Foto: Holger Weinandt (Koblenz, Germany) 12.07.2011  Lizenz cc-by-sa-3.0-de

Erinnerung an Zwangssterilisations- und NS-"Euthanasie"-Opfer.
 
Im Juni wird die Veranstaltungsreihe "Menschen - Nachbarn - Schicksale. NS-Opfer im rechtsrheinischen Koblenz - verfemt, verfolgt, vergessen?" fortgesetzt mit einer Ausstellung über Zwangssterilisierte und NS-"Euthanasie"-Opfer aus den Koblenzer Stadtteilen Horchheim und Arenberg.  Der Leiter der Einrichtung "Haus an der Christuskirche" der Stiftung Bethesda-St. Martin Ralf Schulze eröffnete die Ausstellung in der Lutherkapelle in Koblenz-Horchheim.  Mit seinem Vortrag "'Nicht Strafe - sondern Befreiung' - Eugenik. Zwangssterilisation und NS-'Euthanasie'" führte Schulze in die Ausstellung ein. Dabei gab er einen interessanten Überblick über die Geschichte der Eugenik seit Mitte des 19. Jahrhunderts und deren praktische Umsetzung in der Gesetzgebung zahlreicher Staaten der USA und Nordeuropas. Der Referent ging auch auf die Vorgeschichte der NS-"Rassenhygiene" im damaligen Deutschland ein und gerade auch auf ihre Akzeptanz im Bereich der evangelischen Kirche (Innere Mission, heute: Diakonie).
 
Die Ausstellung ist noch bis zum 14. Juni 2019 in der Lutherkapelle in Koblenz-Horchheim zu sehen. Sie wird abgeschlossen mit dem Vortrag unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig zum Thema "'Ballastexistenzen' und 'lebensunwertes Lebens'" am Donnertstag, dem 13. Juni 2019 um 19.30 Uhr in der Lutherkapelle in Koblenz-Horchheim. Darin stellt Hennig erstmals das Schicksal mehrerer Nachbarn aus den rechtsrheinischen Stadtteilen von Koblenz vor, die von den Nazis und ihren Helfern als psychisch Kranke und sozial Unangepasste aus der "Volksgemeinschaft" "ausgemerzt" wurden. Am selben Abend, um 18.00 Uhr, findet ein Ortstermin in Horchheim statt. In der Emser Straße 365 erinnert der Heimatfreund Peter Wings an die jüdische Metzgerfamilie Salomon-Fried und anschließend in der Emser Straße 269 an die Familie Helledag. Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei.
 
Lesen Sie HIER den Artikel unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig im "Schängel" Nr. 22 vom 29. Mai 2019.

Sehen Sie nachfolgend einige Fotos von der Ausstellung in der Lutherkapelle und dem Vortrag von Ralf Schulze.

 

 

 

 

 

Lesen Sie hier noch den Vortrag unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig, den er am 13. Juni 2019 in der Lutherkapelle zum Thema "Ballastexistenzen und lebensunwertes Leben" zum Schicksal Zwangssterilisierter und NS-"Euthanasie"-Opfer aus dem rechtsrheinischen Koblenz gehalten hat.

„Ballastexistenzen und lebensunwertes Leben“

Vortrag von Joachim Hennig am 13. Juni 2019 in der evangelischen Lutherkapelle

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich begrüße Sie sehr herzlich zum letzten Vortrag in der Veranstaltungsreihe „Menschen – Nachbarn – Schicksale. NS-Opfer im rechtsrheinischen Koblenz – verfemt, verfolgt, vergessen?“ Diese Reihe präsentiert die evangelische Kirchengemeinde Koblenz-Pfaffendorf in Kooperation mit dem Förderverein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus beginnend am 11. März mit vier Ausstellungen an vier verschiedenen Orten und mit einem Begleitprogramm. Wir sind hier am Ende der Reihe.

Zu diesem Beiprogramm gehörte und gehört auch jeweils eine Station in dem betreffenden Stadtteil. Heute gab es den Ortstermin an zwei Stellen in Horchheim zur Erinnerung an zwei jüdische Familien. Der Termin begann an der Emser Straße 365 mit der Erinnerung an die dort bis zu ihrer Verfolgung lebende und arbeitende Metzgerfamilie Salomon und Fried. Es folgte dann die Station in der Emser Straße 269 zur Erinnerung an die Familien Hellendag. Beide Male hat der Heimatfreund Peter Wings über das Leben und Leiden dieser ehemaligen Bürger Horchheims berichtet. Lieber Herr Wings, haben Sie vielen Dank für Ihr Gedenken an diese Menschen. Seit Jahren arbeiten Sie an der Erinnerung an diese und andere Horchheimer. – Ich denke, auch mit Blick auf Ihre Aktivitäten, lieber Herr Wings, sagen zu können, dass die NS-Opfer im rechtsrheinischen Koblenz verfemt und verfolgt – aber nicht wie es in dem Titel der Reihe fragend heißt – auch (ganz) vergessen sind.

Dazu, dass diese Menschen nicht ganz vergessen sind, wollte und will auch diese Veranstaltungsreihe beitragen. Es wäre ein Erfolg für die Reihe, wenn das den Initiatoren ein Stück weit gelungen wäre. Mir geht in der Gedenkarbeit immer ein Wort durch den Kopf: „Ein Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“

So wollen wir heute mit dem letzten Vortrag in der Reihe einige Arenberger und Horchheimer Opfer des Nationalsozialismus in das kollektive Gedächtnis im rechtsrheinischen Koblenz zurückrufen. Es sind keine bekannten NS-Opfer oder Widerständler wie Pfarrer Paul Schneider, der „Prediger von Buchenwald“, oder der Widerständler Prof. Dr. Friedrich Erxleben oder der Sinti-Musiker Daweli Reinhardt, an die wir bei den ersten drei Veranstaltungen besonders erinnert haben. Die Menschen, die hier vorgestellt werden, waren Unbekannte, ganz und gar vergessene Menschen, Menschen, die unsere Nachbarn hätten sein können, und vielleicht Nachbarn unserer Eltern und Großeltern waren.

Den Hintergrund für diese Schicksale hat uns vor 10 Tagen an gleicher Stelle Herr Ralf Schulze dargestellt. Das war die verbrecherische Ideologie der Nationalsozialisten, die „Rassen-hygiene“. Die „Rassenhygiene“ war für die Nazis ein Teil ihres Rassismus.

Wir alle kennen ja den Rassismus nach außen – wie ich ihn bezeichnen möchte – den Antisemitismus. Er war von Anfang an Programm der NSDAP. In ihrem Parteiprogramm vom 24. Februar 1920 hieß es:

Ziffer 4:
Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.

Und Ziffer 5:

Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muss unter Fremdengesetzgebung gestellt werden.

Dieser Rassismus, der seinen gesetzlichen Niederschlag in den Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935 gefunden hatte, schloss also die Nichtarier, die Nicht-Deutschblütigen aus der Gesellschaft aus. Die Juden und auch die Zigeuner waren keine Bürger mehr, sondern nur noch Gäste, die als Fremde, unter Fremdengesetzgebung zu stellen waren. Das Ergebnis dieser Ausgrenzung, Diskriminierung war Verfolgung und Völkermord.

Das war der Antisemitismus, der Antiziganismus, der Rassismus nach außen, der Ausschluss von Anfang an der „anderen“. Nur der „Arier“, der Deutschblütige zählte, die anderen waren Fremde.

Bei der Rassenhygiene war die Zielrichtung der Ausgrenzung und Diskriminierung eine andere. Das war der Rassismus nach innen. Der richtete sich gegen die „Arier“, die Deutschblütigen selbst. Ausgegrenzt und diskriminiert wurden diejenigen, die nicht in das Bild des „Ariers“ passten. Das waren psychisch Kranke, Behinderte, Alkoholiker, Unangepasste, auch Kriminelle. Das war Rassismus nach innen, Rassenpflege, „Aufnordung“, „Ausjätung“ – wie die Nazis das gern umschrieben.

Für diese Ausstellung hier habe ich mich auf die Suche nach diesen Menschen gemacht, und zwar speziell nach denen, die in den rechtsrheinischen Stadtteilen von Koblenz geboren wurden und/ oder gelebt haben.

Wir wissen ja inzwischen, wie solche Menschen – von Sonderfällen abgesehen – Opfer der NS-„Rassenhygiene“ wurden. Das geschah zum einen durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach-wuchses“ vom 14. Juli 1933. Zum anderen durch die Krankenmorde im Rahmen der T4-Aktion ab Oktober 1939 und dann in der 2. Phase der NS-„Euthanasie“, der sog. dezentralen Phase ab August 1942.

Für die Ausstellung galt es, an Namen und an Akten von solchen Personen zu kommen und sie dann auszuwerten. Inzwischen ist das in mancherlei Hinsicht gut möglich.

Das gilt vor allem für die Opfer der Zwangssterilisation. Über diese gibt es Akten der Erbgesundheitsgerichte. Diese Gerichte entschieden nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Über diese Verfahren wurden Gerichtsakten angelegt und diese Akten sind jedenfalls für das Erbgesundheitsgericht Koblenz weitgehend erhalten. Außerdem legten die inzwischen staatlichen Gesundheitsämter Akten an. In diesen sind Vorgänge vorhanden, die entstanden sind, wenn Menschen mit dem Gesundheitsamt in Kontakt kamen. Auch in diesen Akten gibt es Vorgänge zum Sterilisationsverfahren.

Alle diese Akten sind im Landeshauptarchiv Koblenz archiviert. Sie sind bei einem „berechtigten Interesse“, zu dem auch ein wissenschaftliches Forschungsinteresse gehört, zugänglich. Die Akten sind inzwischen so aufgearbeitet, dass man dort nach Namen suchen kann – wenn man denn die Namen kennt. Wenn man die Namen nicht kennt, dann kann man dort auch nach Geburts- und/oder Wohnort recherchieren (lassen).

Eine gewisse Beschränkung ergibt sich allerdings daraus, dass die betreffende Person vor mehr als 100 Jahren geboren worden bzw. mehr als 10 Jahre tot sein muss. Da man das Todesdatum im Allgemeinen nicht kennt, kommt es auf das Geburtsdatum an. Das ergibt sich in diesen Fällen aus den Akten selbst. Diese 100-jährige Sperrfrist ist aber heutzutage kein (größeres) Problem mehr. Wer ab 1934 sterilisiert wurde, war zum Zeitpunkt der Unfruchtbarmachung oft älter als 20 Jahre. Wenn das so war, dann war er vor 1918 geboren und damit vor mehr als 100 Jahren.

Auf diese Weise gelang es, Namen und Akten von sterilisierten Menschen aus dem rechtsrheinischen Koblenz zu erhalten. Das waren 9 Menschen aus Horchheim, 9 aus Pfaffendorf und 7 aus Arenberg. Die Biografie von sechs dieser Menschen habe ich für die Ausstellung aufgearbeitet.

Das war noch relativ einfach. Schwieriger war es mit den NS-Opfern der T4-Aktion. Zwar gab es über 70.000 dieser Opfer, auch solche aus Koblenz und auch aus dem rechtsrheinischen Koblenz. Aufgrund von Listen und Karteien, nach denen Patienten bestimmter Heil.- und Pflegeanstalten in die Tötungsanstalt Hadamar transportiert wurden, kennen wir zahlreiche Namen, das Geburtsdatum und das mutmaßliche Todesdatum in Hadamar. So habe ich mehrere rechtsrheinische Opfer der T4-Aktion gefunden: 3 aus Horchheim, 2 aus Pfaffendorf, je eines aus Arenberg, Arzheim, Immendorf und Niederberg. Das Problem hierbei ist aber, dass die Krankenakten dieser Patienten mit ihnen „mitgewandert“ waren. Sie kamen also auch in die Tötungsanstalt Hadamar. Dort blieben sie aber nicht. Vielmehr wurden sie von Hadamar abgegeben in die Zentrale dieser Tötungsaktion in die Tiergartenstraße 4 in Berlin.

Dort sind nach dem Krieg etwa 30.000 dieser Akten erhalten geblieben. Sie sind jetzt archiviert im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde. Da kommt man natürlich von Koblenz aus schlecht dran. Immerhin sind die Namen jetzt auf der Internetseite des Bundesarchivs einsehbar. Da habe ich auch nachgesehen – aber keinen von hier gefunden. Immerhin habe ich durch eine andere Recherche ein solches T4-Opfer aus Horchheim ermitteln und auch porträtieren können.

Schließlich habe ich auch noch nach Menschen recherchiert, die der 2. Phase der NS-„Euthanasie“, der sog. dezentralen Phase, zum Opfer fielen. Nach diesen zu forschen ist schwieriger, weil es keine derartigen Transportlisten gab bzw. nicht bekannt sind. Nach ihnen kann man aber bei der Gedenkstätte Hadamar nachfragen. Da das eine dezentrale Aktion war, wurden die Akten von der Tötungsanstalt Hadamar nicht nach Berlin weiter geschickt, vielmehr blieben sie in Hadamar und sind dort auch noch zum Teil vorhanden. Diese Akten sind auch aufgearbeitet, so dass man dort nach Namen und/oder Wohn- und Geburtsort recherchieren kann.

Andererseits ist die Feststellung, dass der betreffende Patient ermordet wurde und nicht eines natürlichen Todes gestorben ist, nicht so leicht zu treffen. Denn diese Phase war ja gerade dezentral, die Morde geschahen durch systematisches verhungern lassen, durch die Überdosis von Medikamenten usw. Das kann man anhand der Krankenakten schwer „nachweisen“. Ich habe für diese 2. Phase aber doch zwei NS-„Euthanasie“-Opfer gefunden, eins aus Horchheim und eins aus Pfaffendorf. Das Horchheimer Opfer zeige ich in der Ausstellung.

Ja, meine Damen und Herren. Das war jetzt recht viel und auch ein wenig kompliziert, was ich Ihnen hier zugemutet habe. Aber das gehört auch dazu, wenn man eine solche Ausstellung „verstehen“ will. Im Allgemeinen schaut man sich eine solche Ausstellung an und denkt: Ja, das ist ja ganz schön und auch eindrücklich, was da zu sehen ist. Aber so toll ist das nun auch nicht. Die Ausstellung zeigt ja nur, was damals war, na gut. Und vielleicht denkt man noch: Na, und dann gibt es nicht einmal Fotos von den porträtierten Menschen, die Ausstellung hätte man nun wirklich besser und interessanter machen können. - Wer denkt das schon daran, wie mühsam alles recherchiert wurde und dass es im Allgemeinen von den Menschen und ihren Familien keine Fotos gibt. Anders wäre es nur, wenn es von den Opfern noch Angehörige gäbe, die bereit und in der Lage sind, weitere Informationen, Dokumente und private Fotos zur Verfügung zu stellen. Das ist aber sehr selten und in den hier dargestellten Biografien nicht der Fall.

Meine Damen und Herren, wenden wir uns nun den sieben Biografien von rechtsrheinischen NS-Opfern zu, die ich speziell für diese Ausstellung recherchiert und erarbeitet habe.

Das sind vor allem sechs Menschen, die zwangsweise sterilisiert wurden.

Rechtliche Grundlage für diese Sterilisationen war ja das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Danach wurde das Verfahren eingeleitet durch einen Antrag des Amtsarztes oder der Anstaltsleiter einer Heil- und Pflegeanstalt oder einer Strafanstalt. Über den Antrag entschied ein Erbgesundheitsgericht. Davon gab es im Deutschen Reich 220. Ein solches Erbgesundheitsgericht gab es auch in Koblenz Die Erbgesundheitsgerichte waren besetzt mit einem Juristen, dem Amtsrichter als Vorsitzendem und 2 Ärzten, einer war ein beamteter Arzt, der andere ein frei praktizierender, der sich in der Materie gut auskannte. Gegen die Entscheidungen des Erbgesundheitsgerichts gab es noch die Beschwerdemöglichkeit zum Erbgesundheitsobergericht. Das war für Koblenz das Erbgesundheitsobergericht in Köln.

Die Gründe für die Sterilisation waren in § 1 des Gesetzes abschließend aufgeführt. Wir sind uns ja sicher einig, dass die Sterilisation eines Menschen gegen seinen freien Willen eine schwere Verfehlung ist. Der Eingriff ist eine gefährliche Körperverletzung, die generell zu schweren psychischen Störungen führt und auch totbringend sein kann. Das möchte ich hier nur vorab noch einmal deutlich herausstellen. Denn jetzt will ich ein wenig auf Details eingehen. Diese dürfen uns aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die zwangsweise Sterilisierung schon für sich ein „Verbrechen“ ist.

Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ war zudem überhaupt nicht „logisch“. Das Gesetz ermächtigte zur Sterilisation desjenigen, der „erbkrank“ war. So hieß es in § 1 Abs. 1 des Gesetzes ausdrücklich. In § 1 Abs. 2 führte es dann 8 Krankheiten auf, die Erbkrankheiten im Sinne dieses Gesetzes waren. Von den 8 Krankheiten waren aber nur 5 als „erblich“ vom Gesetz bezeichnet, nämlich: erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit und schwere erbliche körperliche Missbildung.

Ob diese Krankheiten alle vererblich waren und dann auch bei allen nachkommen auftraten (Sie denken ja an die mendelschen Gesetze aus der Schulzeit) ist noch die Frage. Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, ich bin ja kein Mediziner. In der Praxis kam es darauf auch nicht an. Wenn die Gerichte Fallsucht – Epilepsie – feststellten, dann ging man der Frage der Erblichkeit gar nicht mehr nach.

Außerdem: Bei 3 weiteren Krankheiten kam es auf die Erblichkeit gar nicht an. Das war der Fall bei angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie und zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein. Die mit Abstand meisten Zwangssterilisationen erfolgten wegen angeborenem Schwachsinn. Schon nach dem Gesetzestext musste der Schwachsinn nicht erblich sein – es reichte aus, wenn er angeboren war – wobei sich noch die Frage stellt, wann ist der Schwachsinn angeboren und wann nicht. Einen eindeutigen Fall einer Nicht-Erbkrankheit, war der in § 1 Abs. 3 des Gesetzes postulierte Fall der Sterilisation bei „schwerem Alkoholismus“.

Damit wollte ich Ihnen, meine Damen und Herren, nur zeigen, wie in sich unlogisch und haarsträubend das Gesetz auch in seinen Details war.

Kommen wir nun zum Lebensbild von Josef P. aus Horchheim. Daran will ich Ihnen auch das Verfahren im Allgemeinen aufzeigen.

Josef P. kam 1912 als sechstes und jüngstes Kind eines Landwirts hier in Horchheim zur Welt. Schon als Kleinkind hatte er eine schwere Mittelohrentzündung. In der Schule kam er nicht zurecht. Er leistete sehr wenig, konnte kaum lesen und kaum rechnen. Nach acht Jahren verließ er die Volksschule ohne Abschluss. Im Entlassungszeugnis waren in den einzelnen Fächern nicht einmal Noten ausgeworfen. Anschließend half er seinem Vater in der Landwirtschaft. Später sagte der Vater, Peter habe im Betrieb auch selbständig gearbeitet.

Im Februar 1934 verschlimmerte sich Peters chronische Mittelohrentzündung und führte zu Hirnkomplikationen (zu Krämpfen, Lähmungserscheinungen u.a.). Bei einer dringend nötigen Operation wurde das Ohr dann aufgemeißelt.

Der Zustand besserte sich. Das ging dann auch einige Jahre gut. – bis Josef P. im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht 1937 gemustert wurde. Dabei stellte der untersuchende Arzt einen angeborenen Schwachsinn fest. Damit geriet Josef P. in die Maschinerie der NS-Zwangssterilisation. Der Militärarzt informierte den Amtsarzt beim Gesundheitsamt Koblenz. Der ließ Josef P. einen standardisierten Intelligenzprüfungsbogen ausfüllen. Nach diesem Ergebnis stellte er beim Erbgesundheitsgericht Koblenz den Antrag auf Unfruchtbarmachung von Josef P.

Das Erbgesundheitsgericht sah sich Josef P. an und verfügte seine Sterilisation. Zur Begründung verwies es auf die schlechten schulischen Leistungen und auf das Ergebnis der Intelligenzprüfung.

Gegen diese Entscheidung legte Josef P.s Vater Beschwerde bei der nächsten Instanz, dem Erbgesundheitsobergericht in Köln, ein. Der Vater machte geltend, dass Josef seit frühester Kindheit das Ohrleiden gehabt habe, und dass das der Grund für seine schlechten schulischen Leistungen gewesen sei. In seinem landwirtschaftlichen Betrieb arbeite sein Sohn gut und selbständig.

Das Erbgesundheitsobergericht hörte Josef P. noch an. Dabei machte er einen „guten“ Eindruck. Das Gericht meinte auch, dass er eigentlich gar nicht schwachsinnig aussehe. Daraufhin holte das Gericht ein Sachverständigengutachten ein.

Der sachverständige meinte, Josef P. sei schwachsinnig, der Schwachsinn sei auch angeboren, das Ohrleiden sei für den Zustand nicht ursächlich. Daraufhin stellte auch das Erbgesundheitsobergericht fest, dass Josef P. an angeborenem Schwachsinn leide.

Josef P. wurde dann im Evangelischen Stift St. Martin in Koblenz sterilisiert.

Die Zwangssterilisation wegen angeborenen Schwachsinns war der häufigste Grund für diese Eingriffe, und zwar sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Man geht davon aus, dass insgesamt in der Zeit von 1934 bis Kriegsende 350.000 bis 400.000 Menschen zwangsweise sterilisiert wurden. Zu Koblenz habe ich die konkreten Zahlen nicht parat. Ich kann Ihnen aber die Größenordnung sagen: Im 1. Jahr – 1934 – waren das so knapp 1.000 Sterilisationen, im 2. Jahr – 1935 – etwa 500, 3. Jahr – 1936 – auch so etwa 500. Und im 4. Jahr – 1937 – betraf die Statistik nur die ersten Monate. Statistiken für die späteren Jahre fehlen ganz. In der Zeit des zweiten Weltkrieges gab es ja ohnehin nicht mehr so viele Sterilisationen, die waren bis auf Ausnahmefälle eingestellt.

Nun zu einem anderen Fall, zu Josef G. Er wurde 1904 als Sohn eines Studienrats in Niederlahnstein geboren. Er machte Abitur und studierte – wohl auf Wunsch seines Vaters – Jura. Mit dem Studium kam er nicht zurecht und brach es ab. Er ging dann eine Beziehung zu einer Frau ein, daraus gingen zwei Kinder hervor. Sein Vater war strikt gegen die Beziehung, erst nach einigen Jahren erlaubte er die Heirat seines Sohnes Josef mit der Kindsmutter. Inzwischen wohnte die Familie in Horchheim. Hier war Josef G. ein sporadischer stiller Weintrinker.

Mitte der 1930er Jahre nahm sein Alkoholkonsum zu. Es kam zu einem Alkoholabusus mit Delirium und zur Einweisung in die Provinzial Heil- und Pflegeanstalt in Bonn. Ehe er entlassen wurde, meldete der Anstaltsarzt Josef G. beim Kreisarzt als schweren Alkoholiker. Der Kreisarzt stellte daraufhin beim Erbgesundheitsgericht Bonn den Antrag auf Unfruchtbarmachung.

Das Erbgesundheitsgericht war sich unschlüssig und holte beim Gesundheitsamt Koblenz ein Gutachten ein. Auf der Grundlage einer persönlichen Untersuchung stellte das Gesundheitsamt fest, dass bei Josef G. „charakterologisch nichts nachweisbar (ist), was für den Trinker typisch ist“. Die Diagnose lautete: „Keine Anhaltspunkte für psychiatrisch-neurologische Erkrankung oder chronischen Alkoholismus“.

Dann erstattete die Heil- und Pflegeanstalt Bonn, die das ganze Verfahren ja ausgelöst hatte, auch ein Gutachten. Obwohl es selbst feststellte, dass die „Befunde leider keine absolut zwingenden Beweise (…) erbracht“ haben, bejahte es einen schweren angeborenen Alkoholismus als „sehr wahrscheinlich“.

Das reichte dann dem inzwischen zuständigen Erbgesundheitsgericht Koblenz und es beschloss Josef G.s Unfruchtbarmachung.

Dagegen legte Josef G. noch Beschwerde zum Erbgesundheitsobergericht ein.

Meine Damen und Herren, meinen Sie nicht, dass in vielen dieser Fälle das Obergericht angerufen wurde. Diese Fälle waren schon selten. Die Betroffenen lebten ja bisweilen in nicht unkomplizierten Verhältnissen. Oft war ein Familienangehöriger, der Vater, als Prozesspfleger bestellt. Der erklärte dann oft unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung den Rechtsmittelverzicht. Auch tat die Beschwerdemöglichkeit ein Übriges. Das Rechtsmittel musste innerhalb von zwei Wochen eingelegt werden. Das schreckte manche ab, andere versäumten die Frist.

Ich habe diesen und andere Fälle mit dem obergerichtlichen Verfahren hier herausgesucht, weil sie „interessanter“ sind als die ganz einfachen Fälle – und ich will Ihnen hier ja auch „interessante“ Schicksale bieten.

Also: Josef G. legte Beschwerde zum Erbgesundheitsobergericht ein. Während dieses Verfahren meldete sich seine Schwiegermutter gegenüber dem Gesundheitsamt mit der Schilderung, dass Josef G. nach Monaten der Abstinenz jetzt wieder trinke. Sie meinte dazu, eine Verhaltensänderung von Josef G. sei nötig und möglich. Voraussetzung dafür sei eine Entziehungskur und eine darauffolgende Arbeitsbeschaffung. – Sicherlich eine sehr vernünftige Überlegung. Wenn man dabei noch die Rolle des „Übervaters“ ein wenig aufarbeitete – so könnte man meinen -, dann könnte es auch gelingen.

Das wollte das Erbgesundheitsobergericht aber gar nicht hören. Von allem unbeeindruckt schloss sich das Gericht der Auffassung des Erbgesundheitsgerichts Koblenz an und wies die Beschwerde zurück.

Josef G. kämpfte noch gegen seine Zwangssterilisation, indem er der Aufforderung, sich zum Eingriff in ein Krankenhaus zu begeben, nicht Folge leistete. Schließlich wurde er von der Polizei aufgegriffen. Hier wird der Zwangscharakter dieses Verfahren ganz deutlich. Es war nicht nur so, dass das Verfahren vom Amtsarzt und vom Direktor einer Heil- und Pflegeanstalt eingeleitet werden konnte und der Betroffene Objekt dieses ganzen Verfahrens war. Vielmehr konnte er auch zum Eingriff gezwungen werden. In § 12 Abs. 1 des Gesetzes hieß es:

Hat das Gericht die Unfruchtbarmachung endgültig beschlossen, so ist sie auch gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden auszuführen, sofern nicht dieser allein den Antrag gestellt hat. Der beamtete Arzt hat bei der Polizeibehörde die erforderlichen Maßnahmen zu beantragen. Soweit andere Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges zulässig.

Diese Zwangssterilisationen fanden in Koblenz ganz überwiegend im Evangelischen Stift St. Martin statt. Operateur war der Chefarzt Dr. med. Dr, phil. h.c. Fritz Michel. Michel ist auch heute noch bestens bekannt. Aber nicht als Verstümmler hunderter Menschen, sondern als hochgeschätzter Bürger. Fritz Michel ist Ehrenbürger von Koblenz, auch von Ober- und Niederlahnstein, und Namensgeber für die Fritz-Michel-Straße in Neuendorf. Außerdem hat man ihm ein plastisches Denkmal gesetzt. Der Herr auf dem Stuhl am Eingang des Evangelischen Stift St. Martin ist Dr. med. Dr. phil. h.c. Fritz Michel. Dass er hunderte Menschen verstümmelt und die Gesundheit und die Lebensfreude geraubt hat, stört offensichtlich das offizielle Koblenz nicht.

An diesen beiden Fällen hier zunächst geschilderten Fällen soll deutlich werden, wie zweifelhaft auch die Rechtsfindung im Einzelfall, also die Anwendung dieser ohnehin höchst bedenklichen gesetzlichen Regelung war. Denn in beiden Fällen war es sehr fragwürdig – wenn man schon Schwachsinn und schweren Alkoholismus annahm –, dass beides auch angeboren war. Das haben die Gerichte angenommen, weil sie es annehmen wollten.

Wozu das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ auch noch benutzt und missbraucht(?) werden konnte, zeigt das nächste Schicksal, der Fall von Johann (Hans) Ch.

Der 1898 in Arenberg geborene Hans Ch. stammte aus einer alteingesessenen Handwerkerfamilie. Geisteskrankheiten waren in der Familie nicht aufgetreten. Die Volksschule besuchte er so schlecht und recht. Dann ging er in die Lehre, war Soldat im Ersten Weltkrieg und dann im Betrieb des Vaters tätig. Immer wieder kam er mit den Strafgesetzen in Konflikt, mit 23 Jahren fiel er zum ersten Mal auf. Das waren kleine Eigentumsdelikte, bis 1932 insgesamt 10 Straftaten.

Die Straftaten setzten sich fort. Schließlich kam Hans Ch. Mitte der 1930er Jahre ins Gefängnis nach Wittlich. Dort überprüfte man anhand des uns inzwischen bekannten Intelligenzprüfungsbogens seine Intelligenz. Das Ergebnis war durchaus ganz ordentlich. Der Arzt der Strafanstalt Wittlich kam daraufhin in seinem Gutachten zu folgendem Ergebnis:

Es handelt sich um einen Grenzfall. Intellektuell ist er wohl nur leicht schwachsinnig und kann auch diesen Defekt durch sein gewandtes Reden überdecken. Vom kriminellen Standpunkt aus ist er ein unverbesserlicher Rechtsbrecher, der durch Willensschwäche und hemmungslose Genusssucht eine schlechte Prognose bietet. (…) Wertvolles Erbgut würde (durch die Sterilisation) wohl nicht zugrunde gehen.“

Daraufhin stellte der Leiter der Strafanstalt Wittlich beim Erbgesundheitsgericht Trier den Antrag auf Unfruchtbarmachung wegen angeborenen Schwachsinns. Umgehend beschloss das Erbgesundheitsgericht Trier Hans Ch.s Sterilisation mit der bloßen und nach Aktenlage überhaupt nicht nachvollziehbaren Behauptung, er habe in der Intelligenzprüfung versagt. Deswegen leide er an Schwach-sinn, dieser sei auch – ohne dass auch das begründet wurde – angeboren.

Die von Hans Ch. dagegen eingelegte Beschwerde wies das Erbgesundheitsobergericht Köln zurück. Die Begründung ist sehr interessant. Nachdem das Gericht festgestellt hatte, dass bei Ch. „freilich nur ein Schwachsinn leichteren Grades vor(liege)“, heißt es weiter: „Bei Ch. ist die Unfruchtbarmachung noch besonders wünschenswert, als er ein durchaus asozialer, haltloser Psychopath ist. Dass er dies ist, geht aus seinen Straftaten - er ist 15 Mal gerichtlich, und zwar meistens wegen Diebstahls und Betrugs bestraft und verbüßt zurzeit eine Gesamtstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten Zuchthaus - und aus seinen Erklärungen hervor.“. Da keine (äußere) Ursache erkennbar sei, müsse – so das Gericht – der Schwachsinn auch angeboren sein.

Diese Entscheidung ist ungeheuerlich und das aus mehreren Gründen: Erst war die Stelle, die den Antrag auf Unfruchtbarmachung stellte, selbst der Auffassung dass es ein Grenzfall ist, dass nur leichter Schwachsinn vorlag und dass der auch noch überdeckt wurde. Davon, dass er angeboren war, war ohnehin keine Rede. Dann begründete man die Unfruchtbarmachung mit seinen Straftaten. Diese waren aber nun gar kein Grund für die Sterilisation.

Das Erbgesundheitsgericht sprach dann die Sterilisation mit bloßen Behauptungen und ohne Begründung aus – offensichtlich fand es keine für das gewollte Ergebnis. Und das Erbgesundheitsober-gericht bemühte sich um eine Begründung, fand dann tatsächlich eine, die war aber abenteuerlich. Zum einen stellte es selbst fest, dass es wohl Schwachsinn leichteren Grades war – und begründete, dass es überhaupt Schwachsinn ist, schon gar nicht.

Dann kam das Gericht auf eine andere Begründung, nämlich die, dass Hans Ch. wegen seiner Straftaten asozial und haltlos sei. Das war ja nun auch kein Grund zur Sterilisation. Diese Argumentation ist ja sehr befremdlich. Das merkte das Gericht dann auch und meinte, eine Unfruchtbarmachung sei deswegen „wünschenswert“. Was ist das denn für eine Argumentation? Es ging ja hier nicht darum, ob ein bestimmtes Ergebnis wünschenswert war, sondern darum, ob Hans Ch. erbkrank war bzw. an schwerem Alkoholismus litt. Das merkte das Gericht zum Schluss auch selbst und verstieg sich schließlich zu der Behauptung, dass er schwachsinnig sei, weil er Straftaten begangen habe. Und dann setzte das Gericht noch einen drauf, und stellte fest, dass dieser angenommene Schwachsinn auch angeboren sein müsse, weil keine äußere Ursache dafür zu finden sei.

Das bedeutet also, dass Kleinkriminelle schwachsinnig seien und deshalb seien sie auch zwangsweise zu sterilisieren. Alles abenteuerlich. Jedenfalls diesen beiden Gerichten ging es nur um das Ergebnis, die Zwangssterilisation. Um das zu begründen, hatte man entweder gar keine Begründung gefunden oder man hatte schein-juristisch argumentiert und da herumfabuliert.

Diese Zwangssterilisationen wurden mit Beginn des Zweiten Weltkrieges im Großen und Ganzen beendet. Stattdessen begann die NS-„Euthanasie“. Sie hatte wie Zwangssterilisation dieselben Wurzeln - in der Eugenik und in der Rassenhygiene der Nazis. Wenig bekannt ist, dass von diesen Krankenmorden auch Menschen betroffen waren, die zuvor bereits zwangsweise sterilisiert worden waren. Denn man kann ja denken, dass mit der Unfruchtbar-machung das „Problem“ für die Nazis „erledigt“ war. So war es aber nicht, wie das Lebensschicksal des Horchheimers Jakob R. zeigt.

Jakob R. wurde 1899 in Horchheim geboren. Er ging zur Volksschule, sein Vater starb früh. Jakob lernte Autoschlosser und führte ein „normales“ leben. Mit 19 Jahren trat bei ihm zu ersten Mal die Krankheit Fallsucht (Epilepsie) auf. Später heiratete er dann, aus der Ehe ging eine Tochter hervor.

Ab 1934 trat die Krankheit massiv auf. Er kam in die Anstalt Andernach, der Anstaltsarzt erstattete daraufhin ein Gutachten und stellte auf dessen Grundlage den Antrag auf Unfruchtbarmachung. Dementsprechend beschloss das Erbgesundheitsgericht Koblenz seine Sterilisation. Dann wurde er von Dr. med. Dr. phil. h.c. Fritz Michel im Evangelischen Stift St. Martin im Februar 1935 sterilisiert. Die Operation verlief „regelrecht“ und nach einigen Tagen wurde er „als geheilt entlassen“. Es ging für Jakob R. aber nicht nach Hause nach Horchheim, sondern wieder in die Anstalt Andernach.

Mehr als 5 Jahre passierte nichts – was nach außen drang. Im Sommer 1940 wurden dann die Meldebögen auch in die Anstalt Andernach verschickt. Diese Meldebögen sollten für alle Patienten von heil- und Pflegeanstalten ausgefüllt werden, die 5 Jahre und länger in Anstaltsbehandlung waren und die keine „produktive“ Arbeit leisteten. Da geriet Jakob R. in die 1. Phase der NS-„Euthanasie“, die T4-Aktion. Die Anstalt Andernach füllte das Formular aus, dass Jakob R. an erblicher Fallsucht leide und demnächst nicht mit seiner Entlassung aus der Anstalt zu rechnen sei.

Am 7. Mai 1941 wurde Jakob R. dann mit zahlreichen anderen Patienten von Andernach mit den grauen Bussen der „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“ (Gekrat) von Andernach abgeholt und in die Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg/Lahn gefahren. Dort fuhr der graue Bus in die Busgarage, die Patienten stiegen aus und gingen ins Haupthaus. Im Bettensaal mussten sie sich ausziehen und erhielten ausgediente Militärmäntel. Anschließend waren drei Stationen zu durchlaufen. Zuerst überprüfte ein Verwaltungsbeamter die Identität der Patienten. Dann legte der Tötungsarzt im Abgleich mit den Patientenakten jeweils eine willkürliche Todesursache fest. Ggf. markierte er die Patienten, die an einer interessanten Krankheit litten, diesen sollte später das Gehirn zu Forschungszwecken entnommen werden. Auch markierte er die Patienten, die Goldzähne hatten, die sollten später herausgebrochen, gesammelt und eingeschmolzen werden. Schließlich wurde von den Patienten noch ein Foto gemacht.

Danach wurden die Patienten gemeinsam in den Keller geführt – angeblich zum Duschen. Tatsächlich wurden sie mit Kohlen-monoxid ermordet. Nach einer halben Stunde waren sie tot. Die Leichen wurden aus der Gaskammer geholt und in zwei Krematoriumsöfen eingeäschert. Von außen sah man deutlich den Rauch aus dem Schornstein aufsteigen. Es roch süßlich nach verbranntem Menschenfleisch.

Für die in den Bussen ankommenden Patienten war in Hadamar gar kein Platz. Alles war so organisiert, dass sie noch am Ankunftstag mit Gas ermordet und eingeäschert wurden.

Anschließend verschickte die Anstalt standardisierte sog. Trostbriefe. Darin wurde den Angehörigen mitgeteilt, dass der Kranke nach Hadamar verlegt worden und plötzlich gestorben sei. Aus seuchenrechtlichen Gründen habe man den Leichnam sofort einäschern müssen. Den Angehörigen könnte aber die Urne mit der Asche per Post zugeschickt werden, wenn sie einen bestimmten Betrag bezahlten.

So geschah das auch mit Jakob R. Es gab allerdings noch ein kleines Nachspiel, weil die Tochter sich nach ihrem ermordeten Vater erkundigte. Am 7. Juli 1941 fragte die Tochter bei der Anstalt Andernach an, wie es ihrem Vater gehe weil sie schon lange keine Nachricht von ihm erhalten habe. Zu diesem Zeitpunkt war Jakob R. schon zwei Monate tot – in Hadamar ermordet. Eine Woche später teilte die Anstalt Andernach der Tochter mit, dass ihr Vater in eine andere Anstalt verlegt worden sei. Inzwischen war auch Jakob R.s Schwester alarmiert. Sie fragte am selben Tag bei der Anstalt Andernach nach ihrem Bruder an, weil sie seit Februar 1941 nichts mehr von ihm gehört habe. Zwei Tage später teilte die Anstalt Andernach der Schwester mit, dass sie bereits die Tochter über die Verlegung in eine andere Anstalt informiert und diese auch schon von der zuständigen Stelle Näheres erfahren habe. Wieder zwei Tage später schrieb die Tochter erneut an die Anstalt Andernach. Diese leitete das Schreiben – wie andere auch – an die GEKRAT nach Berlin weiter.

Damit endet die Akte des Horchheimers Jakob R.

Nach den Predigten des Münsteraner Bischofs Graf von Galen befahl Hitler unter dem 24. August 1941 die Einstellung dieser T4-Aktion.

Die Krankenmorde gingen aber weiter. Nicht in allen sechs Tötungsanstalten, wohl aber in Hadamar, wurden diese Morde ein Jahr später fortgesetzt. Inzwischen hatte man die beiden Krematoriumsöfen abgebaut, den Kamin zurückgebaut und die alten Bettensäle wiederhergestellt. Man verwandelte Hadamar scheinbar wieder in eine „normale“ Heil- und Pflegeanstalt. Aber ab August 1942 ging das Morden weiter. Das geschah nicht mit Giftgas, sondern vielmehr mit Medikamentengabe in Überdosis, mit Hungerkost und mit vorenthaltener medizinischer Hilfe.

Das Morden in dieser 2. Phase ist natürlich schwerer festzustellen als im Rahmen der T4-Aktion. Aber es gibt viele Indizien in tausenden Fällen, die auf solche Krankenmorde schließen lassen.

Ein solches Schicksal habe ich für die Ausstellung recherchieren können. Es ist die Lebensgeschichte von Sybilla Roos.

Die 1868 in Koblenz geborene Sybilla Roos lebte bis 1944 zusammen mit ihren Geschwistern ohne Probleme in Koblenz. Im letzten Kriegsjahr nahmen die Luftangriffe auf Koblenz stark zu. Anfang Oktober wurden die Geschwister in ihrer Wohnung ausgebombt. Daraufhin verließen sie wie viele andere Koblenzer auch die Stadt und ließen sich nach Thüringen „umquartieren“. Ihrer damals 76-jährigen Schwester Sybilla wollten sie diese Strapaze nicht zumuten. Sie brachten sie vor ihrer Abfahrt im Oktober 1944 ins Altenheim nach Horchheim.

Dort blieb sie nicht lange. Man verlegte sie in die Anstalt Herborn. Herborn war – wie Andernach und auch Scheuern (heute: Nassau-Scheuern an der Lahn) - eine Zwischenanstalt. Dorthin brachte man Menschen aus den „normalen“ Anstalten, um sie dann „geordnet“ in die Tötungsanstalt Hadamar bringen zu können. So geschah das auch mit Sybilla Roos. Am 6. Februar 1945 verlegte man sie nach Hadamar. In einem ärztlichen Zeugnis vom selben Tag hieß es dann formularmäßig, sie sei geisteskrank und fernerhin der Pflege in einer Irrenanstalt bedürftig. Die Diagnose lautete auf Verhärtung der Gehirnsubstanz.

Gerade in Hadamar angekommen, notierte Hadamar im Krankenblatt zwei Tage später: „Rapider Verfall. Herzschwäche“. Zwei Tage später lautete der Eintrag im Krankenblatt: „äußerst geringe Nahrungsaufnahme. Zunahme der Schwäche, moribunder Zustand“ (also: im Sterben liegend).

Wieder zwei Tage später, noch keine Woche in Hadamar starb Sybilla Roos. Der Eintrag im Krankenblatt lautet: „Tod durch körperlichen und geistigen Abbau im Alter“.

Am selben Tag machte die Anstalt einer in Westdeutschland verblieben Schwester von Sybilla Roos die „traurige Nachricht, dass diese heute in der hiesigen Anstalt verstorben ist. Die Beisetzung findet in aller Stille auf unserem Anstaltsfriedhof statt.“

Das waren vier Schicksale von Menschen aus dem rechtsrheinischen Koblenz. In der Ausstellung werden sieben Schicksale beschrieben. Bei meinen Recherchen für diese Ausstellung bin ich auf 36 Menschen aus dem rechtsrheinischen Koblenz gestoßen, die dieses oder ein ähnliches Schicksal erleiden mussten.

Und zum Schluss noch ein paar Zahlen:

Man geht davon aus, dass in der Zeit von 1934 bis 1945 350.000 bis 400.000 Menschen zwangsweise sterilisiert wurden – das war ungefähr jeder 100. Deutsche im fortpflanzungsfähigen Alter.

Der 1. Phase der NS-Euthanasie“-Morde, der T4-Aktion mit Giftgas von Herbst 1939 bis August 1941 fielen mindestens etwas mehr als 70.000 Menschen zum Opfer. Allein in Hadamar waren es von Mitte Januar bis Mitte August 1941 mehr als 10.000 Patienten.

In der 2. Phase der NS-Euthanasie, der dezentralen Phase mit verhungern lassen und Überdosen von Medikamenten, schätzt man die Zahl der Krankenmorde auf ca. 100.000. Allein in Hadamar waren es an August 1942 bis Kriegsende etwa 5.000 Tote. Das ergibt dann für die beiden Phasen der NS-„Euthanasie“ 170.000 – manche schätzen auch 200.000 – Ermordete.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das wollte ich Ihnen hier erzählen. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld mit mir und mit dem Thema.

Sehen Sie hier noch Bilder von der Stolperstein-Begehung am 13. Juni 2019 mit "Heimatfreund" Peter Wings in der Emser Straße 365 (Familie Solomon-Fried) und in der Emser Straße 269 (Familie Hellendag).