen Unruhe, ein bisschen Hin und Her, Entrüstung in Luxemburg und Erklärungen des damaligen Justizministers Schneider (FDP). Er erklärte z.B., Drach habe in keinem Fall an einem exzessiven Urteil, d.h. an einem Urteil, das rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechen würde, mitgewirkt; er habe lediglich das damals für Luxemburg in Geltung gesetzte deutsche Recht angewendet. Der vom Landtag eingesetzte parlamentarische Untersuchungsausschuss förderte nicht viel mehr zu Tage als ohnehin bekannt war. Der Ausschuss monierte lediglich, dass Drach nun gerade wieder als Staatsanwalt und als Anklagevertreter verwendet wurde. Man hätte ihm ja auch einen weniger spektakulären Posten übertragen können. Das Ergebnis war dann auch recht bescheiden. Es bestand zum einen in einer Entschuldigung an die Luxemburger für die im deutschen Namen in Luxemburg geschehenen Verbrechen. Und zum anderen in einer mehr oder minder einvernehmlichen Versetzung Drachs mit 63 Jahren in den Ruhestand. Der Drach dabei vertretende Rechtsanwalt, der schon in den Luxemburger Prozessen sein Verteidiger war, erreichte dann noch eine Ehrenerklärung des Justizministers Schneider. In ihr heißt es:
Die Urkunde des Herrn Ministerpräsidenten über die Ruhestandsversetzung des Herrn Oberstaatsanwalts Drach zum 30. April 1966 habe ich heute dem Herrn Generalstaatsanwalt in Zweibrücken zur Zustellung an Herrn Drach übersandt. Unter Bezugnahme auf Ihr Schreiben vom 5. Januar 1966 darf ich dazu erklären.
Herr Drach hat sich unmittelbar vor und bei seiner Wiedereinstellung als Staatsanwalt in den Dienst des Landes Rheinland-Pfalz durchaus (gestrichen: völlig) korrekt verhalten; er hat weder falsche Angaben gemacht noch etwas verschwiegen. Seine Tätigkeit während des Krieges in Luxemburg und seine Verurteilungen durch den Luxemburgischen Gerichtshof für Kriegsverbrechen waren der Justizverwaltung bekannt. Die Amtsführung des Herrn Drach nach seiner Wiedereinstellung (Ergänzung: im Jahre 1956) war nie zu beanstanden. In der Tätigkeit als Vertreter des Leitenden Oberstaatsanwalts in Frankenthal hat er sich (gestrichen: in jeder Hinsicht) bewährt. Nach dem Urteil des zuständigen Generalstaatsanwalts gehörte er zu den besten Kräften im staatsanwaltschaftlichen Dienst des Oberlandesgerichtsbezirks Zweibrücken. Mit vorzüglicher Hochachtung.
Drach war dann noch ein langes Leben und ein langer Genuss seiner Pension als „Staatsdiener“ beschieden. Leonhard Drach starb im Alter von fast 93 Jahren am 12. Januar 1996 in Ludwigshafen am Rhein.