Dr. Robert Ley (1890 - 1945) war eine wichtige Figur im aufkommenden Nationalsozialismus in Koblenz und Umgebung war Gauleiter Dr. Robert Ley. Im Oberbergischen Land geboren, studierte er Chemie und nach dem I. Weltkrieg, in dem er schwer verwundet wurde, war er bei Bayer Leverkusen beschäftigt. 1924 wurde er Mitglied der NSDAP und 1925 Gauleiter von Rheinland-Süd. Er war ein fanatischer Redner und Antisemit und organisierte im Koblenzer Raum Übergriffe und Saalschlachten. Mit dem Aufstieg Gustav Simons musste er sich zurückziehen. Der Gau wurde geteilt, Ley erhielt den nördlichen Teil. Später wurde Ley Reichstagsabgeordneter, Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Organisator der Deutschen Arbeitsfront (DAF). Im Mai 1945 wurde er von den Amerikanern verhaftet und im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess angeklagt. Vor dem Urteil beging er in der Haft Selbstmord.
Joachim Hennig: Verfolgung und Widerstand in Koblenz 1933 – 1945
VHS-Wintersemester 2008/09
Drei Täter (Teil 1)
Dr. Robert Ley (1890 – 1945)
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich sehr, Sie heute zum ersten Vortrag der dreiteiligen Reihe über NS-Täter aus Koblenz und Umgebung begrüßen zu können. Viele von Ihnen sind ja inzwischen treue Hörer und – wenn ich das so sagen darf – Fans geworden. Andere sind jetzt neu dazu gekommen. Ihnen allen ein herzliches Willkommen!
Es ist inzwischen die 8. Kampagne der Vortragsreihe „Verfolgung und Widerstand in Koblenz und Umgebung 1933 – 1945“. Der Start war im Wintersemester 2001/2002. Dann haben wir jedes Wintersemester die Reihe fortgesetzt und sind jetzt im 8. Jahr. Wir haben lange durchgehalten – und ich hoffe, es ist Ihnen nicht langweilig geworden. Ich wünsche uns allen, dass es in diesem Semester so bleibt.
Ich habe mich bemüht, Ihnen auch diesmal wieder eine interessante und abwechslungsreiche Mischung zusammenzustellen. Beginnen möchte ich heute mit dem Gauleiter Dr. Robert Ley. In zwei Wochen, am 27. November, werde ich einen Kriminalbeamten und späteren Leiter des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz, Georg Heuser, porträtieren und dann zwei weitere Wochen später, am 11. Dezember 2008, präsentiere ich Ihnen einen Juristen, der seine Karriere beim Landgericht in Koblenz begann und während des Krieges beim Volksgerichtshof tätig war.
Beginnen möchte ich heute mit dem Gauleiter Dr. Robert Ley. Wer von Ihnen ein gutes Gedächtnis hat, erinnert sich noch daran, dass ich das letzte Mal den Gauleiter Gustav Simon porträtiert und dabei gesagt habe, Simon sei der erste und letzte Gauleiter des Gaues Koblenz-Trier-Birkenfeld (später: Gau Moselland) gewesen. Wenn das richtig ist – und das ist richtig -, dann fragt man sich, wie denn Ley ebenfalls zuständiger Gauleiter von Koblenz und Umgebung sein konnte. Nun, meine Damen und Herren, das werden wir gleich sehen – haben Sie etwas Geduld.
Der hier porträtierte Robert Ley war eine äußerst schillernde Person. Während des Dritten Reiches galt er – als Leiter der Deutschen Arbeitsfront - als einer der fünf ranghöchsten NS-Führer, als Mann mit einer gewaltigen Machtfülle und als Mitglied jener auserlesenen Gruppe, die Hitlers engstes Gefolge bildete. Nach dem Untergang des Dritten Reiches machten sich die überlebenden NS-Größen über Ley lustig. Der frühere Reichsfinanzminister Schwerin von Krosigk nannte ihn den „Ochsenfrosch der Partei. Er hatte sich derart aufgepumpt und ließ eine so gewaltige Stimme ertönen, dass man glauben sollte, er sei ein großes Tier“. Walter Darré, der frühere Leiter des Reichsnährstandes bezeichnete ihn als „lächerlichen Kobold“, Für Albert Speer, der die Kriegswirtschaft des Dritten Reiches organisierte, war Ley ein „gemeiner Trunkenbold“ und der ehemalige Pressesprecher des Regimes, Otto Dietrich, nannte ihn einen „geistlosen Schwätzer“. – In seiner Hoch-Zeit, in den 1930er Jahren, bezeichnete ihn ein amerikanischer Korrespondent in Berlin als „einen hart durchgreifenden, trinkfreudigen, fähigen Funktionär, der seinem Führer fanatisch ergeben war.“ Ley war ein Fanatiker, ein Idealist und seinem „Führer“ Adolf Hitler sklavisch ergeben. Schon früh war er zur „Bewegung“ gekommen, war ein „alter Kämpfer“ und diese „Kampfzeit“ fand hier in Koblenz und Umgebung statt.
Geboren wurde Robert Ley im Bergischen Land, in dem Dorf Niederbreidenbach im Oberbergischen Kreis, östlich von Köln, am 15. Februar 1890. Er war das siebte von elf Kindern des Landwirts Friedrich Ley. Der Vater war in dieser damals recht armen Gegend dank des Fleißes seiner Vorfahren und im Wege des Erbgangs zu einem beträchtlichen Reichtum gekommen. Der Vater vermochte das Vermögen aber nicht zu vermehren oder auch nur zu erhalten. Durch geschäftliche Ungeschicklichkeiten kam es zum Niedergang. In seiner Verzweiflung zündete der Vater den eigenen Hof an – um dann die Versicherungssumme zu kassieren. Die Tat wurde aufgedeckt, der Vater verhaftet, vor Gericht gestellt und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Die Familie stürzte mit einem Schlag in bittere Armut. Damals war Robert 6 ½ Jahre alt und dieses Erlebnis zeichnete ihn für sein ganzes Leben. Dieser soziale Abstieg wurde ihm zum Trauma, stets blieb er äußerst empfindlich in Bezug auf seine soziale Stellung und entwickelte ein heftiges Geltungsbedürfnis.
Einen Ausweg aus dieser Misere sah der junge Ley für sich nur in der Aneignung von Bildung. Mit acht Jahren begann er mit der Volksschule und wechselte dann auf weiterführende Schulen – was damals für Jungen aus kleinen Verhältnissen durchaus ungewöhnlich war – und zwar besuchte er die Realschule und dann die Oberrealschule in Elberfeld. Im Jahr 1910 machte er schließlich sein Abitur. Anschließend studierte er Naturwissenschaften, zuerst in Jena, dann in Bonn und schließlich in Münster, wo er sich auf Chemie spezialisierte.
Als sich Ley auf das Staatsexamen vorbereitete und auch schon an seiner Dissertation schrieb, brach im August 1914 der Erste Weltkrieg aus. Sofort meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. Zuletzt war er in einem Flugzeug in Frankreich hinter den feindlichen Linien Artilleriebeobachter. Bei einem – wie er es später nannte – selbstmörderischen Einsatz geriet das Flugzeug mit britischen Jagdfliegern in einen Luftkampf. Dabei wurde Ley schwer verwundet, sein Flugzeug machte eine Bruchlandung, Ley geriet in französische Kriegsgefangenschaft. Es folgten sechs Operationen unter primitiven Verhältnissen. Zurückblieben eine Hirnverletzung und ein Dauerschaden, der zu Stottern und Alkoholabhängigkeit führte. Das war das zweite Trauma, das Ley ein Leben lang belasten sollte.
Nach 2 ½ jähriger Kriegsgefangenschaft kehrte Ley im Januar 1920 nach Deutschland zurück. Erstaunlich schnell setzte er sein Studium fort und promovierte. Bald erhielt er eine gut bezahlte Stellung als Lebensmittelchemiker beim Chemiekonzern IG Farben in Leverkusen.
Diesem beschaulichen bürgerlichen Milieu kehrte Ley drei Jahre später – im Jahre 1924 – immer mehr den Rücken und schloss sich den Nationalsozialisten an. Damals waren die Nazis – zumal in dem von den Franzosen besetzten Rheinland – ein kleiner versprengter Haufen. In Koblenz war – was ich hier am Rande erwähnen möchte – von der NSDAP noch gar keine Rede. Und selbst in Köln war die NSDAP eine unbedeutende Gruppe. Im August 1921 hatte ein Schreinermeister die Gründung der Partei dort offiziell verkündet. Es dauerte aber noch ein knappes Jahr, bis die Parteizentrale in München die Existenz der Gruppe zur Kenntnis nahm und dann durch einen von ihr Beauftragten die Ortsgruppe in Köln offiziell „gründete“. Die Situation verschlechterte sich dann noch für die Nazis, als die Partei im November 1922 durch den preußischen Innenminister verboten wurde. Nach dem sog. Marsch auf die Feldherrnhalle im November 1923, dem anschließenden Strafverfahren gegen Hitler und seiner Festungshaft verfiel die NSDAP auch im Rheinland immer mehr. Es entstanden nationalsozialistisch-völkische Splittergruppen. Wie es um diese Gruppen und Grüppchen stand, machen die folgenden Wahlergebnisse bei den Reichstagswahlen im Mai 1924 deutlich: Während die nationalsozialistisch-völkische Allianz im gesamten Reich immerhin auf 6,5 Prozent kam, erreichte sie im Wahlkreise Köln-Aachen 1,5 Prozent und im Wahlkreis Koblenz-Trier gar nur 1,3 Prozent der Stimmen.
In dieser Situation stieß nun Ley zu den Kölner Nazis. Dort entdeckte man sein Rednertalent und spannte ihn gleich in die Reichstagswahl und die Preußische Landtagswahl am 7. Dezember 1924 ein. Das Wahlergebnis fiel für die Nazis zwar schlecht aus, aber nur wenige Tage später – am 12. Dezember 1924 – wurde in Preußen das Verbot der NSDAP wieder aufgehoben. Zudem entließ man nur wenige Tage später Hitler aus der Festungshaft.
Der Bruch in Leys Biografie mit der Hinwendung zu den Nazis ist sehr bemerkenswert. Immerhin hatte er nach den furchtbaren Kriegserlebnissen in einem beschaulichen, bürgerlichen Milieu Halt gefunden. Er war inzwischen verheiratet und aus der Ehe war wohl schon eine Tochter hervorgegangen. In dieser Situation schloss er sich mit großem Engagement dem versprengten Nazi-Haufen an. Später beschrieb Ley diese Phase so:
Eine innere Stimme trieb mich wie ein gehetztes Wild. Obwohl meine Vernunft mir davon abriet und meine Frau und meine Familie mich immer wieder baten, von meinem politischen Treiben zu lassen und zu einem normalen, bürgerlichen Leben zurückzukehren, befahl mir diese innere Stimme: „Du musst! Du musst!“
Der Bruch in Leys Biografie lässt sich wohl wesentlich damit er klären, dass er ein fanatischer Anhänger Hitlers wurde. Später sagte Ley einmal:
Als ich in den Krieg zog, war ich ein gottloser Mensch… Als der Krieg vorbei war…, kam ich als gottloser Mensch nach Hause. Ich war noch hoffnungsloser geworden… Heute glaube ich an einen Gott und weiß, es gibt einen Herrgott im Himmel,…Dieses Wissen um einen Gott, diesen Glauben an einen Gott habe ich nicht durch die Kirche bekommen, sondern allein durch Adolf Hitler… Ich glaube auf dieser Erde allein an Adolf Hitler. Ich glaube, dass es einen Herrgott gibt, der uns liebt und Adolf Hitlers Arbeit mit Erfolg segnet.
Der Erfolg für Adolf Hitler blieb allerdings in den nächsten Jahren noch aus. Denn während sich Ley für die Nazis engagierte, begannen mit der Reform der Währung, dem Dawes-Plan und dem dadurch bedingten Zustrom amerikanischer Dollars, dem Vertragswerk von Locarno, mit Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund und dem Ende der Ruhrbesetzung die guten Jahre der Weimarer Republik. Es schien, dass sich die junge deutsche Republik innenpolitisch stabilisierte und außen-politisch an Ansehen gewann. Hinzu kam, dass Hitler in vielen deutschen Staaten, darunter auch in Preußen, Redeverbot hatte.
In dieser Zeit schaffte Ley den Aufstieg in der NSDAP. Das geschah zunächst im Gau Rheinland. Dieser Gau setzte sich aus den beiden Wahlkreisen Köln-Aachen und Koblenz-Trier plus Birkenfeld zusammen. Der Gau war in sozialer und politischer Hinsicht recht heterogen: Im dicht bevölkerten nördlichen Teil dominierte die Arbeiterschaft, dort wählte man traditionell sozialdemokratisch und kommunistisch. Der südliche Teil, zu dem Koblenz und Umgebung gehörten, war dünn besiedelt und ländlich strukturiert. Hier hatte die Zentrumspartei ihre Bastionen. Der Gau gehörte aus der Sicht der NSDAP zu den schwächeren. Die Mitgliederzahl betrug im August 1925 335 und im Dezember 1925 868, bis August 1926 kamen noch 400 dazu. Selbst während der Weltwirtschaftskrise, im Jahre 1931, hatte der Gau erheblich weniger als 10.000 Mitglieder. Bei den Reichstagswahlen von 1928 und 1930 errang die NSDAP in den Wahlkreisen Köln-Aachen und Koblenz-Trier einen deutlich geringeren Stimmenanteil als im Reichsdurchschnitt.
Trotz dieser sehr großen Hindernisse machte sich Ley unverdrossen an die Parteiarbeit. Zunächst wurde er Ortsgruppenleiter von Wiesdorf, einem Ort bei Köln, und dann sehr bald schon stellvertretender Gauleiter. Der Durchbruch gelang ihm, als ihm sein Duzfreund, der Gauleiter und inzwischen zum Reichstagsabgeordneten gewählte Heinz Haake, am 1. Juni 1925 folgenden Brief schrieb:
Es ist mir nun einfach unmöglich bei meiner häufigen Abwesenheit vom Rheinland, den Gau so weiter zu führen, wie es für die Bewegung notwendig ist… Aus diesem Grunde bitte ich Dich, den Posten eines Gauführers an meiner Stelle zu übernehmen… Annehmen musst Du, denn Du bist der einzige Mann dazu; sonst geht die Bewegung im Rheinland zugrunde.
Alsbald erhielt Ley einen am 14. Juli 1925 ausgestellten und von Hitler unterzeichneten Ausweis, in dem Hitler erklärte, Ley sei an die Stelle Haakes getreten und werde von ihm „als verantwortlicher Führer dieses Gaues bis zu einer späteren endgültigen Regelung bestätigt“. Wenn Ley damit auch nur vorläufig zum Gauleiter ernannt wurde – seine offizielle Ernennung folgte erst im September 1928 -, so begab er sich doch gleich an die Arbeit. Der dahinsiechenden Gauzeitung „Westdeutscher Beobachter“ verhalf er zu neuem Leben und bemühte sich, den ganzen Gau mit einem Netz von Ortsgruppen zu überziehen. Außerdem war Ley ein guter Redner – nicht im herkömmlichen Sinne einer gewandten Rhetorik (dies war ihm wegen seines Stotterns und Stammelns unmöglich), sondern vielmehr im neuen national-sozialistischen Stil emotionaler Demagogie. Das war für Hitler und die NSDAP sehr wichtig, hatte Hitler doch auch in Preußen Redeverbot.
In dieser Zeit entfalteten die Nazis auch in Koblenz ihre ersten Aktivitäten. Eine der treibenden Kräfte war selbst hier der Gauleiter Ley. Er war inzwischen berüchtigt für seine Versammlungen, bei denen es immer häufiger zu brutalen Auseinandersetzungen kam. Im Herbst 1925 hielt er in Koblenz eine Versammlung ab, die dadurch bekannt wurde, dass er auf dieser den ermordeten Außenminister Walter Rathenau beleidigte. Das anschließende, wegen des Verstoßes gegen das Republikschutzgesetz eingeleitete, Strafverfahren wurde später wegen Mangel an Beweisen eingestellt.
Immer aggressiver wurde auch der von Ley inzwischen übernommene „Westdeutsche Beobachter“. Die Situation illustriert auch ein vom städtischen Verkehrsamt organisierter Reklameumzug der Gewerbetreibenden durch Koblenz in der Adventszeit 1926. Am Schluss des Zuges ließen die Nazis nämlich einen nicht zugelassenen Wagen mitlaufen, der die Aufschriften trug: „Deutsche, macht Eure Weihnachtseinkäufe nicht bei Juden“ – Deutsche, kauft nur bei Christen“ und „Meidet den Warenhausjuden“.
Wenige Wochen später kam es zum „Schwarzen Sonntag von Nastätten“. Zu seiner Vorgeschichte gehört, dass die Nazis im Taunus Anfang 1927 Anstrengungen unternahmen, Fuß zu fassen. Deshalb sollte Ende Februar 1927 eine Kundgebung der Nazis stattfinden. Dazu kam es aber nicht, weil zwei jüdische Bürger von Nastätten und der Bürgermeister das verhindern konnten. Im Gegenzug lud einer der beiden Juden für den 6. März 1927 zu einer öffentlichen Versammlung in den Saal eines Hotels am Ort ein. Das Thema der Veranstaltung lautete: „Das wahre Gesicht des Nationalsozialismus“. Am Tag zuvor war Ley auf einer Propagandareise in Koblenz und erfuhr von dieser Versammlung. Das war für ihn ein „gefundenes Fressen“. Er mobilisierte ganz kurzfristig ein großes Aufgebot von Parteimitgliedern, SA- und SS-Leuten, lud diese auf zwei Lastwagen und fiel in das Städtchen ein, um die geplante Veranstaltung zu stören. Dazu kam es aber nicht. Denn zuvor hatte die örtliche Polizei in Nastätten die Versammlung wegen starken Andrangs aufgehoben und den Saal räumen lassen.
Als die Leute gerade aus dem Saal hinausströmten, marschierten etwa 150 Nationalsozialisten mit Ley an der Spitze in Nastätten ein. Ley kehrte nicht etwa unverrichteter Dinge um, sondern entschloss sich, im Saal des Städtchens zu sprechen. Aber auch dazu kam es nicht, weil der Saal ebenfalls schnell überfüllt war. Schließlich stieg Ley auf dem Marktplatz auf die Ladefläche eines Lastwagens und begann zu der versammelten Menge zu sprechen. In seiner Rede warnte er die örtlichen Bauern vor den Juden, wenn diese nicht aufpassten, könnten sie ihre Höfe verlieren. Während Ley sprach, schwärmten seine Leute aus, marschierten durch die Straßen von Nastätten, brüllten Parolen wie: „Die Straße frei!“ und verkauften NS-Werbebroschüren. Inzwischen bat der Bürgermeister Ley, seine Rede zu beenden und den Platz zu räumen. Während die beiden miteinander verhandelten, gerieten die Dinge außer Kontrolle. Als SA-Leute hörten, dass im Hotel Juden seien, stürmten sie das Gebäude und begannen, einen jungen Mann zusammenzuschlagen. Als die wenigen Landjäger eingreifen wollten, wurden auch sie von den SA-Leuten tätlich bedroht. Ein Polizeibeamter wurde niedergeschlagen und mit Füßen getreten. Um ihn zu schützen, zog ein anderer seine Pistole und feuerte einen Warnschuss ab. Aber in dem Durcheinander ging der Schuss in die Menge und traf einen jungen Anhänger Leys, einen gewissen Wilhelm Wilhelmy aus Singhofen; er war sofort tot.
Das beendete den Kampf. Die Landjäger fürchteten, gelyncht zu werden, und flüchteten ins Hotel. Ley brachte seine Männer wieder unter Kontrolle und ließ sie antreten. Sie trugen den Toten in die Leichenhalle, bestiegen ihre Lastwagen und verließen Nastätten. Am Ortsrand riefen sie einer jüdisch aussehenden jungen Frau, die ihr Kind im Arm hielt, noch zu, sie würden zurückkommen und den Juden die Kehle durchschneiden.
Auf der Rückfahrt hielten sie noch in Braubach und löschten ihren Durst. Als sie dann nachts von Oberlahnstein kommend die Brücke nach Koblenz überqueren wollten, wurden alle dort ankommenden 69 Nazis von der Koblenzer Polizei unter ihrem Chef, dem aufrechten Demokraten Dr. Ernst Biesten, festgenommen und in das Koblenzer Gefängnis eingeliefert. Auch Ley war unter den Festgenommenen, er war drei Tage hier in Koblenz in Haft. Bei der Durchsuchung der Nazis fand die Polizei übrigens noch Schusswaffen, Schlagringe, Gummiknüppel und Schraubschlüssel. Damit war es die Koblenzer Polizei unter ihrem Chef Biesten, die endlich diesem braunen Rowdytum und dem Terror ein vorläufiges Ende setzte und eine Strafverfolgung ermöglichte.
Das anschließende Strafverfahren zeigte aber exemplarisch die Hilflosigkeit und das Verfahren der Weimarer Republik und deren Justiz gegenüber den braunen Terroristen und Gewalttätern. Denn von den ursprünglich ca. 150 in Nastätten anwesenden Nazis und den 69 an der Koblenzer Brücke Festgenommenen machte man nur 17 Nazis den Prozess. Nach Vernehmung von 135 Zeugen verurteilte das Amtsgericht – Schöffengericht – in Wiesbaden lediglich 10 Angeklagte wegen schweren Aufruhrs in Tateinheit mit schwerem Landfriedensbruch. Das Strafmaß fiel äußerst milde aus. Das Gericht billigte den Angeklagten mildernde Umstände zu und verurteilte sie lediglich zu der Mindeststrafe von 6 Monaten Gefängnis. Doch selbst dieses Urteil wurde nicht rechtskräftig. Während des weiteren Verfahrens erging eine allgemeine Amnestie wegen solcher Straftaten und das Strafverfahren gegen die verbliebenen 10 Nazis wurde dann eingestellt.
In Nastätten war derweil die Saat des 6. März 1927 aufgegangen. Das Städtchen wurde die nationalsozialistische Hochburg des Taunus. Die Nazis waren sich dort so sicher, dass sie bereits im Jahre 1929 eine Versammlung der SPD als eine „Provokation ohnegleichen“ bezeichnen konnten. Nastätten hatte auch den zweifelhaften Ruhm, mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Ehrenbürger bereits am 14. Juni 1932(!) die erste Stadt Preußens zu sein, die ihm diese Ehre verlieh. Der „Schwarze Sonntag“ von Nastätten lieferte im Übrigen den Stoff für einen der ersten nationalsozialistischen Märtyrer, eine Art Horst Wessel des Taunus. Es war wieder Ley, der den dabei getöteten Wilhelm Wilhelmy nachträglich erst noch zum SA-Mann ernannte (er war es vorher gar nicht!) und ihn dann für seine Propagandazwecke instrumentalisierte. Der „Westdeutsche Beobachter“ brachte regelmäßig Gedichte, die Wilhelmy verherrlichten. Zu seinem mit Blumen geschmückten Grab veranstaltete man regelrechte Wallfahrten. Er war der erste „Blutzeuge“ der NS-Bewegung in der Region. Bei der Gedenkfeier im März 1934 wurde unter großem Pomp an dem Hotel in Nastätten eine Tafel enthüllt, auf der es hieß: „Hier fiel am 6. März 1927 der erste nassauische SA-Mann im Kampf um Deutschlands Befreiung – Wilhelm Wilhelmy“. In Koblenz wurde übrigens die Stresemannstraße, die Straße, die am Clemensplatz und am Reichensperger Platz vorbei und zum Rhein führt (auf der anderen Straßenseite stehen die SGD Nord und das Oberlandesgericht), nach diesem Wilhelmy „Wilhelm Wilhelmy-Straße“ benannt. – Die Vorfälle in Nastätten hatten wenigstens noch ein kurzes Nachspiel derart, dass. die Ortsgruppe der NSDAP in Koblenz für einige Zeit verboten wurde.
Während Ley gerade im Taunus so aktiv war, agitierte ein anderer Nazi im Hochwald und an der Mittelmosel. Das war Gustav Simon. Ihn habe ich im letzten Jahr hier an gleicher Stelle porträtiert. Simon muss man in diesem Zusammenhang erwähnen, denn er war für Ley in jener Zeit ein wichtiger Helfer und außerdem bestimmte Simon später ein Stück weit Leys weiteren Weg mit.
Simon war Leys Mann im Hunsrück und Ley machte ihn schon 1928 zum Leiter des Bezirks Trier-Birkenfeld der NSDAP. Es war auch Ley, der Simon nach Koblenz brachte und dafür sorgte, dass Simon die hier zusammengebrochene Parteiorganisation wieder aufbaute. Diese Erfolge beflügelten Simon und veranlassten ihn, bereits im Oktober 1930 einen Vorstoß zur Neugliederung des Gaues Rheinland zu unternehmen. Simon legte eine Denkschrift zur Teilung des Gaues vor. Diese sah die Bildung eines nördlichen und eines südlichen Gaues vor. Begründet wurde dies damit, dass so die Wahlkreise bei den Reichstagswahlen mit den Gauen identisch würden und die Propaganda so noch effektiviert werden könnte. Die Parole hieß: „Gau gleich Reichstagswahlkreis“. Außerdem wies Simon auf die Größe des Gaues und auf erhebliche Unterschiede in der Sozialstruktur sowie in der politischen Landschaft hin. Ley war über dieses Ansinnen maßlos wütend und wollte eine solche Teilung des Gaues und die damit verbundene Ansehensschädigung und –minderung unbedingt verhindern.
Nach einigem Hin und Her gelang es dann doch Simon, seine Vorstellungen durchzusetzen. Auf einer Gautagung am 31. Mai 1931 hier in Koblenz wurde die Teilung des Gaues endgültig vollzogen und Simon wurde von Ley als erster Gauleiter des Gaues Koblenz-Trier-Birkenfeld in sein Amt eingeführt. – Ley selbst blieb nominell Gauleiter des Nordteils des bisherigen Gaues Rheinland, der dann Gau Köln-Aachen hieß. Er kehrte aber nicht mehr nach Köln zurück. Sein Nachfolger als Gauleiter wurde sein bisheriger Stellvertreter, der in Gemünden im Hunsrück geborene Josef Grohé.
Doch zurück zu Ley. Ley übernahm andere Aufgaben und fand seine Betätigungsfelder außerhalb der Region. Ehe wir uns diesen zuwenden wollen, möchte ich Ihnen noch einiges nachtragen, was die Person Ley beleuchtet und auch sein Unterliegen im Streit mit Simon erklären kann.
Wegen seiner nationalsozialistischen Ansichten und seinen Aktivitäten war Ley inzwischen für den IG Farben-Konzern in Leverkusen untragbar geworden und verlor Ende 1927 seinen einträglichen Posten. In der Folgezeit löste er sich völlig von einem bürgerlichen Leben und verschrieb sich ganz den Nazis und ihrem „Führer“ Adolf Hitler. Diesem schrieb er am 27. Dezember 1927:
Nun bin ich frei. Es ist gut so. Was nutzt die schönste und gesichertste Stellung, wenn Deutschland zugrunde geht. Das sagte ich auch der Direktion. Ich werde mir ein kleines Gut kaufen, um wenigstens die Familie, wenn auch bescheiden, zu sichern. Ich selbst werde mich ganz der Partei, insonderheit meinem Gau und dem Westdeutschen Beobachter widmen, dessen Schriftleitung ich übernehme. Über ein Jahr hoffe ich Ihnen einen Gau zeigen zu können, der mit zu den besten gehören dürfte; die Grundlagen sind jetzt schon vorhanden.
Es war Leys Absicht, in seinem Gau Rheinland ein Presseimperium aufzubauen. Dazu fehlte ihm aber als stellungslosem Chemiker das Geld. Da fand Ley einen Gönner: Friedrich Christian Prinz zu Schaumburg-Lippe. Er war Spross einer wohlhabenden Adelsfamilie mit Familiensitz in Bückeburg. Ley konnte den Prinzen als Geldgeber gewinnen – etwa durch Briefe wie den folgenden:
Lieber Prinz, halten Sie zu mir! Ich werde mein Rheinland zu einem Sozialstaat machen, wie ihn die Welt nicht für möglich hält. Ich werde hier durch meine Maßnahmen derart beliebt werden, dass man mich eines Tages zum Herzog des Rheinlandes ausruft und jeder das ganz natürlich findet!
Mit Unterstützung des Prinzen ging Ley an die Gründung seines Westmark-Verlages. Ley wollte nicht nur seinen „Westdeutschen Beobachter“, sondern auch andere Zeitungen in seinem Gau herausgeben, so z.B. – seit dem 1. Juni 1930 - das „Nationalblatt“ in Koblenz und in Trier und die „Westwacht“ in Idar-Oberstein. Deshalb kaufte Ley eine große Druckerei sowie ein stattliches Gebäude in Köln, den sog. Friesenpalast, den er als seine Parteizentrale, Pressestelle und Druckerei vollständig renovieren ließ.
Der „Westdeutsche Beobachter“ war die offizielle Stimme der NSDAP im Rheinland und das Sprachrohr Leys. Der „WB“ war von Anfang an ein Skandalblatt. Er spezialisierte sich darauf, örtliche Skandale aufzudecken (oder zu erfinden) und mit diesen dann seine Leser wochenlang in prickelnde Erregung zu versetzen. Häufigste Zielscheibe waren dabei die Juden, insonderheit die jüdische Warenhauskette Tietz. Solche Angriffe kamen, wie der Koblenzer Oberbürgermeister Dr. Karl Russell in seinem Bericht vom 12. Oktober 1928 an den Koblenzer Regierungspräsidenten feststellte, gut an. Darin heißt es u.a.:
Die Zeitung wird umso mehr beachtet, als Koblenz eine Mittelstadt ist, in der derartige Sensationsblätter naturgemäß größeres Aufsehen hervorrufen als in einer Großstadt. Hinzu kommt, dass hier weite Kreise der Bevölkerung, die vor dem Kriege wohlhabende Rentner waren, verarmt und unzufrieden sind, und dass zahlreiche Gewerbetreibende, die vor dem Krieg durch die starke deutsche Garnison und die große Zahl der Rentner reichliche Einnahmequellen hatten, schwer mit ihrer Existenz zu ringen haben und verärgert sind. Diese Stimmung nutzt der Westdeutsche Beobachter geschickt aus und schürt die Unzufriedenheit in jeder Weise. So kommt es, dass das Blatt von gewissen Kreisen der Gewerbetreibenden, die gegen die jüdischen Geschäfte eingestellt sind und sich nicht zuletzt durch die gewaltige Ausdehnung des Warenhauses Tietz bedroht fühlen, noch unterstützt, und dass von vielen mit Gier nach diesem Blatt gegriffen wird.
Ley hatte auch keine Bedenken – ganz im Stil von Julius Streichers „Stürmer“ – pornografische Methoden zu verwenden, um seine Leser zu kitzeln und in Wallung zu bringen. Ein ständig wiederkehrendes Thema im „Westdeutschen Beobachter“ war der lüsterne Jude, der das unschuldige deutsche Mädchen verführt oder vergewaltigt. Eine Ausgabe erschien etwa unter der Schlagzeile: „Wie der Möbeljude Meyer eine deutsche Frau schändete. Die blonde Goija und der Fremdrassige. Blut und Leib verseucht.“
Trotz dieses pornografischen Drecks und des Prinzen als Geldgeber ging die Sache schief. Ley hatte sich von Anfang an übernommen. Von seinem Prinzen erhielt er zwar immer wieder Geld – getreu dem Motto: „Wenn Sie jetzt nicht noch etwas dazugeben, dann haben Sie auch alles bisher Gegebene verloren.“
Aber das nützte alles nichts. Im März 1931 machte der Westmark-Verlag Pleite. Das war ein schwerer Schlag für Ley. Noch im selben Monat kam es für ihn aber noch schlimmer. Denn am 27. März 1931 wurde er von der Polizei festgenommen, um eine einmonatige Gefängnisstrafe anzutreten. Dieser Festnahme lag eine Verurteilung Leys als verantwortlichem Schriftleiter des „Westdeutschen Beobachters“ vom 23. September 1929 zugrunde. Daraufhin hatte das erweiterte Schöffengericht in Köln Ley und den Koblenzer Filialleiter des Westdeutschen Beobachters wegen Beleidigung und übler Nachrede verurteilt. Dieser Verurteilung wiederum lag ein Artikel des „Westdeutschen Beobachters“ vom 26. August 1928 zugrunde, der die Überschrift trug: „Bestechungen am Koblenzer Landgericht?“.
In diesem Artikel wurde auf ein Strafverfahren gegen einen Telegrafenassistenten hingewiesen. Er war im Jahr 1925 vom Schöffengericht Koblenz von der Anklage des Tapetendiebstahls mangels ausreichenden Beweises freigesprochen worden. Mit Blick auf ein anderes Strafverfahren gegen den Telegrafenassistenten, das in den nächsten Tagen anstand, hieß es dann in dem Artikel des „Westdeutschen Beobachters“:
Wir nehmen nicht an, dass es in diesem Fall ebenso geht, wie es vor ein paar Jahren der Fall war, von dem wir leider erst heute erfahren. Damals schwebte gegen den Postbeamten (…) von Koblenz ein Verfahren wegen Tapetendiebstahls. (Er) wurde damals freigesprochen, weil er zu höheren Beamten des hiesigen Amtsgerichts aufgrund unserer Ermittlungen unbedingt intime Beziehungen gehabt haben muss. In dieser Annahme werden wir bestärkt durch einen Ausspruch (des Postbeamten) selbst, der besagt, dass er in einem späteren Verfahren, ungefähr ein Jahr nach dem famosen Freispruch, (…) dem Staatsanwalt ein Tischtelefon und dem Rechtsanwalt ein Fass Wein geschenkt hat. Wer beweist uns, dass er es in seiner Tapetendiebstahlsaffäre nicht ebenso gemacht hat? Sollten die Behauptungen (des Postbeamten) stimmen, dann hat das Wort eines hohen Gerichtsbeamten in Leipzig, nach dem die Justiz zu einer Dirne geworden sei, schon damals Geltung gehabt.
Am Schluss des Artikels hieß es dann:
(Der Postbeamte) hat mit plumpen Ausreden und Lügen vor Gericht sich rein zu waschen versucht. Das Gericht spricht den Dieb frei. Wieder ein Beweis, wie in diesem System mit zweierlei Maß gemessen wird.
In diesem Strafverfahren wurde Ley dann – wie gesagt – vom Amtsgericht in Köln zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Hiergegen legten sowohl die Staatsanwaltschaft als auch Ley wegen des Strafmaßes Berufung ein. Diese wurde aber vom Landgericht Köln verworfen. Am 27. März 1931 wurde Ley dann auf dem Weg zu einer Propagandaveranstaltung der NSDAP in Köln-Deutz verhaftet. Selbst daraus schlug die Nazi-Presse noch Kapital und vermeldete unter der Überschrift „Pg. Dr. Ley in rücksichtsloser Weise verhaftet“ wie folgt:
Die Severing-Polizei wusste also zur Verhaftung unseres Pg. Ley keinen besseren Augenblick zu wählen, als die Zeit kurz vor einer Versammlung. Die Genossen werden sich wohl nicht einbilden, dass dadurch die Liebe jener Versammlungsbesucher zu dem roten Regime gestiegen ist!
Während Ley die Strafe verbüßte, drohte ihm eine weitere Gefängnisstrafe von drei Monaten, wenn er nicht die verhängte Geldstrafe in Höhe von 1.500 Reichsmark zahlen würde. Da Ley nicht nur im Gefängnis, sondern auch pleite war, musste er die Kassenverwaltung der Nazis bitten, diesen Betrag für ihn zu zahlen.
In dieser Situation erreichte Ley im Gefängnis aber immerhin folgender Brief aus München:
Lieber Herr Dr. Ley! Ich habe zu meinem großen Bedauern erfahren, dass Sie mitten aus der Arbeit heraus verhaftet worden sind und jetzt eine längere Gefängnisstrafe abbüßen müssen. Ich weiß selbst aus eigener Erfahrung, wie schwer so etwas zu ertragen ist. Ich sende Ihnen zu Ostern meine herzlichsten Grüße und hoffe, dass Sie die Last und Bedrängnis der Gefängnishaft gut überstehen. Mit deutschem Gruß! Ihr Adolf Hitler
Unter diesen Umständen kann man sich vorstellen, dass Ley 6 – 8 Wochen später, auf der Gautagung Ende Mai 1931 in Koblenz, gar nicht viel übrig blieb, als der Teilung des Gaues Rheinland zuzustimmen.
Trotz dieser Niederlage war Ley nicht am Ende. Immerhin konnte er an der Gautagung Ende Mai 1931 teilnehmen – war er doch Ende April entlassen worden, nachdem die Reichsleitung der NSDAP für ihn die Geldstrafe in Höhe von 1.500 Reichsmark gezahlt hatte und er deshalb die dreimonatige Gefängnisstrafe nicht verbüßen musste.
Ley machte dann erst einmal – wie er in Koblenz verkündete – Urlaub. Ab Herbst 1931 war Ley in der Reichsorganisation tätig, später – nach dem Rücktritt Gregor Strassers als Reichsorganisationsleiter und der Übernahme dieses Amtes durch Hitler selbst – wurde Ley Stellvertreter Hitlers in diesem Bereich.
Ley wurde aber nicht in dieser Funktion, die er bis zum Untergang des Dritten Reiches innehatte, sehr bekannt und mächtig – sondern vielmehr als Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF).
Die DAF ist von der Entstehung her das Produkt der Zerschlagung der Gewerkschaften. Schon sehr bald nach der sog. Machtergreifung der Nazis am 30. Januar 1933 entschied Hitler, die Gewerkschaften völlig zu zerschlagen. Diese hielten zwar einen strikten Legalitätskurs, der fast an Unterwerfung grenzte, aber vom Totalitätsanspruch der Nazis her konnten sie diese große und mitgliederstarke Organisation nicht neben sich dulden. Deshalb wurde im April 1933 ein „Aktionskomitee zum Schutze der deutschen Arbeit“ gebildet. Robert Ley wurde sein Leiter. Es bereitete handstreichartig die Ausschaltung der Gewerkschaften vor. Ehe es dazu kam, landeten die Nazis noch einen Propagandacoup. Ebenfalls im April 1933 erhoben sie den 1. Mai, den traditionellen Feiertag der Internationalen Arbeiter-klasse bzw. der Arbeiter allgemein, durch ein Reichsgesetz zum „Tag der nationalen Arbeit“ mit allgemeiner Arbeitsruhe und voller Lohnfortzahlung. Der Tag wurde mit großem Pomp gefeiert. In der abendlichen Hauptkundgebung in Berlin proklamierte Hitler das Ende aller Klassenunterschiede und die Volksgemeinschaft der „Arbeiter der Stirn und der Faust“.
Am folgenden Morgen, am 2. Mai 1933, besetzten SA und SS um 10.00 Uhr schlagartig im gesamten Reichsgebiet die Einrichtungen und Büros der Gewerkschaften und nahmen Funktionäre in „Schutzhaft“. - Übrigens auch hier in Koblenz, u.a. davon betroffen war der Gewerkschafter und Unterbezirksvorsitzende der SPD Johann Dötsch. Es wurde auch das immense Gewerkschaftsvermögen beschlagnahmt. Nutznießer wurde die am 10. Mai 1933 gebildete Deutsche Arbeitsfront (DAF) und Robert Ley, der ihr Leiter wurde.
Es begann, wenn Sie so wollen, der Kampf um den deutschen Arbeiter. Hitler und seine Leute waren ja nicht entscheidend durch die Arbeiter an die Macht gekommen, sondern vielmehr durch die bürgerlich-mittelständischen Schichten. Von daher mussten die Nazis die Mehrheit der deutschen Arbeiter erst noch gewinnen. Deutlich wird dies in einem Aufruf Leys vom 2. Mai 1933 an die deutschen Arbeiter. Darin hieß es:
Wir treten heute in den zweiten Abschnitt der nationalsozialistischen Revolution ein…. Gewiss, wir haben die Macht, aber wir haben noch nicht das ganze Volk, Dich, Arbeiter, haben wir noch nicht hundertprozentig, und gerade Dich wollen wir, wir lassen Dich nicht, bis Du in aufrichtiger Erkenntnis restlos zu uns stehst.
Was Ley und die DAF konkret machen sollten, wusste Ley zunächst selbst nicht. Später, 1937, gab er zu:
Ich kam als blutiger Laie dahin, und ich habe mich wohl damals am meisten gewundert, weshalb ich mit diesem Auftrag betraut wurde. Es ist nicht so gewesen, dass wir ein fertiges Programm hatten, das wir hervorholen konnten und an Hand dieses Programms die Arbeitsfront aufbauten, sondern ich bekam den Auftrag des Führers, die Gewerkschaften zu übernehmen, und dann musste ich weiter schauen, was ich daraus machte.
Zunächst hatten viele noch die Idee, die Gewerkschaften in der DAF aufgehen zu lassen und aus der DAF eine gewerkschafts-ähnliche Organisation zu machen. Bald verwarf man aber diese Konzeption und wollte aus der DAF etwas ganz Großes machen: Die DAF sollte eine gigantische Organisation werden – eine Organisation der schaffenden Deutschen „der Stirn und der Faust“. Sie sollte praktisch alle Deutschen umfassen und entscheidend dazu beitragen, ein wesentliches Ziel der Nazis zu erreichen: eine wirkliche Volks- und Leistungsgemeinschaft aller Deutschen. Oder weniger pathetisch ausgedrückt: Die DAF sollte die Sozial- und Wirtschaftspolitik des jungen Dritten Reiches entscheidend beeinflussen.
Im Herbst 1933 wusste Ley in einer Rede vor Funktionären der DAF schon eher, was die DAF wollte und sollte. Ley verkündete:
Ich fühle mich nicht als Führer der Arbeitsfront, als Arbeitervertreter… Ich fühle mich als der politisch Beauftragte des Führers, als Stabsleiter der Parteiorganisation, der mit dieser speziellen Aufgabe betraut wurde, den Schutt und den Dreck und das Chaos, das durch die marxistischen und liberalistischen Parteien der Vergangenheit in die Betriebe hineingeworfen worden war, auszurotten und die Menschen wieder zusammen zu bringen und sie marschieren zu lassen.
Und zur gleichen Zeit formulierte er die Aufgabe der DAF auch noch staatsbejahender und erklärte:
Während der alte Staat ein Nachtwächterstaat war, ist unser Staat ein Erziehungsstaat, ein Pädagoge, ein väterlicher Freund. Er lässt Menschen nicht los von der Wiege bis zum Grabe…. Und so fangen wir schon beim Kinde von drei Jahren an; sobald es anfängt zu denken, bekommt es schon ein Fähnchen zu tragen. Alsdann folgt die Schule, die Hitler-Jugend, die SA, der Wehrdienst. Wir lassen den Menschen nicht los, und wenn das alles vorbei ist, kommt die Arbeitsfront und nimmt die Menschen immer wieder auf und lässt sie nicht mehr los bis zum Grabe, mögen sie sich auch dagegen wehren!
Auf dieser Linie lag auch ein – nach langen, schweren Verhandlungen – von Ley am 27. November 1933 mit dem Reichsarbeitsminister Seldte, dem Reichswirtschaftsminister Schmidt und Hitlers Beauftragten für Wirtschaftsfragen Keppler unterzeichneter „Aufruf an alle schaffenden Deutschen“. Darin wurde praktisch anerkannt, dass die DAF keine Supergewerkschaft und keine Vertreterin der Arbeiterschaft im Dritten Reich war, sondern eine Massenorganisation von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die sich der Erziehung und Betreuung, d.h. der Integration der Arbeiter in das Regime widmen würde, und zwar so, dass die Arbeitgeber weitgehend zufrieden gestellt wurden.
Was die DAF ihrer (Rechts-)Natur war, blieb bis zuletzt unklar. Eine Definition lautete: Sie ist weder eine juristische Person des privaten noch eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, sondern eine juristische Person des öffentlichen Rechts eigener Art.“ Ein anderes Mal hieß es: „Die DAF … ist als nationalsozialistische Gemeinschaft Trägerin von Rechten und Pflichten. Sie besitzt Rechtsfähigkeit und untersteht dem Führer.“
An der Spitze der DAF stand Ley als Führer bzw. als Leiter. Ihm unterstand ein Zentralbüro, das in verschiedene Arbeitsbereiche – Ämter – gegliedert war. Diesen Reichsdienststellen waren entsprechende Ämter auf der Gauebene nachgeordnet, und diesen „Gauwaltungen“ wiederum Kreis- und Ortswaltungen. Die unterste Ebene bildete der DAF-Straßenblock, der ca. 40 – 60 Haushalte umfasste. Entsprechend war die Betriebsorganisation gegliedert. Hier bildeten die einzelnen Betriebsgemeinschaften die unterste Ebene, die bei Großbetrieben noch in Betriebszellen und Betriebsblöcke unterteilt wurden. Vielfach gab es Personalunionen zwischen dem NSDAP-Funktionär und dem DAF-Amtswalter, so war beispielsweise der NSDAP-Kreisleiter öfter auch DAF-Kreiswalter.
Die DAF beschäftigte ein Korps von ca. 44.000 hauptamtlichen Funktionären und hunderttausende von ehrenamtlichen Mitarbeitern. Die DAF verfügte über Einnahmen, die dreimal so hoch waren wie die der NSDAP. Im September 1939 waren von insgesamt 25,3 Millionen Arbeiter und Angestellte rund 22 Millionen Mitglieder der DAF. Die Mitgliedschaft in der DAF war im Prinzip freiwillig, aber es gab einen enormen Druck, in die DAF einzutreten. Ley sagte einmal:
Wer nicht mitmarschieren will in unserer Mitte, dem wollen wir so lange auf die Haxen treten, bis er marschiert. Entweder bleibt er am Wegrand liegen, oder er marschiert mit. In unserer Mitte können wir nur Männer und Frauen dulden, die vorwärts und nicht rückwärts marschieren.
Es gehörte zu den Eigentümlichkeiten und Widersprüchlichkeiten der DAF, dass sie nicht nur sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer umschloss und auch eine sehr wichtige NSDAP-Organisation war, die gegenüber den deutschen Arbeitern Sozialpolitik betreiben wollte, sondern dass sie zugleich ein gigantischer Wirtschaftskonzern war. Ley herrschte über ein Imperium, das Baufirmen, Versicherungsgesellschaften, Verlage, eine Automobilfabrik, Konsum-Einzelhandelsgeschäfte, Banken und verschiedene Trägergesellschaften umfasste.
Diese Wirtschaftsunternehmen hatte er zum Teil von den ehemaligen Gewerkschaften übernommen, zum Teil erwarb er sie in seiner ideologischen Begeisterung, um das deutsche Volk zu erziehen und zu betreuen. Zu der letztgenannten Sparte gehörten „Volksprodukte“ wie der „Volksempfänger“, der „Volkskühlschrank“ oder auch der „Volkswagen“. Der Volkswagen war das bekannteste und repräsentativste dieser „Volksprodukte“. Hitler und Ley träumten von einem Volkswagen für weniger als 1.000.- RM. Ley nahm sich der Sache an und Ferdinand Porsche war der technische Leiter. Im August 1938 verkündete Ley:
(Dieser Kleinwagen werde) zu den größten sozialen Werken aller Zeiten und aller Länder gehören. Der Volkswagen ist das ureigenste Werk des Führers. Der Führer lebte und arbeitete täglich mit an diesem seinem Lieblingsgedanken… Es ist des Führers Wille, dass innerhalb weniger Jahre mindestens 6.000.000 Volkswagen auf deutschen Straßen fahren. In zehn Jahren jedem schaffenden Deutschen einen Volkswagen – das sei unser Ziel.
Zur Erreichung dieses Ziels erfand Ley den berühmten Ratensparplan für den Volkswagen. Schließlich sparten mehr als 300.000 Deutsche auf den Volkswagen. Sie legten jede Woche 5 Mark für ihren Wagen beiseite, getreu dem Motto: „Fünf Mark pro Woche musst Du sparen, willst Du im eigenen Wagen fahren!“ Obwohl von den Bestellern schon 60.000 das Auto bereits vollständig bezahlt hatten, hat keiner von ihnen einen Volkswagen erhalten. Schon bald nach der Eröffnung des Werkes in der „Stadt des KdF-Wagens“ Wolfsburg wurde das Werk auf Rüstungsproduktion umgestellt und ab 1939 wurden ausschließlich Kübelwagen für die Wehrmacht produziert. Die deutschen Sparer hatten aber 280 Millionen RM angespart. Das Geld ruhte auf einer Bank der DAF, ohne dass dafür Zinsen gezahlt worden wären.
Ley lebte in Saus und Braus und finanzierte sich einen großartigen Lebensstil. So besaß er verstreut über ganz Deutschland eine Anzahl Villen, die alle in exklusiven Wohngegenden lagen und reichlich mit Dienstpersonal ausgestattet waren. Er besaß mehrere Autos, darunter einen PS-starken Mercedes. Um stilvoll reisen zu können, ließ er auch einen Eisenbahnwagen für sich umrüsten und durch die DAF hatte er Zugang zu mehreren Flugzeugen, mit denen er häufig zu seinem Landgut flog. Inzwischen hatte sich Ley nämlich in seiner Heimat, in der Nähe des Städtchens Waldbröl, ein Landgut zugelegt – das Landgut Rottland. Er ließ es gar zum nationalsozialistischen Erbhof erklären und hatte damit Großes vor. Als sein Verwalter ihm einige Verbesserungsvorschläge machte, erklärte ihm Ley dazu:
Ihr Vorschlag war nicht schlecht, und wenn ich noch der kleine Ley wäre, hätte es so gehen können. Aber der bin ich nicht mehr. Ich muss hier etwas Schönes, architektonisch Schönes erstehen lassen. Eines Tages wird der Führer mit auf den Hof kommen, um sich meinen Privatbesitz einmal anzusehen. Was würde er sagen, wenn ich hier engherzig und kleinlich verfahren würde und wenn ich diesen Umbau nicht zu einem Symbol nationalsozialistischer Macht und Größe ausgestalten würde?
Über Leys Trunksucht gibt es zahlreiche Berichte. Der wohl peinlichste Vorfall ereignete sich im Jahr 1937 beim Besuch des Herzogs und der Herzogin von Windsor. Sie waren offiziell Gäste der DAF, Ley musste als Gastgeber fungieren. Der betrunkene Ley bestand darauf, am Steuer seines großen Mercedes das hohe Paar durch die Arbeitersiedlung eines Betriebes bei München zu chauffieren. Ein Augenzeuge berichtete hierüber:
Er fuhr mit seinem Wagen durch das verschlossene Tor und raste dann mit voller Geschwindigkeit die Straße der Siedlung hinauf und hinunter; die Arbeiter erschraken natürlich zu Tode, und einige wurden beinahe überfahren. Am nächsten Tag bat Hitler Göring, den Besuch des Herzogs zu übernehmen, bevor Ley ihn umbringe.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch eine Bemerkung zur Heuchelei des NS-Regimes. Während Ley solche Alkoholeskapaden pflegte und im Volksmund den Spitznamen „Reichstrunkenbold“ hatte, war es eben dieser Dr. Robert Ley, der im Jahr 1939 die Aktion „Halte Dich gesund durch Abstinenz“ eröffnete und die offizielle Losung ausgab: „Mäßigung ist nicht genug…Wir müssen auch in der Abstinenz radikal sein.“
Leys Prunksucht, die der Görings nur wenig nachstand, und seine Korruption nahmen solche Ausmaße an, dass der Vorsitzende des Obersten Parteigerichts Hitler schließlich im Jahr 1938 aufsuchte, ihm umfangreiches Belastungsmaterial gegen Ley vorlegte und dessen Absetzung forderte. Hitler brüllte ihn aber an und warf ihn hinaus.
Im selben Jahr ließ sich Ley von seiner ersten Frau scheiden und heiratete die Sopranistin Inge Spilker, die junge, schöne und bezaubernde Tochter des Opernsängers Max Spilker. Aus dieser zweiten Ehe Leys gingen dann noch drei Kinder hervor. Leys Eheleben war wohl sehr schwierig. Er konnte roh und grausam, ja geradezu vulgär sein. Bei Abendessen in seinem Hause muss es das eine oder andere Mal ganz schlimm zugegangen sein. Einmal kam es wohl dazu, dass Ley seiner Frau die Kleider vom Leib zu reißen versuchte, damit die Gäste ihren herrlichen Körper bewundern könnten. Leys Frau sagte einmal: „Er behandelte mich schamlos. Ich bin überzeugt, eines Tages bringt er mich noch um“. Tatsächlich erschoss sich Inge Ley am 29. Dezember 1942 nach einem belanglosen Streit mit ihrem Mann.
Ich kann nicht das Thema DAF verlassen, ohne hier noch zwei Bereiche anzusprechen.
Das eine ist die Berufsausbildung. Ley war die Berufserziehung sehr wichtig und er sah in ihr eine Voraussetzung für den industriellen Aufstieg Deutschlands. Schon 1934 verkündete er:
Deutschland wird dann wieder seine Weltgeltung in wirtschaftlicher Hinsicht erobern, wenn es ihm gelingt, höchste Qualitätsarbeit zu schaffen. Das verlangt aber, den Deutschen zum besten Facharbeiter auszubilden. Die deutsche Arbeitsfront will diese hohe Aufgabe dadurch lösen, dass sie einmal ein Berufsschulwesen für die Jungarbeiter auf neue Grundlagen stellt.
Die DAF organisierte hierfür nicht nur ein gewaltiges organisatorisches Netzwerk, das 1936 aus 400 Lehrwerkstätten bestand, das 25.000 Berufsschullehrer beschäftigte und an dem 2,5 Millionen Arbeiter Kurse bei der DAF besucht hatten. Eine weitere Idee war der „Reichsberufswettkampf“, der in der damaligen jungen Bevölkerung einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Das war eine Art „Berufsolympiade“. Unter der Aufsicht der DAF gab es Wettkämpfe in 19 Sparten, d.h. in den meisten Wirtschaftsbereichen, wie z.B. Bergbau, Banken und Versicherungen, Landwirtschaft, Textilindustrie usw. Das begann im Februar auf Ortsebene. Die Ortssieger nahmen dann im März an den Gauwettbewerben, die Gausieger im April am Endwettkampf auf Reichsebene teil. Die Teilnehmer wurden in drei Bereichen geprüft: in der beruflichen Leistung (sowohl theoretisch als auch praktisch), in weltanschaulicher Zuverlässigkeit und im Sport. Es gab 10 Leistungsklassen, eingeteilt nach Facharbeitern und ungelernten Arbeitern sowie nach dem jeweiligen Lehrjahr bzw. Berufsjahr. – Nach dem großen Erfolg dieser „Reichsberufswettkämpfe“ erweiterte die DAF diese Wettkämpfe auf Betriebe und kreirte den „Leistungskampf der deutschen Betriebe“. Die Sieger aus diesen Wettkämpfen wurden als „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ ausgezeichnet.
Der zweite Bereich war der überaus erfolgreiche und ganz berühmte Bereich „Kraft durch Freude“ (KdF). Die Idee dazu stammte nicht von Ley, aber er griff sie auf und entwickelte sie zu einer riesigen Organisation. Ley propagierte diese Konzeption mit den Worten:
Wir müssen die ganze freie Zeit nach der Arbeit ausbauen zu einem gigantischen Werk; es wird das größte sein, was diese Revolution vielleicht hervorbringt.
„Kraft durch Freude“ war nicht eine allgemeine Menschenbeglückungsstrategie, sondern hatte eine ganz konkrete Funktion bei der Stabilisierung und dem Ausbau des NS-Regimes. Schon 1933 stellte Ley dazu fest:
Diese Organisation (soll) die Langeweile des Menschen bannen. Aus der Langeweile entspringen dumme, hetzerische, ja letzten Endes verbrecherische Ideen und Gedanken. Dumpfer Stumpfsinn bringt den Menschen zum Grübeln, gibt ihm das Gefühl der Heimatlosigkeit, mit einem Wort. das Gefühl absoluter Überflüssigkeit. Nichts ist gefährlicher für einen Staat als das.
Die KdF sollte sich mit fünf Lebensbereichen des arbeitenden Menschen befassen. Erstens sollte sie den Arbeitsplatz angenehmer und attraktiver machen; dazu gehörte auch die Verschönerung der Dörfer, die als Arbeitsplätze der Bauern galten. Zweitens sollte sie durch Radio, Kunst und Folklore den Feierabend gestalten. Drittens sollte sie im Bereich der Erwachsenenbildung und der Freizeitbeschäftigung eine beherrschende Rolle spielen. Viertens sollte sie die sportlichen Aktivitäten überwachen. Und fünftens und letztens sollte sie Urlaubsreisen organisieren.
Das bekannteste und erfolgreichste dieser Projekte war das fünfte, die Urlaubsreisen. Das war für die Arbeiter ganz neu, die meisten von ihnen hatten bisher ihren Urlaub noch nie fern von zu Hause verbracht. Da organisierte die KdF für sie Wochenendreisen an den Rhein und an die Mosel und auch mehrtägige Aufenthalte an der Nordsee. Ley propagierte besonders die Romantik der Kreuzfahrten auf hoher See. Diese Fahrten wurden zunächst mit der „Wilhelm Gusthoff“ und dann später mit der „Robert Ley“ durchgeführt. Bei Kriegsausbruch besaß die KdF 12 Schiffe. Beliebte Ziele waren die norwegischen Fjorde und Madeira sowie verschiedene italienische Häfen. Dieses gigantische Freizeit- und vor allem Reiseprogramm wurde dann im Zuge des Zweiten Weltkrieges aus verschiedenen Gründen immer weiter eingeschränkt und kam schließlich ganz zum Erliegen. Diese Entwicklung zeigt exemplarisch, dass die Bedeutung der DAF und damit auch ihres Leiters Ley selbst durch den Zweiten Weltkrieg in einem Kernbereich der bisherigen Tätigkeiten wesentlich abnahm.
Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Hitler am 1. September 1939 weckte in Ley wieder den Geist der „Kampfzeit“ – den Kampfgeist der zwanziger Jahre in Köln, aber auch in Koblenz, in Nastätten und anderswo, den Geist des „Westdeutschen Beobachters“. Weiterhin war für ihn „der Jude“ der Erzfeind und im Laufe des Krieges – vor allem nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion – kam der „Bolschewismus“ hinzu. In einer Rede unmittelbar nach der Schlacht von Stalingrad konnte man von Ley hören:
Werdet fanatische Hasser gegenüber dem Juden, der den Bolschewismus geboren, die wilden bolschewistischen Bestien gezüchtet und sie jetzt auf die europäische Kultur losgelassen hat.
Auch solche Reden konnten nichts daran ändern, dass der Stern Leys und der DAF im Krieg immer mehr sank. Die KdF-Vergnügungsdampfer wurden jetzt immer mehr für Soldaten benötigt – erst zu ihrer Erholung, dann als Lazarettschiffe. Auch den Volkswagen gab es nicht – jedenfalls nicht als ziviles Fahrzeug. Zudem gab es im Reich immer weniger deutsche Arbeiter – weil diese immer zahlreicher als Soldaten in den Krieg eingezogen wurden. Stattdessen nahm die Zahl der ausländischen Arbeiter, der Zwangsarbeiter, zu. Für diese – aus der Sicht der Nazis – ohnehin schwierigen Arbeiter waren aber nicht entscheidend die DAF und Ley zuständig, sondern vielmehr der Gauleiter von Thüringen Fritz Sauckel, den Hitler 1942 zum „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ der Zwangsarbeiter ernannte.
Immer häufiger kam es auch vor, dass Ley mit seinen Reden selbst die Nazis nervte und sich selbst desavouierte. Ein Beispiel ist seine Rundfunkrede zum Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Obwohl auch zu dieser Zeit das deutsche Offizierskorps noch aus vielen Adligen bestand und die Nazis und andere mit diesen noch den Zweiten Weltkrieg gewinnen wollten, giftete Ley in seiner Rede gegen die Verschwörer, hinter denen er jüdische Bolschewiken und englische Lords vermutete, und führte aus:
Degeneriert bis in die Knochen, blaublütig bis zur Idiotie, bestechlich bis zur Widerwärtigkeit und feige wie alle gemeinen Kreaturen, das ist die Adelsclique, die der Jude gegen den Nationalsozialismus vorschickt…Dieses Geschmeiß muss man ausrotten, mit Stumpf und Stiel vernichten… Es genügt nicht, die Täter allein zu fassen… Man muss auch die ganze Brut ausrotten.
Unterdessen kamen die Alliierten immer näher. Ley war zuletzt noch am 20. April 1945 im Bunker der Reichskanzlei, wohin sich Hitler mit seinen letzten Treuen zurückgezogen hatte. Ley wünschte seinem „Führer“ noch alles Gute zum Geburtstag. Einige Tag später brach Ley nach Süden auf, um angeblich den Widerstand in der Alpenfestung zu organisieren.
Am 15. Mai 1945 wurde Ley von amerikanischen Truppen in einem oberbayerischen Versteck gefangen genommen. Er trug einen blauen Schlafanzug, einen grünen Tirolerhut und hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert. Er gab sich als Dr. Ernst Distelmeyer aus, wurde dann aber schnell identifiziert. Mit anderen NS-Führern, die als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden sollten, brachte man Ley alsbald in das Gefängnis nach Nürnberg. Dort wurde er verhört. Aus den Verhören stammt noch folgende Aussage Leys:
Ich möchte jetzt sagen, dass der Führer einer der größten Männer war, die jemals lebten. Und ich möchte gleichzeitig sagen, dass der positive Aspekt, die positive Seite unserer Ideen etwas vom Größten war, das Menschen jemals erdachten. Aber was uns zerbrach (nicht nur äußerlich, sondern innerlich), das war unser Willensethos…. Und unser Antisemitismus. Diese beiden waren letztlich unser Verderben.
Ley war der Auffassung, man könne ihm keine schweren Verbrechen nachweisen. Er verteidigte sich damit, nie einen Juden angeklagt, gefoltert, eingesperrt oder enteignet zu haben. Auch habe er keinen Einfluss auf die Konzentrationslager und auf Himmler gehabt. Auch habe er nicht das Vermögen irgendeines Juden erworben. Er habe lediglich in seinen Schriften eine aggressive Sprache verwendet, das tue ihm aber heute leid.
Dann kam aber die Anklageschrift im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, die ihn als Kriegsverbrecher beschuldigte. Dies traf ihn schwer. Wenige Tage später gab er dazu zu Protokoll:
Sie mögen mich töten… mögen mit mir machen, was sie wollen. Ich gebe mich geschlagen. Ich leide nicht an falscher Einbildung. Ich akzeptiere mein Schicksal. Ich bin jedoch kein Verbrecher… Ich bin ein Nationalsozialist, aber ich bin kein Verbrecher.
Am 25. Oktober 1945 – noch vor Beginn des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses gelang es Ley, sich in seiner Zelle zu erhängen. Zuvor hatte Ley noch folgendes von sich gegeben:
Ich bin zutiefst überzeugt, dass in dieser größten aller Revolutionen, von der ein Amerikaner voraussagt, dass sie um das Jahr 2500 beendet sein werde, in diesem Ringen um die Erkenntnis der Rassen und ihre Behauptung in dem ewigen Suchen nach dem wahren Menschentum und damit in der Errichtung des gerechten Sozialismus, der nordische Mensch – ob deutsch, englisch oder amerikanisch – Sieger bleiben wird. Deutschland bezahlt seinen Ruhm mit schwerstem Leid, Adolf Hitler mit seinem Tod, und wir Jünger werden ihm folgen. Das Schicksal alles Großen.
Der einzige Mithäftling Leys, der zu dessen Selbstmord einen Kommentar abgab, war Göring. Er sagte ungerührt: „Gut, dass er tot ist! Ich hatte sowieso meine Zweifel, wie er sich vor Gericht benehmen würde.“
Der in Berlin geborene Georg Heuser (1913-1989) trat nach dem Studium der Rechtswissenschaften in die Kriminalpolizei und die SS ein. Ab 1941 stand er im Osteinsatz der Einsatzgruppe A im Rang eines SS-Obersturmführers. 1942/43 war er an Massenexekutionen mit ca. 11.100 ermordeten Juden beteiligt. Nach dem Krieg verschwieg Heuser seine NS-Vergangenheit. Er machte als wieder verwendeter Beamter in der rheinland-pfälzischen Polizei Karriere. 1956 kam er zum Landeskriminalamt nach Koblenz, wurde zunächst Stellvertretender Leiter und 1958 mit seiner Beförderung zum Kriminaloberrat Leiter des Landeskriminalamtes. Im folgenden Jahr holte ihn seine Vergangenheit ein. Er wurde verhaftet und im Jahr 1963 vom Landgericht Koblenz wegen Beihilfe zum Mord und zum Totschlag zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Joachim Hennig: Verfolgung und Widerstand in Koblenz 1933 – 1945
VHS-Wintersemester 2008/09
Drei Täter (Teil 2)
Georg Heuser (1913 - 1989)
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich begrüße Sie sehr herzlich zum zweiten Vortrag in der diesjährigen Staffel über Widerstand und Verfolgung in Koblenz 1933 bis 1945. Diesmal haben wir uns ja – auf vielfachen Wunsch - wieder Täter aus Koblenz vorgenommen. Das letzte Mal – vor zwei Wochen – habe ich den Gauleiter des Gaues Rheinland und späteren Chef des Reichsarbeitsdienstes Robert Ley porträtiert. Heute will ich Ihnen den Kriminalbeamten Georg Heuser vorstellen.
Sicherlich haben Sie sich schon früher und auch aufgrund dieser Vorträge gefragt, ob es „den typischen NS-Täter“ gibt. Der Mensch ist schließlich ja immer wieder geneigt zu systematisieren und zu verallgemeinern: Aber ich denke, ich muss Sie enttäuschen: Es gibt nicht den typischen Nazi, es gibt erst recht nicht den typischen NS-Täter. Wenn überhaupt, dann gibt es mehrere typische Tätertypen, d.h. Täter, die gewisse Merkmale und Lebensläufe gemeinsam haben und als solche deutlich häufiger als Täter in Erscheinung treten als Menschen mit anderen Merkmalen und Lebensläufen. Außerdem muss man wohl auch nach dem Tätigkeitsfeld des jeweiligen Täters differenzieren. Ein Gauleiter wird des Öfteren einen anderen Lebenslauf und eine andere Sozialisation haben als ein Mediziner und ein NS-Schreibtischtäter wird sich von seiner Mentalität, seinem Herkommen und Milieu wohl nicht selten von einem Richter unterscheiden.
Das letzte Mal haben wir mit Robert Ley einen Mann kennen gelernt, der – Jahrgang 1890 – Weltkriegsteilnehmer und Frontkämpfer war, der dann ein sehr früher fanatischer Anhänger Hitlers wurde, der „Alter Kämpfer“ war und zeit seines Lebens verquasten Vorstellungen von einer „Volksgemeinschaft“ anhing und sich gern volkstümlich und bodenständig gab und es sich hier im Westen des damaligen „Großdeutschen Reiches“ gut sein ließ. – Mit Georg Heuser lernen wir einen anderen Lebensweg und einen anderen Menschentyp kennen. Er ist der Typ des Nachgeborenen – als Hitler 1933 die Macht an sich nahm, war Heuser noch keine 20 Jahre alt. Heuser ist der Typ des jungen Karrieristen, des bürokratischen Routiniers, des Schreibtischtäters im Osteinsatz, der aber auch selbst zur Waffe greift und dann nicht nur mittelbar sondern auch unmittelbar zum Massenmörder wird.
Georg Albert Wilhelm Heuser kam am 27. Februar 1913 als Sohn des Kaufmanns Albert Heuser und dessen Ehefrau Margarete, geb. Steinbock in Berlin zur Welt. Er stammte aus sog. kleinen Verhältnissen, sein Vater war in den 1930er Jahren arbeitslos und später in der NS-Zeit Reichsangestellter – was auch immer man darunter zu verstehen hat.
Heuser besuchte zunächst die Volksschule und dann ab 1919 das Reform-Realgymnasium in Berlin-Lichtenberg. Dort machte er im März 1932 Abitur. Ab Sommersemester 1932 studierte er an den Universitäten Berlin, Königsberg und Prag Rechtswissenschaften. Während des Studiums war er für einige Monate beim Reichsarbeitsdienst und nahm an mehrmonatigen Lehrgängen der Luftwaffe teil. Er war zuletzt Feldwebel und Reserveoffizieranwärter. Im Sommer 1936 bestand er vor dem Kammergericht in Berlin die erste juristische Staatsprüfung und begann dann seinen juristischen Vorbereitungsdienst in Berlin.
Schon bald merkte er aber, dass ihm diese juristische Tätigkeit nicht so lag und auch die Berufsaussichten nicht günstig waren. Deshalb meldete er sich schon im Frühjahr 1938 für die Laufbahn eines Kriminalkommissars – schließlich hatte ja Polizei im Hitler-Deutschland „Hochkonjunktur“. Alsbald schied er aus dem juristischen Vorbereitungsdienst aus und trat am 1. Dezember 1938 als Kriminalkommissaranwärter bei der Kriminalpolizei ein. Er durchlief in der Ausbildung alle Zweige der Kriminalpolizei und war auch beim SD (Sicherheitsdienst) und bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) tätig. Aufgrund seiner juristischen Vorbildung und seiner guten Leistungen wurde seine Ausbildungszeit abgekürzt Im Frühjahr 1940 nahm er an dem Kriminalkommissarlehrgang an der Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin-Charlottenburg – einer Kaderschmiede der „Kriminalen“ – teil und bestand die Abschlussprüfung im Februar 1941 als Lehrgangsbester. Zur gleichen Zeit wurde Heuser, der zu Beginn des Krieges der SS beigetreten war, SS-Untersturmführer. Damit hatte Heuser im Alter von 28 Jahren die Grundlagen für seine weitere Karriere gelegt. Er war Kommissar bei der Kripo-Leitstelle Berlin und SS-Untersturmführer, was dem Dienstgrad eines Leutnants entsprach.
In eben dieser Zeit liefen die Vorbereitungen Hitler-Deutschlands für einen Angriff auf die Sowjetunion (sog. Fall Barbarossa) auf vollen Touren. Ich darf daran erinnern, dass Hitler-Deutschland mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg entfesselt und dann im Mai 1940 mit dem sog. Westfeldzug Luxemburg, Belgien, die Niederlande und dann auch Frankreich überfallen hatte, zuvor war auch noch Norwegen besetzt worden. Seit Juli 1940 plante Hitler – nach diesen für Deutschland so erfolgreichen Blitzkriegen und Blitzsiegen – den Angriff auf die Sowjetunion. Das war kein Präventivkrieg, wie es von Geschichtsknittelern bisweilen hingestellt wird. Hitlers Entschluss zur Offensive entsprang nicht der tiefen Sorge vor einem drohenden sowjetischen Angriff, sondern war Ausdruck seiner Aggressionspolitik, wie sie seit 1938 immer deutlicher zum Ausdruck gekommen war.
Am 30. März 1941 – Heuser war gerade Kriminalkommissar und Untersturmführer geworden – fasste Hitler in einer 2 1/2 –stündigen Rede vor den Generälen aller Wehrmachtsteile seine zukünftige ideologische Konzeption gegenüber der Sowjetunion zusammen. Zunächst fällte Hitler – wie es hieß – ein vernichtendes Urteil über den Bolschewismus, den er als „asoziales Verbrechertum“ bezeichnete. Der Kommunismus stelle für die Zukunft eine ungeheure Gefahr dar. „Wir müssen“ – so Hitler weiter – „von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken“, denn der Kommunist sei „vorher kein Kamerad und auch nachher kein Kamerad“. Es handele sich vielmehr um einen Vernichtungskampf. Würde Deutschland diesen Krieg nicht so auffassen, dann würde der Feind zwar geschlagen, aber in 30 Jahren werde der kommunistische Feind Deutschland erneut gegenüberstehen. „Wir führen nicht Krieg, um den Feind zu konservieren“, erklärte Hitler. Dieser Kampf werde sich wesentlich von dem Kampf im Westen unterscheiden; im Osten sei „Härte mild für die Zukunft“.
Hitler und seine engsten Berater wollten die nach dem Krieg besetzten Gebiete bis zum Ural als „Lebensraum“ rücksichtslos „beherrschen, verwalten und ausbeuten“. Jede Rücksichtnahme lehnten sie als sentimentale Gefühlsduselei ab. Der sog. Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler fasste das einmal in die Worte: „Wie es Russen, Tschechen (…) geht, ist mir total gleichgültig, ob sie im Wohlstand leben oder vor Hunger verrecken, interessiert mich nur insoweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht.“ Nach dem sog. „Generalplan Ost“ sollten später fast 75 Prozent der slawischen Bevölkerung nach Sibirien ausgesiedelt werden; dem zurückbleibenden Rest der „Fremdvölker“ aber war ein Helotendasein im Stile extremer imperialistischer Kolonialpolitik bestimmt. Gleichzeitig sollte in den Ostgebieten eine „großzügige Siedlungspolitik“ eingeleitet, deutsche Volksgruppen und als Folge einer planmäßigen Rassenpolitik Norweger, Schweden, Dänen und Niederländer angesiedelt werden. Darin sahen Hitler und seinesgleichen das letzte, große erstrebenswerte Ziel ihrer Politik: Europa sollte unter der Führung der deutschen Herrenrasse rassisch völlig neu gestaltet werden und ein „Großgermanisches Reich“ entstehen. Hierzu mussten als erstes die Juden „endgültig“ ausgerottet und die – wie man es demagogisch nannte - „jüdisch-bolschewistische Verschwörung“ vernichtet werden.
Ehe dann am 22. Juni 1941 der Überfall auf die Sowjetunion begann, hatte Hitler zwei wichtige Befehle erlassen bzw. initiiert. Das eine war der sog. Gerichtsbarkeitserlass Barbarossa. Damit wurde die Kriegsgerichtsbarkeit in den zu besetzenden sowjetischen Gebieten von vornherein ausgeschaltet. Er sah eine Straffreiheit bei gesetzwidrigem Vorgehen gegen Zivilisten vor sowie die Ahndung von Straftaten Einheimischer gegen die Besatzungsmacht ohne Gerichtsverfahren. Der sog. Kommissarbefehl des Oberkommandos der Wehrmacht ordnete eine „Liquidierung“ sowjetischer politischer Kommissare an. In diesem Befehl vom 6. Juni 1941 heißt es u.a.:
Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den politischen Kommissaren aller Art als den eigentlichen Trägern des Widerstandes eine hasserfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten (…) Die Urheber barbarischer asiatischer Kampfmethoden sind die politischen Kommissare. Gegen diese muss daher sofort und ohne weiteres mit aller Schärfe vorgegangen werden. Sie sind daher, wenn im Kampf oder im Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen.
Am 22. Juni 1941 setzte sich dann die größte Kriegsmaschinerie der Weltgeschichte in Bewegung. Mit 3 Millionen Soldaten, 3580 Panzern und 2000 Maschinen der Luftwaffe griff das deutsche Feldheer in drei Heeresgruppen die Sowjetunion an. Die eine Heeresgruppe war die Heeresgruppe Nord, die zweite die Heeresgruppe Mitte und die dritte die Heeresgruppe Süd. Diesen drei Heeresgruppen folgten vier Einsatzgruppen. Die Einsatzgruppen waren in Ausfüllung der Himmler von Hitler erteilten Sondervollmachten aufgestellt worden. Hitler hatte nämlich dem „Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei“ in den sog. „Richtlinien auf Sondergebieten“ für den Fall Barbarossa zur Vorbereitung der politischen Verwaltung Sonderaufgaben übertragen, „die sich aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier entgegen gesetzter politischer Systeme ergeben“. Diese Einsatzgruppen wurden ab Mai 1941 aufgestellt aus Angehörigen des SD, Beamten der Kriminalpolizei und der Geheimen Staatspolizei sowie Mitgliedern der Waffen-SS. Sie unterstanden dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich.
Die Einsatzgruppen waren mobile Einheiten und waren den vorrückenden Heeresgruppen zugeordnet. Der Heeresgruppe Nord folgte die Einsatzgruppe A („Baltikum“) nach, der Heeresgruppe Mitte die Einsatzgruppe B („Weißruthenien“ – so nannten die Nazis Weissrußland), der Heeresgruppe Süd die Einsatzgruppe C („Ukraine“) und schließlich die Einsatzgruppe D („Krim“), sie war der 11. Armee zugeordnet, die Aufgaben im Bereich der Halbinsel Krim hatte.
Jede Einsatzgruppe bestand aus Sonderkommandos und aus Einsatzkommandos. In einem zwischen der Wehrmacht und Himmler im März 1941 abgeschlossenen Abkommen wurden die Aufgaben der Einsatzgruppen und ihrer Einsatz- und Sonderkommandos sowie die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen ihnen und den Verbänden der Wehrmacht geregelt. Danach sollten die Einsatzgruppen das rückwärtige Gebiet säubern und sichern, Material sicherstellen und Saboteure und Terroristen unschädlich machen. Sie erhielten die ausdrückliche Befugnis, „in eigener Verantwortung“ Exekutivmaßnahmen gegenüber der Zivilbevölkerung zu ergreifen – und dafür waren sie dann durch den bereits erwähnten Gerichtsbarkeitserlass von einer Strafverfolgung befreit. Als Operationsgebiet wurde den Einsatzkommandos das rückwärtige Heeresgebiet zugewiesen, während die Sonderkommandos unmittelbar hinter der kämpfenden Truppe im rückwärtigen Armeegebiet zum Einsatz gelangen sollten. Die wichtigste Aufgabe der Einsatzgruppen war neben der Vernichtung der Kommunisten und anderer potentieller Gegner – die Tötung der in den Ostgebieten lebenden Juden sowie später auch die Tötung der aus dem Westen in den Osten deportierten Juden.
In diesen Vernichtungskampf griff Georg Heuser im Spätsommer 1941 ein. Inzwischen war er in Berlin zum Kriminalrat auf Probe ernannt und zum SS-Obersturmführer (entsprechend: Oberleutnant) befördert worden. Im Oktober 1941 wurde Heuser noch unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit zum Kriminalkommissar ernannt. Bereits kurz vor dieser Ernennung kommandierte man ihn zum Osteinsatz zur Einsatzgruppe A nach Riga. Von dort kam er zum Sonderkommando 1 b. Dieses SK 1 b bestand aus etwa 70 bis 80 Mann. Chef dieses Sonderkommandos war ein gewisser Erich Ehrlinger – wir werden noch von ihm hören. Über diese frühe Zeit Heusers im Osteinsatz wissen wir kaum etwas. Geprägt war diese Zeit im Übrigen durch den schnellen Vormarsch der deutschen Truppen. Schon bald waren der gesamte baltische Raum, Weißruthenien und die Ukraine besetzt. Sie wurden überwiegend für befriedet erklärt und die Deutschen gingen daran, dort eine Zivilverwaltung aufzubauen.
Oberste Spitze dieser Zivilverwaltung war das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete mit dem Reichsminister Alfred Rosenberg an der Spitze. Dem Ministerium nachgeordnet waren die beiden Reichskommissariate, das Reichskommissariat für das Ostland und das Reichskommissariat für die Ukraine. Das Reichskommissariat Ostland bestand aus vier Generalkommissariaten, nämlich
Estland
Lettland
Litauen und
Weißruthenien.
Sitz des Generalkommissariats Weißruthenien war Minsk; Chef des Generalkommissariats, also Generalkommissar, war der Gauleiter Erich Kube – auch auf ihn werden wir noch einmal zurückkommen. Zum Aufbau der Zivilverwaltung des Generalkommissariats Weißruthenien brauchte man nun das erwähnte Sonderkommando 1 b der Einsatzgruppe A. Denn die eigentlich dafür vorgesehene Einsatzgruppe B hatte inzwischen Minsk geräumt und war weiter nach Osten verlegt werden, sie sollte beim Vormarsch auf Moskau mit dabei sein. Deshalb wurde das Sonderkommando 1 b unter Führung von Erich Ehrlinger und mit Heuser im Spätherbst 1941 nach Minsk kommandiert. Ihre Aufgabe war es, die Sicherheitspolizei und den SD in Weißruthenien aufzubauen. Dies sollte geschehen und geschah dann auch durch die Dienststelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD Weißruthenien“ in Minsk – die Dienststelle wurde abgekürzt: KdS.
Chef dieser Dienststelle KdS war zunächst der bereits erwähnte Erich Ehrlinger. Er war SS-Obersturmbannführer (entsprechend: Oberstleutnant). In dieser Dienststelle fand auch Heuser seinen Platz. Er wurde Leiter der Abteilung IV/V. Das Schwergewicht der Tätigkeit dieser Abteilung lag bei den Gestapoangelegenheiten, und dazu gehörten auch die Judensachen. Heuser war also Gestapochef von Minsk und als solcher u.a. zuständig für die sog. Judenangelegenheiten.
Die Einsatzgruppen hatten Heydrich fortwährend zu berichten. In einem dieser Berichte, der nicht datiert ist, vermutlich aber von Januar 1942 stammt, heißt es u.a.:
Der weißruthenische Raum ist von allen Ländern im Ostland am dichtesten mit Juden besetzt. Im Jahre 1926 wurden (…) weit über 400.000 Juden gezählt. (…) Diese Zahlen sind jedoch ungenau und sicherlich zu niedrig gegriffen, was daraus hervorgeht, dass weit mehr Personen „Yiddisch“ als ihre Muttersprache angegeben haben, als im gleichen Zählbezirk angeblich Juden vorhanden waren. Weitaus die Hälfte der Juden im weißruthenischen Siedlungsraum lebte bei Kriegsbeginn in den größeren Städten. In ganz besonderem Maße war Minsk mit Juden besetzt, wo es 1939 bei einer Einwohnerzahl von 218.000 rund 100.000 Juden gab. (…) Die endgültige und grundlegende Beseitigung der nach dem Einmarsch der Deutschen im weißruthenischen Raum verbliebenen Juden stößt auf gewisse Schwierigkeiten. Das Judentum bildet gerade hier einen außerordentlich hohen Prozentsatz der Facharbeiter, die mangels anderweitiger Reserven im dortigen Gebiet unentbehrlich sind. Ferner hat die Einsatzgruppe A das Gebiet erst nach Eintritt des starken Frostes übernommen, die Massenexekutionen stark erschwerten. (…) Trotzdem wurden bisher 41.000 Juden erschossen. Hierin sind nicht die Zahlen der durch die früheren Einsatzkommandos durchgeführten Aktionen enthalten. Nach schätzungsweisen Angaben sind von der Wehrmacht bis Dezember 1941 ungefähr 19.000 Partisanen und Verbrecher, d.h. also in der Mehrzahl Juden, erschossen worden. Zurzeit kann für das Gebiet des Generalkommissariats mit rund 128.000 Juden gerechnet werden. In Minsk selbst leben zurzeit – ohne Reichsdeutsche – rund 18.000 Juden, deren Erschießung mit Rücksicht auf den Arbeitseinsatz zurückgestellt werden musste. Der Kommandeur in Weißruthenien ist trotz der schwierigen Lage angewiesen, die Judenfrage baldmöglichst zu liquidieren. Ein Zeitraum von ca. zwei Monaten wird jedoch – je nach Witterung – noch notwendig sein.
Die ersten Massenerschießungen fanden am 1. bis 3. März 1942 statt. Dazu wurden mehr als 3.000 Juden von Räumkommandos aus dem Minsker Ghetto zum Güterbahnhof getrieben. Sie wurden in Güterwagen verladen und dann an einen ca. 30 Kilometer entfernten Ort gebracht. Dort hatte man schon mehrere Gruben ausgehoben. Unter Schlägen trieb man die Juden dorthin, verlangte, dass sie sich auszogen, und dann an den Rand der Grube gingen. In der Nähe hatten 10 bis 20 Mann Aufstellung genommen. Diese suchten sich ihre Opfer nach Gutdünken aus, veranlassten sie stehen zu bleiben. Mit einem Genickschuss töteten sie sie, die dann meist schon von selbst in die Grube fielen. An einem Tag war Heuser auch als Schütze eingeteilt. Mit eigener Hand tötete er eine unbekannte Vielzahl von Menschen. Insgesamt wurden an diesem Tag mindestens 1.000 russische Juden erschossen.
Wie es Heuser bei dieser „Aktion“ zumute war, wissen wir nicht. Einen gewissen Anhalt mag ein Brief eines Verwaltungsbeamten von Anfang Oktober 1941 geben, den er von Weißruthenien aus seiner Frau nach einer solchen Aktion nach Hause schrieb. Darin heißt es u.a.:
Ich weiß ja gar nicht, ob ich überhaupt Dir das schreiben darf, aber dass die Juden unser Unglück sind, das ist Dir ja schon seit langem bekannt. (…) Es ist einfach furchtbar, diese asiatischen Horden ansehen zu müssen. Wie kommen wir uns europäische Menschen da vor. (…) Du kannst also die Verbitterung verstehen, die mich beherrscht und die alle hier fühlen in dem Gedanken an unsere Heimat und unseren großen Schicksalskampf, den wir hier für unser Volk durchkämpfen müssen. Was liegt schon an 1.200 Juden, die wieder irgendeinmal in einer Stadt zuviel sind und umgelegt werden müssen, wie es so schön heißt. Es ist nur die gerechte Strafe für soviel Leid, das sie uns Deutschen (angetan) haben und noch immer antun. Bis ich nach Hause komme, werde ich Dir ja schöne Sachen erzählen. Doch heute genug davon, sonst glaubst Du, dass ich blutrünstig bin.
Und in einem weiteren Brief drei Tage später kam derselbe Briefeschreiber noch einmal auf diese „Sonderaktion“ zurück. In diesem Brief heißt es u.a.:
Noch etwas habe ich Dir zu berichten. Ich war also tatsächlich auch dabei bei dem großen Massensterben am vorgestrigen Tage. Bei den ersten Wagen hat mir etwas die Hand gezittert, als ich geschossen habe, aber man gewöhnt [sich an] das. Beim 10. Wagen zielte ich schon ruhig und schoss sicher auf die vielen Frauen, Kinder und Säuglinge. Eingedenk dessen, dass ich auch 2 Säuglinge daheim habe, mit denen es diese Horden genauso, wenn nicht 10 Mal ärger machen würden. (…) Nur weg mit dieser Brut, die ganz Europa in den Krieg gestürzt hat. (…) Ich freue mich eigentlich schon, und viele sagen hier, dass wir in die Heimat zurückkehren, denn dann kommen unsere heimischen Juden dran.
Es kam anders als dieser Verwaltungsbeamter und viele seiner Kameraden dachten. So schnell kehrten sie – wenn überhaupt – nicht aus Russland zurück – und nicht sie waren es, die die heimischen Juden umbrachten, sondern vielmehr wurden die Juden aus dem Westen nach dem Osten deportiert und dort umgebracht – teilweise auch von dem Verwaltungsbeamten und seinen Kameraden, aber eben im Osten.
Mitte bis Ende November 1941 trafen sieben Transporte mit ca. 7.000 Juden, Männer, Frauen und Kinder jeglichen Alters, in Minsk ein. Eine dieser Deportierten sollte der lange Zeit in Koblenz lebende Ernst Brasch sein. Er war der ältere Sohn des 1936 in Koblenz verstorbenen Rechtsanwalts Justizrat Dr. Isodor Brasch. Die Braschs hatten ihr Haus in der Bahnhofstraße/Ecke Rizzastraße – heute: Hauptsitz der Koblenzer Sparkasse. Dort sind inzwischen für die Eheleute Brasch und ihre beiden Söhne Ernst und Walter sowie dessen Familie „Stolpersteine“ verlegt. Emma Brasch hatte hier in Koblenz noch die Novemberpogrome erleiden müssen. Dabei hatte die SA nicht nur die Wohnung demoliert sondern auch noch die alte Dame in der Nachtwäsche in den Garten getrieben und sie dort fotografiert, um das Bild dann als Hetzfoto im „Stürmer“ zu veröffentlichen. Danach war sie zu ihrem älteren Sohn Ernst und seiner Familie nach Frankfurt/Main umgezogen. Ernst Brasch war schon vor Jahren von Koblenz nach Frankfurt/Main verzogen und war dort bis 1933 Regierungsrat beim Finanzamt. Auch er war von den Novemberpogromen 1938 betroffen und wurde danach festgenommen und ins KZ Buchenwald verschleppt. Erst nach einigen Wochen kam er wieder frei. Ende der 1930er Jahre konnten Ernst Braschs Frau und ihre beiden Mädchen noch ins Ausland fliehen. Zurückblieb Ernst Brasch, seine alte Mutter zog dann von Koblenz in ein jüdisches Altenheim in Frankfurt/Main. Als dann Ende Oktober 1941 von den Nazis die erste Deportation von Juden aus Frankfurt nach Minsk und anderen Orten im Osten vorbereitet wurde, entzog sich Ernst Brach seiner drohenden Verschleppung durch den Freitod. Nach dessen Tod war die 74-jährige Witwe Emma Brasch in Frankfurt/Main wieder allein. Sie wurde dann ein ¾ Jahr später in das KZ Theresienstadt deportiert und von dort in das Vernichtungslager Treblinka, wo sie noch am Ankunftstag mit Motorabgasen ermordet wurde.
Soweit einige Bemerkungen zu der jüdischen Familie Brasch, vor der Angehörige nach Minsk verschleppt werden sollten. Diese deportierten Menschen kamen dann – sofern sie die Tortur des Transportes überhaupt überlebten - in das Minsker Ghetto. Und zwar kamen sie in denjenigen Teil, den zuvor russische Juden bewohnt hatten, ehe diese dann bei Massenerschießungen umgebracht worden waren. Was genau mit diesen ersten nach Minsk deportierten Juden aus dem Westen geschah, ist nicht bekannt. Jedenfalls gab es im Winter 1941/42 keine weiteren Transporte mehr. Im April 1942 kam Heydrich persönlich nach Minsk und erklärte, dass jetzt auch die deutschen und anderen europäischen Juden – und nicht nur die russischen Juden – vernichtet werden sollten. Gleichzeitig kündigte er die Wiederaufnahme der Ende November 1941 abgebrochenen Judentransporte aus dem Westen nach Minsk an. Er befahl, dass diese sogleich nach ihrer Ankunft zu töten seien.
Entsprechend der Ankündigung Heydrichs trafen von Mai bis Oktober 1942 16 Güterzüge mit ca. 15.000 Juden in Minsk ein, von denen mindestens 13.500 unmittelbar nach ihrer Ankunft getötet wurden. Ermordet wurden diese Menschen auf einem Gelände, das ca. 15 Kilometer von Minsk und ca. 3 – 5 Kilometer von dem Gut Trostinez entfernt lag. Dieses Gut Trostinez war eine ehemalige Kolchose, die die KdS-Dienststelle inzwischen übernommen hatte. Die Tötungsstätte war nur über einen Feldweg zu erreichen, lag abseits jeder menschlichen Ansiedlung und von weitem nur schwer einzusehen.
Die Massentötungen geschahen stets nach einem gleich bleibenden Schema, so dass bald jeder Beteiligte seine Aufgabe genau kannte und diese wahrnahm, ohne dass es noch besonderer Anordnungen bedurft hätte. Im Allgemeinen dauerten die Tötungsaktionen vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag. Die Tötungen erfolgten zunächst mit Genickschuss. Einzelheiten möchte ich Ihnen und auch mir ersparen.
Ab Anfang Juni 1942 wurden auch Gaswagen zur Tötung eingesetzt. Die Dienststelle hatte drei Gaswagen mit einem kastenförmigen Aufbau, wie ein Möbelwagen. Innen waren sie mit Blech ausgeschlagen. Die Opfer lud man am Güterbahnhof Minsk dicht an dicht dort ein. Dann fuhr der Wagen bis zu den Gruben beim Gut Trostinez. Dort angekommen schloss der Fahrer einen Schlauch an und leitete so die Abgase des mit geringem Handgas laufenden Motors des stehenden Wagens in das Innere. Die Insassen gerieten in Panik und im Todeskampf schrien sie und hämmerten an die Wände des Wagens. Nach 20 Minuten wurde es still. Beim Öffnen der Türen bot sich ein schrecklicher Anblick. Stets war es nötig, vor einem neuen Einsatz den Wagen gründlich zu reinigen. Die Toten wurden dann ebenfalls in die ausgehobenen Gruben geworfen. Heuser war an der Vernichtung von fünf dieser Transporte beteiligt. Meistens war er Schütze an der Grube, bei Transporten überwachte er den „ordnungsgemäßen“ Ablauf der „Aktion“.
Die wohl größte Vernichtungsaktion in Weißruthenien fand Ende Juli 1942 statt. Sie richtete sich gegen diejenigen Bewohner des Minsker Ghettos, die nicht arbeitsfähig waren. Ihr fielen auch Juden aus dem Westen zum Opfer, die seit November 1941 im Ghetto lebten. Insgesamt wurden an drei Tagen 9.000 Menschen, und zwar 6.000 russische und 3.000 aus dem Westen stammende Juden, getötet, überwiegend alte Männer, Frauen und Kinder. Die Massentötungen fanden wieder in der Nähe des Gutes Trostinez statt. An zwei Tagen dieser drei Tage währenden Vernichtungsaktion war Heuser unmittelbar beteiligt. An einem Tag war er Schütze an der Grube und am folgenden Tag führte er das sog. Räumkommando, das die Juden aus ihren Behausungen im Ghetto heraustrieb und sie zum Abtransport sammelte.
Später schilderte Heuser dieses Geschehen beispielsweise wie folgt:
Ich fuhr daraufhin zur Grube. Jeder Führer wusste, wo die Exekutionsstelle liegt. Dort hatte Burkhardt bereits Exekutionen im Rahmen des Referats IV a (Judenreferat) durchgeführt bzw. durchführen lassen. (…) Ich stieg aus, holte meine Pistole heraus, schmiss meinen Mantel weg, trat zur Kopfseite der Grube, in der schon erschossene Juden drin lagen. Die Grube war etwa 20 Meter lang, mindestens zwei Meter tief. Später hatten wir tiefere Grube. Als ich an die Grube herantrat und meine Pistole entsicherte, wurde bereits von anderen geschossen. Ich schoss mit, zunächst aber auf solche in der Grube liegende Juden, die noch lebten, dann direkt als Schütze mit Genickschuss. (…) Die Größe es (neu angekommenen Juden-)Transportes ist mir nicht bekannt. Man rechnete „per Achse“. Es war ein Güterzug mit gedeckten Wagen. (…) Auf die Frage, ob die Zahl 1.000 Juden pro Transport richtig sei: Ja, diese Zahl stimmt. (…) Ich fuhr frühmorgens – etwa acht Uhr – zur Exekutionsstelle. Die Zahl der von mir erschossenen Juden ist mir nicht bekannt, ich habe geschossen, Frauen waren dabei, Kinder nicht, diese nur bei Ghettoaktionen. (…) Ich habe immer mein Bier getrunken. (…) Beruhigungsansprachen wurden gehalten, aber nur unregelmäßig, ab und zu. Ich nicht.
Die Bemerkung Heusers mit dem „immer mein Bier getrunken“ hatte übrigens einen ganz bestimmten Hintergrund. Wie später Angehörige der Dienststelle angaben, habe sich Heuser um das Wohl seiner Männer gekümmert. So habe es in Minsk eine ganze Reihe von Veranstaltungen gegeben, Konzerte, Gedichtvorträge, Film- und Theatervorführungen, Fußballspiele („VfL Minsk gegen SS- und Polizeisportgemeinschaft“) und auch „Kameradschaftsabende“. Dort ging es so feucht-fröhlich her, dass der von Himmler beklagte „Alkoholmissbrauch“ und andere Ausschweifungen in Minsk besonders ausgeprägt waren. Die eigenen Beschäftigten der Dienststelle bezeichneten diese selbst später als „Sauhaufen“. Gerade die Massenerschießungen waren Anlass für Besäufnisse. So verwaltete ein Bediensteter nach eigenen Angaben zehntausende Wodkaflaschen, die für die Teilnehmer an Massenerschießungen bestimmt waren. Das bereits erwähnte Gut Trostinez, in dessen Nähe die Massenerschießungen stattfanden, diente der Dienststelle übrigens als Ausflugsort und Bezugsquelle für Pelzmäntel und andere Wertsachen aus der Hinterlassenschaft der Opfer.
In diesem Zusammenhang noch ein Wort zur Mitwirkung von Heuser bei diesen „Aktionen“. Wir wissen, dass Heuser Leiter der Abteilung IV/V wurde. Das Schwergewicht der Tätigkeit dieser Abteilung lag bei den Gestapoangelegenheiten, und dazu gehörten auch die Judensachen. Heuser war also Gestapochef von Minsk und als solcher u.a. zuständig für die sog. Judenangelegenheiten. Das bedeutete aber offenbar nicht, dass er einen bestimmenden Einfluss auf die Durchführung solcher Massenerschießungen hatte in dem Sinne, dass er – wie wir Juristen sagen – die Herrschaft über das Tatgeschehen in seinen Händen hielt. Die Weisungen gingen vom Reichssicherheitshauptamt aus und diese wurden dann von den jeweiligen Kommandeuren und Befehlshabern umgesetzt. Diese wählten die Opfer aus und legten ihre ungefähre Zahl fest. Sie suchten das Exekutionsgelände aus und regelten die Einzelheiten der Tötungen, wie z.B. das Ausheben genügend großer Gruben sowie die Aufteilung ihrer Männer auf verschiedene Kommandos und deren Einsatz. Die Vernichtung der Juden war von ihnen in einer Weise durchorganisiert, dass alle Aktionen nach einem stets gleichen oder doch ähnlichen Schema abliefen. Heuser war als Abteilungsleiter in diesen bürokratischen Ablauf als „Schreibtischtäter“ eingeschaltet, hatte aber wohl nicht - jedenfalls konnte man das nicht beweisen - das „Sagen“. Darüber hinaus – und das ist dann etwas anderes – beteiligte sich Heuser auch persönlich an solchen Aktionen, indem er an Massenerschießungen selbst schoss oder solche Aktionen beaufsichtigte u.ä.
Einen weiteren Massenmord an den Juden gab es bei der Auflösung des Ghettos in Minsk im Herbst 1943. Auch bei der Vernichtung der in Minsk verbliebenen 4.500 russischen und deutschen Juden im Oktober 1943 war Heuser unmittelbar beteiligt. An einem Tag leitete er das Räumkommando und an einem anderen Tag war er wiederum auf dem Tötungsgelände bei dem Gut Trostinez, um in der schon angesprochenen Weise mittels Genickschuss zu töten.
Weitere Tötungen, an denen Heuser in Minsk beteiligt war, standen im Zusammenhang mit dem im Laufe des Jahres 1943 zunehmenden Widerstand der weißruthenischen Bevölkerung gegen die deutsche Besatzung. So gab es im Sommer Bombenanschläge gegen deutsche Einrichtungen, die neben Sachschäden auch Tote und Verletzte bewirkten. Die Folge waren sog. Vergeltungsaktionen an unschuldigen Minsker Bürgern, dabei wurde jeder tote Deutsche mit dem Mord an 100 Einwohnern von Minsk „vergolten“. Am 6. September 1943 explodierte dann im Ofen des Speisesaals von Heusers Dienststelle eine Haftmine. Mehrere Personen wurden getötet, andere verletzt. Als Täter ermittelte man einen auf der Dienststelle beschäftigten polnischen Juden; er wurde nach einigen Tagen im Hof der Dienststelle erhängt. Nur wenig später, in der Nacht vom 21. auf den 22. September 1943, war ein Attentat auf den Gauleiter Kube erfolgreich. Als er sich zum Schlafen hinlegte, explodierte eine unter seinem Bett angebrachte Haftmine. Zur „Vergeltung“ sperrten weißruthe-nische Hilfswillige einige Tage später einen Straßenzug in Minsk und holten nach und nach 300 Männer, Frauen und auch Kinder aus den Häusern und fuhren sie schubweise zu einer Grube in der Umgebung von Minsk. Dort wurden sie – wie bei den Tötungen von Juden – mit Genickschuss umgebracht. An dieser „Vergeltungsaktion“ war u.a. auch Heuser beteiligt.
Unterdessen liefen auch die Ermittlungen wegen des Anschlags auf den Speisesaal auf Hochtouren weiter. Der angeblichen unmittelbaren Täter hatte man ja schon nach wenigen Tagen ohne Gerichtsverhandlung und ohne alles erhängt. Nun suchte man nach den Hintermännern und Helfern. Dies führte zur Festnahme von drei polnischen Juden, zwei Männern und einer Frau. Das Reichssicherheitshauptamt in Berlin „verurteilte“ diese drei (das geschah - wie in solchen Fällen üblich – gänzlich ohne Gerichtsverfahren) zum Tode und verlangte für sie eine besondere Todesart. Diese hatte sich die Dienststelle von Heuser auch einfallen lassen. Um die Zusammenhänge dazu verstehen zu können, muss ich hier kurz auf die „Enterdung“ zu sprechen kommen.
Wie bereits wiederholt erwähnt, führten die Massentötungen dazu, dass die ermordeten Menschen in Gruben bei dem Gut Trostinez verscharrt wurden. Im Frühjahr/Sommer 1943 befahl das Reichssicherheitshauptamt diese Spuren von den Massentötungen zu beseitigen. Vorausgegangen war, dass Hitler-Deutschland die Schlacht um Stalingrad verloren hatte und sich die sowjetischen Truppen auf dem Vormarsch befanden. Zudem hatten die Deutschen am 13. April 1943 bei Katyn, 20 Kilometer von Smolensk entfernt, Massengräber mit den Leichen von über 4.000 polnischen Offizieren entdeckt, die dort im Frühjahr 1940 von der sowjetischen Geheimpolizei NKWD ermordet worden waren. Goebbels nutzte diesen Fund sogleich für eine Propagandaoffensive gegen die Sowjets aus. Vor diesem Hintergrund wollten die Nazis natürlich nicht, dass ihre eigenen – viel zahlreicheren - Massengräber mit ermordeten Juden von den Sowjets entdeckt wurden. Deshalb wurde befohlen, die gesamten Massengräber zu öffnen – die Toten also zu „enterden“ (daher dieser fremde Begriff), die Leichen zu verbrennen und die Gräber dann wieder dem Erdboden gleich zu machen. Das geschah durch den Erlass Nr. 1005, deshalb nannte man das Kommando „Sonderkommando 1005“. Das war natürlich keine Arbeit für Deutsche. Diese hatten vielmehr russische Häftlinge zu erledigen. Sie öffneten die Gräber, zogen mit Eisenhaken die teilweise weitgehend verwesten Leichen heraus und trugen sie dann auf Bahren zu dem Platz, auf dem sie verbrannt werden sollten. Sie errichteten jeweils mehrere Meter hohe Stapel, indem sie eine Lage Holz und eine Lage Leichen abwechselnd so auftürmten, dass genügend Luftzufuhr blieb. Die Stapel wurden mit Öl übergossen und angesteckt. Es dauerte dann bis zu zwei Tage, bis so ein Leichenstapel abgebrannt war. - Heuser – um den es hier geht - war allerdings an diesem Sonderkommando nicht unmittelbar beteiligt. Trotzdem bekam er am Rande noch etwas mit dieser „Enterdungsaktion“ zu tun – und zwar im Zusammenhang mit den erwähnten beiden polnischen Männern und der Frau, die anlässlich des Anschlages auf den Speisesaal vom Reichssicherheitshauptamt „zum Tode verurteilt“ worden waren.
Anfang November 1943 wurde das „Enterdungskommando“ nämlich angewiesen, einen Leichenstapel vorzubereiten, auf dem dann die beiden angeblichen Hintermänner und die Frau bei lebendigem Leibe verbrannt werden sollten. Zu der Verbrennung fanden sich ca. 10 SS-Führer und Unterführer der Minsker Dienststelle, darunter auch Heuser, ein. Daraufhin brachte man die beiden Männer und die Frau. Sie mussten sich ausziehen und auf einer Leiter den Leichenstapel hinaufklettern. Zumindest einer der drei, jedenfalls aber die Frau, wurde an dem auf dem Leichenberg aufgerichteten Pfahl angebunden. Der Scheiterhaufen wurde dann angezündet und stand kurz darauf in Flammen. Die Frau und einer der beiden Männer verbrannten in dem Feuer. Während der Mann sehr bald lautlos in sich zusammensackte, stieß die Frau einen furchtbaren, gellenden Schmerzensschrei aus, bevor auch sie durch den Tod von ihren entsetzlichen Qualen erlöst wurde. Dem dritten Opfer gelang es, von dem Scheiterhaufen herabzuspringen. Er wälzte sich auf dem Boden und schrie. Sofort eilte ein SS-Unterführer der Dienststelle herbei und erschoss den Mann mit seiner Pistole. Heuser und eine Gruppe von SS-Führern standen bei dem Leichenstapel und sahen dem Geschehen zu.
Der Vollständigkeit halber soll noch erwähnt werden, dass Heuser im Herbst 1943 eine junge Russin, die man für eine Agentin hielt, auf den Ghettofriedhof von Minsk fuhr und dort erschoss. Das gleiche widerfuhr einer weiteren jungen Russin. Heuser erschoss ebenfalls einen katholischen Priester.
Ende Juni 1944 kam dann das Ende der deutschen Besetzung von Minsk. Zu dieser Zeit brach der Mittelabschnitt der Ostfront zusammen und bald darauf verließen als erstes die Bediensteten der zivilen Stellen die Stadt, darunter auch die Beschäftigten von Heusers Dienststelle. Heuser selbst bildete mit einigen Männern noch das Nachkommando, das vor allem noch Akten vernichten sollte. Erst kurz vor der Befreiung von Minsk durch die Rote Armee verließ er die Stadt.
Lässt man die Morde, die die zunächst agierende Einsatzgruppe B in Minsk und seiner unmittelbaren Umgebung zunächst verübt hat, außer Betracht, so kann man für die Tätigkeit des Sonderkommandos 1 b und des KdS, also der Dienststelle von Heuser, für die Zeit von Dezember 1941 bzw. März 1942 bis Juni 1944 folgende Bilanz ziehen: In dieser Zeit sind allein bei Massenexekutionen mindestens 31.970 Juden getötet worden. Unter diesen waren 21.965 aus dem Westen nach Minsk deportierte Juden, von diesen haben nicht mehr als 30 Personen überlebt. Für den Tod einer Vielzahl dieser Menschen war Heuser unmittelbar verantwortlich, und zwar deshalb, weil er sie selbst tötete oder mit anderen, die töteten, bei der Tötung anwesend war, oder weil er Leiter von Räumkommandos oder Überwachungskommandos war. Man wird dabei von einer Zahl von mindestens 11.100 Menschen auszugehen haben.
Nach der Räumung von Minsk Ende Juni 1944 begab sich Heuser nach Westpreußen. An dem dortigen Polizeiinstitut war er ein Monat lang Lehrer. In dieser Zeit wurde er noch zum SS-Hauptsturmführer (entsprechend: Hauptmann) befördert.
Ende August 1944 kam Heuser in die Slowakei. Hierzu darf ich daran erinnern, dass Hitler nach dem Münchner Abkommen vom 30. September 1938, dem Einmarsch deutscher Truppen in Böhmen und Mähren und der Errichtung des Protektorats die Tschechoslowakische Republik zerschlagen hatte. Die Slowakei proklamierte ihre Unabhängigkeit, war aber ein Satellit des Deutschen Reiches und vollkommen von Hitler abhängig. Im Jahre 1944 wurde die antideutsche Stimmung aber dort immer stärker, zumal sich die Rote Armee der slowakischen Grenze näherte. Ende August 1944 kam es zu Aufstand aller nationalslowakischen Kräfte. Daraufhin erteilte der Staatspräsident Josef Tiso auf deutschen Druck hin die Zustimmung zum Einmarsch deutscher Truppen in die Slowakei. Noch Ende August 1944 rückten deutsche Truppen in die Slowakei ein. Gleichzeitig wurde aus Kräften der Sicherheitspolizei die Einsatzgruppe H gebildet.
Zur Niederwerfung des Aufstandes wurden drei Kampfgruppen eingesetzt, u.a. die Kampfgruppe „Schill“. Diesen Kampfgruppen wurden wiederum Kommandos zugeordnet, der Kampfgruppe „Schill“ das Einsatzkommando EK 14. Das stand unter dem Kommando Heusers. Diese Kommandos unterstanden der Einsatzgruppe H. In zwei Monaten gelang es, deutschem Militär sowie SS- und Polizeieinheiten den Aufstand niederzuschlagen. Währenddessen wurden über 3.600 slowakische Zivilisten, vor allem Juden, ermordet. Die noch in den Konzentrationslagern internierten Juden fielen dabei einer zweiten Deportationswelle in die Vernichtungslager des Ostens zum Opfer. Aus dieser Zeit gibt es Tagesberichte der Einsatzgruppe H, die Tätigkeiten des Einsatzkommandos 14 betreffen. So heißt es z.B. in dem Tagesbericht vom 21. Oktober 1944:
Von EK 14 wurden 18 Juden – davon zwei ungarische -, eine slowakische Spionin, zwei slowakische Banditen und ein Zigeuner sonderbehandelt.
Und im Bericht vom 23. Oktober 1944 ist ausgeführt:
Einsatzkommando 14 meldet Festnahme von 64 ehemaligen slowakischen Soldaten, davon Überweisung in Konzentrationslager: 53. 77 Personen wurden wegen Bandenbegünstigung festgenommen, davon Überweisung in Konzentrationslager: 64, sonderbehandelt: 13.
3 Kriegsgefangene wurden dem Konzentrationslager überführt. Weiterhin wurden festgenommen 32 Juden, 1 Zigeuner und 1 slowakischer Spion. Die beiden letzteren wurden sonderbehandelt. Im Stadtgebiet von Pressburg wurden 4 Juden festgenommen.
Im März 1945 musste Heuser mit seinem Einsatzkommando 14 die Slowakei verlassen und war dann noch als Führer einer Kampfgruppe im Raum Krems/Donau tätig.
Nach der Befreiung, die für Heuser natürlich eine Niederlage war, legte er sich Zivilkleidung zu und entging so der Gefangenschaft. Er begab sich nach Goslar, wo eine Schwester von ihm lebte. Dort gab er sich als Dr. Heuser und als Rechtsanwalt aus und verrichtete Gelegenheitsarbeiten. Noch 1945 heiratete er eine in seiner Dienststelle in Minsk beschäftigt gewesene Angestellte.
Mit der Währungsreform kam Heuser nach Rheinland-Pfalz, und zwar zunächst in die Pfalz. Erst war er Angestellter einer Transportfirma in Mutterstadt, dann einer Akkumulatorenfabrik in Ludwigshafen. Die „Entnazifizierung“ überstand Heuser unbeschadet. Von Anfang an hatte er seine frühere Mitgliedschaft in der SS und seine Zugehörigkeit zu dem Sonderkommando 1 b sowie zu der Dienststelle in Minsk verschwiegen. Daraufhin stellte der Untersuchungsausschuss in Ludwigshafen ihm 1949 eine Bescheinigung aus, wonach er von der politischen Säuberung im Land nicht betroffen sei. Heuser war dann zunächst weiter bei der Akkumulatorenfabrik beschäftigt. Nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit fand er im Oktober 1953 Arbeit als Aushilfsangestellter beim Ausgleichsamt in Ludwigshafen.
Nachdem Heuser als Unterbringungsberechtigter nach dem Gesetz zu Artikel 131 GG anerkannt worden war, machte er richtig Karriere. Im Mai 1954 wurde er als Kriminaloberkommissar in den Kriminalpolizeidienst des Landes eingestellt. Acht Monate später beförderte man ihn zum Kriminalhauptkommissar und betraute ihn mit der Leitung der Kriminalpolizei in Kaiserslautern. Zum Verfassungstag des folgenden Jahres, am 18. Mai 1956, wurde er Kriminalrat und schaffte damit den Aufstieg in den höheren Dienst. Zwei Monate später ordnete man ihn zum Landeskriminalamt in Koblenz ab und bestellte ihn zum ständigen Vertreter des Leiters des Landeskriminalamtes. Noch im selben Jahr wurde er nach Koblenz versetzt und dann ein Jahr später mit der kommissarischen Wahrnehmung der Geschäfte des Leiters des Landeskriminalamtes betraut. Zum 1. Januar 1958 wurde er zum Kriminaloberrat befördert und zum Leiter des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz mit Sitz in Koblenz berufen. Damit hatte Heuser innerhalb von 3 ½ Jahren drei Beförderungen erfahren und war oberster „Kriminaler“ von Rheinland-Pfalz.
Dieses Jahr 1958 war der Höhepunkt in der an Höhepunkten reichen Karriere von Georg Heuser. - Von da ab ging es schnell bergab und dann die Karriere zu Ende.
Stein des Anstoßes war der sog. Ulmer Einsatzgruppenprozess ebenfalls im Jahr 1958. Das war der erste große Prozess gegen NS-Täter vor einem deutschen Strafgericht – und das 13 Jahre nach Kriegsende. - Allerdings betraf – das will ich hier der Vollständigkeit halber erwähnen - auch ein Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, einer der Folgeprozesse des Hauptkriegsverbrecherprozesses, die Verbrechen der Einsatzgruppen. Angeklagt waren in diesem Prozess Nr. 9 der Nürnberger Folgeprozesse, der den Namen „Einsatzgruppenprozess“ hatte, 24 ehemalige Angehörige der Einsatzgruppen. Der Prozess litt daran, dass er recht schlecht vorbereitet war und die Alliierten geringe Kenntnisse über die Tätigkeiten der Einsatzgruppen und die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort hatten. Immerhin endete das Verfahren mit 14 Todesurteilen. Indessen wurden nur vier Todesurteile auch vollstreckt. Im Mai 1958 kamen die letzten Verurteilten frei. Eine Signalwirkung – im Sinne der Aufklärung der Verbrechen - hatte der Prozess ohnehin nicht, galten die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse vielen Deutschen als „Siegerjustiz“.
So war es dem bereits erwähnten Ulmer Einsatzgruppenprozess vorbehalten, diese Verbrechen in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit zu bringen. Vor Gericht in Ulm standen der Polizeichef von Memel sowie neun weitere Angehörige des Einsatzkommandos „Tilsit“, einer Unterabteilung der Einsatzgruppe A („Baltikum“). Dieser Polizeichef von Memel wurde wegen Beihilfe zum Mord in 526 Fällen zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Prozess fand ein großes Interesse in den Medien und hatte weitreichende Folgen. Es wurde offensichtlich, dass ein Großteil der Massenverbrechen bislang nicht untersucht und geahndet worden war und dass unklare Zuständigkeiten eine zielgerichtete Ermittlungsarbeit behinderten. Eine unmittelbare Folge des Ulmer Einsatzgruppenprozesses war die Errichtung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen mit Sitz in Ludwigsburg. Deren dann ab 1958 eingeleiteten Vorermittlungen legten in fast allen Fällen die Grundlage für die – sehr späte – bundesdeutsche strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen.
Im Zuge dieses Prozesses und dieser weiteren Ermittlungen war man nun auf Erich Ehrlinger aufmerksam geworden, den Chef des Sonderkommandos 1 b, dem auch Heuser angehört hatte. Auch Ehrlinger hatte sich inzwischen in dem Nachkriegsdeutschland eingerichtet. Er war im Spielkasino von Konstanz Empfangschef geworden und dann Leiter der Volkswagenvertretung in Karlsruhe. Im Dezember 1958 wurde er festgenommen. Bei diesen Ermittlungen fiel dann immer wieder der Name Heuser.
Als Leiter des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz saß Heuser an einer sehr wichtigen Informationsquelle. Die Landeskriminalämter waren es nämlich, die damals Ermittlungen in den NSG-Verfahren, in den Verfahren nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, führten. Überdies hatten nicht wenige Angehörige der früheren Einsatzgruppen – wie wir später noch sehen werden – in den Kriminalämtern wieder eine Anstellung gefunden und konnten sich – aus alter Kameradschaft – rechtzeitig informieren und warnen. Nicht umsonst hatte die Waffen-SS den markigen Leitspruch: „Unsere Ehre heißt Treue.“ Ob Heuser von „seinen“ Leuten derartig vorinformiert war, wissen wir nicht. Immerhin wusste er schon im Frühjahr 1959, dass „jetzt alles schief (gehe)“. Am 15. Juli 1959 wurde er dann während eines Kuraufenthalts in Bad Orb mit Haftbefehl festgenommen.
Man machte Heuser in Koblenz den Prozess. Die Anklage betraf die Tätigkeit Heusers in Minsk, also die Zeit von Ende November 1941 bis Ende Juni 1944. Die Staatsanwaltschaft Koblenz legte ihm zur Last, in dieser Zeit an der Tötung von 30.356 Juden, Geisteskranken und (anderen) Landeseinwohnern beteiligt gewesen zu sein.
Mit Urteil vom 21. Mai 1963 verurteilte das Landgericht Koblenz Heuser zu einer Gesamtstrafe von 15 Jahren Zuchthaus. Vorausgegangen waren 62 Verhandlungstage. Die Rechtsfindung war sehr schwer. Von der Opferseite gab es nur sehr wenige Überlebende. Deren Erinnerung war bisweilen nicht exakt und außerdem hatten sie oft auch nur einen partiellen Einblick in das Geschehen. Manche Täter waren auch tot oder untergetaucht. Die vom Gericht vernommenen Täter hielten vielfach zusammen und waren als Zeugen oder als Mitangeklagte oft unergiebige Beweismittel. Immerhin legte Heuser nach anfänglichem hartnäckigem Leugnen ein Teilgeständnis ab.
Das Gericht sah dabei die Tätigkeit Heusers als Chef der Abteilung 4 des KdS – also als Gestapo-Chef – als solche nicht als strafwürdig an. Es meinte ihm nicht nachweisen zu können, dass er bei den Massentötungen die Herrschaft über das Tatgeschehen in seinen Händen hielt. Strafwürdig war danach allein sein unmittelbares Handeln. Das Gericht machte Heuser verantwortlich für 11.103 Tötungen – vor allem begangen im Rahmen der sog. Massenexekutionen. Es kam zu dem Ergebnis, dass Heuser an insgesamt neun Massenexekutiven beteiligt war. Dabei sah das Gericht Heuser stets als Mord- oder Totschlagsgehilfe an, nie als Haupttäter. Das kann man in den Fällen, in denen Heuser bei den Tötungen daneben gestanden hat, so ohne weiteres annehmen, das ist dann die sog. psychische Beihilfe. Problematischer ist es aber Beihilfe auch in den Fällen anzunehmen, in denen Heuser selbst geschossen und die Juden ermordet hat. Das ist doch typischerweise nicht die Tat eines Gehilfen (der etwa „Schmiere“ steht), sondern die Tat des Haupttäters. Das war schon eine eigenwillige Sicht der Dinge – aber keine Erfindung des Landgerichts Koblenz. Das war ständige Rechtsprechung des höchsten deutschen Strafgerichts, des Bundesgerichtshofs. Der BGH nahm in ständiger Rechtsprechung an, dass die großen Nazis – Hitler, Himmler usw. (übrigens allesamt tot) – die Haupttäter waren, und die nachgeordneten SS-Leute nur Gehilfen bei der Verwirklichung deren Vernichtungspläne. – Da kann man jetzt trefflich darüber streiten, ob diese dogmatische Konstruktion richtig ist oder nicht. Das wollen wir hier nicht tun, das führt zu weit. Wir wollen es mal dabei belassen, dass das Landgericht Koblenz diesen von der Rechtsprechung vorgezeichneten Weg gegangen ist. – Das hatte sicherlich auch den – guten – Nebeneffekt, dass dieses Urteil dann auch rechtskräftig geworden ist. Wäre es von der Rechtsprechung des BGH abgewichen, dann wäre das ein Revisionsgrund gewesen und das Urteil wäre nicht oder ggf. erst viel später rechtskräftig geworden.
So wurde Heuser also zu 15 Jahre Zuchthausstrafe verurteilt, die erlittene Untersuchungshaft wurde ihm dabei angerechnet und ihm wurden die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von fünf Jahren aberkannt. Als einziger der insgesamt 11 Angeklagten erkannte Heuser das Urteil an. Die Strafe verbüßte er im Zuchthaus Freiendiez.
Heuser betrieb dann schon bald seine Haftentlassung. Nach 2/3 der Strafverbüßung beantragte er, die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen mit dem Argument, dass in seinem Fall der Vergeltungsgedanke ausreichend Rechnung getragen sei und eine andauernde Haft eine „soziale Härte“ bedeute. Auch der Vorstand der Strafanstalt Freiendiez befürwortete Heusers vorzeitige Entlassung, denn er sei „kein Krimineller im üblichen Sinne“. Am 12. Dezember 1969 stimmte das Landgericht seiner Haftentlassung zu. Die Reststrafe wurde bis zum 11. Dezember 1974 zur Bewährung ausgesetzt und dann erlassen.
Heuser lebte dann – wohl mit seiner Frau, die Ehe war kinderlos – in Koblenz. Alsbald war er in der Rechtsabteilung einer Versicherung tätig. Heuser starb dann im Alter von 76 Jahren am 30. Januar 1989 in Koblenz.
Bis es so weit war, gab es noch eine Anzahl strafrechtlicher Ermittlungsverfahren gegen ihn.
Das hatte schon 1966 – als Heuser noch in Haft war – mit einem Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen der Tötung eines beim Generalkommissar Kube in Minsk beschäftigten Juden begonnen. Dieses Verfahren wurde aber alsbald eingestellt, weil Heuser nicht nachgewiesen werden konnte, für das Verschwinden dieses Juden verantwortlich zu sein.
Im Jahr 1973 leitete die Staatsanwaltschaft Koblenz ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen der Tötung von Juden u.a. im Zusammenhang mit der Niederschlagung des slowakischen Aufstandes im Jahre 1944 und späterer Erschießungen von Juden und Zigeunern in der Slowakei ein. Auch dieses Verfahren führte zu keiner Anklage. Heuser ließ sich darin dahingehend ein, dass er von den in den Tagesmeldungen erwähnten Vorfällen nichts wisse. Das Einsatzkommando 14 sei auf mehrere Kampfgruppen aufgeteilt gewesen, deshalb hätten andere, aber nicht das von ihm befehligte Teilkommando daran beteiligt gewesen sein können. Von den späteren Erschießungen habe er auch nichts gewusst. Diese Einlassungen konnten ihm nicht widerlegt werden, zumal andere Angehörige des EK 14 entweder erklärten, auch nichts zu wissen, oder aber SS-Leute für die Taten ins Gespräch brachten, die inzwischen tot waren. Da man auch nicht mit wirklichem Engagement slowakische Zeugen heranzog, wurde auch dieses Verfahren eingestellt.
Letztlich gab es im Jahr 1979 noch ein Ermittlungsverfahren gegen Heuser wegen der Erschießung vom 700 – 800 Juden im Mai 1942 in Weißruthenien. Auch hier bestritt Heuser eine Beteiligung, auch dieses Verfahren wurde alsbald eingestellt.
Wenn man die Ermittlungs- und Strafverfahren so sieht, dann ist Heuser für seine Tätigkeit bei den Einsatzkommandos bei der Dienststelle des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD doch sehr gut weggekommen. Immerhin hat er erst einmal 14 Jahre nach dem Kriegsende und seiner Verbrechen unbehelligt gelebt und eine erstaunliche Karriere gemacht. Erst dann wurden seine Verbrechen nach und nach offenbar. Strafrechtlich verantwortlich wurde er nur für seine Tätigkeit in Minsk erklärt. Dabei lastete man ihm nur die Morde an, an denen er unmittelbar beteiligt war – nicht für die, die er als „Schreibtischtäter“ organisiert hatte. Außerdem wurde er nicht als Täter sondern nur als Gehilfe verurteilt. Dann wurde er nach Verbüßung von 2/3 der Strafe auf Bewährung entlassen. Ihm gelang dann noch, in der Rechtsabteilung einer Versicherung beruflich Fuß zu fassen. – So kann man das sehen.
Man kann das auch ganz anders sehen. Man kann sich auch auf den Standpunkt stellen, dass Heuser großes Pech gehabt hat. – Jetzt werden Sie sich sicherlich fragen: Ja, was soll nach alledem das denn? Spinnt der Hennig jetzt? Nein, ich denke, dass ich nicht spinne. Ich meine etwas anderes als Sie vielleicht meinen. Ich meine, dass Heuser – subjektiv gesehen – tatsächlich Pech hatte, Pech, wenn man ihn mit seinesgleichen vergleicht.
Vielleicht sagt Ihnen der Name Dieter Schenk etwas. Schenk war bis Ende der 1980er Jahre beim Bundeskriminalamt, zuletzt als Kriminaldirektor beschäftigt. Dann hat er wegen unüberbrückbarer Gegensätze zum BKA den Dienst quittiert. Seit Anfang der 1990er Jahre ist er als Autor tätig und inzwischen Honorarprofessor der Universität Lodz mit dem Lehrauftrag für die Geschichte des Nationalsozialismus. Im Jahr 2003 hat er das Buch veröffentlicht: „Die braunen Wurzeln des BKA“. Darin hat er erstmalig und im Einzelnen dargestellt, wie SS-Seilschaften das Bundeskriminalamt bis weit in die 1960er Jahre hinein geprägt haben – und wie sich die führenden Köpfe dieser Behörde gegenseitig in die Positionen hineingehievt und dann auch abgeschottet haben gegenüber Strafverfolgung und kritischer Öffentlichkeit. – Wenn man diese Seilschaften und Karrieren sieht, dann kann man schon wirklich – bezogen auf Heuser und nicht auf die Gerechtigkeit – meinen, Heuser habe „Pech gehabt“.
Damit bin ich am Ende meines Vortrages. Haben Sie vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.