Verfolgung und Widerstand in Koblenz 1933 – 1945
Teil 1: Gustav Simon (1900 – 1945)
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich sehr, Sie heute zum ersten Vortrag der dreiteiligen Reihe über NS-Täter aus Koblenz und Umgebung begrüßen zu können. Einige von Ihnen sind ja inzwischen treue Hörer und – wenn ich das so sagen darf – Fans geworden. Andere sind jetzt neu dazu gekommen. Ihnen allen ein herzliches Willkommen!
Es ist inzwischen die 7. Kampagne der Vortragsreihe „Verfolgung und Widerstand in Koblenz und Umgebung 1933 – 1945“. Der Start war im Wintersemester 2001/2002. Dann haben wir jedes Wintersemester die Reihe fortgesetzt und sind jetzt im siebten Jahr – dem verflixten 7. Jahr, wie man so sagt.
In den ersten Jahren habe ich immer wieder Opfer des Nationalsozialismus porträtiert. Im letzten Wintersemester haben wir uns erstmals mit NS-Tätern beschäftigt. Ich denke, das ist im letzten Jahr ganz gut angekommen und deshalb werden in diesem Wintersemester wiederum drei Täter porträ-tiert. Ich hoffe, ich habe für Sie eine interessante Mischung zusammengestellt. Beginnen möchte ich heute mit dem Gauleiter Gustav Simon. In zwei Wochen, am 29. November, werde ich einen Mediziner, den damaligen Direktor der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt in Andernach, Dr. med. Johann Recktenwald, porträtieren und dann zwei weitere Wochen später, am 13. Dezember 2007, präsentiere ich Ihnen einen Juristen, den Ersten Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Koblenz Josef Abbott.
Beginnen möchte ich heute mit dem Gauleiter Gustav Simon. Er war damals der ranghöchste Mann der NSDAP hier in Koblenz und Umgebung, also geografisch gesehen im südlichen Rheinland.
Als die Nazis im Juli 1933 so richtig im Sattel saßen – so schnell hatten sie den politischen Gegner hier und anderswo zerschlagen und die Macht auf sich monopolisiert – starteten sie in ihrer Parteizeitung, dem Koblenzer Nationalblatt, eine große Propagandaserie. In dieser porträtierten sie auch ihren Gauleiter Gustav Simon - der sinnigerweise Herausgeber eben dieses Koblenzer Nationalblattes war. Unter dem Titel „Aus dem Leben eines Kämpfers“ und unter dem Vorspruch „Und ist auch unser Sein verglommen, das Werk doch wie ein Berg besteht!“ heißt es darin u.a.:
Ich weiß, wenn ihm diese Zeilen zu Gesicht kommen, wird er schimpfen und wettern. – Er hasst jeden Byzantinismus, er liebt keine Lobgesänge auf seine Person, er ist und bleibt der einfache, schlichte, gerade und aufrechte Revolutionär der Bewegung, der nationalsozialistische Mensch, wie Adolf Hitler ihn tausendmal mit Worten geformt. -
Das ist es, was die alten Kämpen so an ihn bindet, was einen seelischen Kontakt herstellt zwischen den Aktivisten in der PO (Parteiorganisation), SA, SS, HJ usw. und ihm, der mit seinem entschlossenen Willen, seiner Energie, diese Organisationen in der Westmark aus der Taufe gehoben hat. –
Er ist der Nationalist, wie die Idee ihn geformt wissen will. (…) Er ist der Nationalist, der das Erlebnis des Weltkrieges als junger Seminarist in sich trägt, der mit blutendem Herzen dem Niedergang eines stolzen Volkes zugesehen, der die harten Jahre der Knechtschaft, der Befreiung der Rheinlande, von Anfang bis Ende miterlebt, der zusehen muss, wie seine schöne saardeutsche Heimat vom Mutterland weggerissen wird! –
Der Niedergang der Nation, die langen, harten Jahre der Besetzung der Rheinlande, gestalten in dem Menschen Gustav Simon den glühenden Nationalisten, der gegen Äußerlichkeiten und Schein immun ist, der den wahren Nationalismus im tiefsten Innern erlebt. –
Und er ist nicht minder auch der Sozialist! (…) Der Sozialismus mag ihm im Blute gelegen haben. Denn er kommt nicht aus der Schicht der oberen Zehntausend, er ist mitten im Herzen des Volkes geboren. Hier ist er aufgewachsen, im Industriegebiet an der schönen deutschen Saar, hier lernt er als Junge schon die Nöte des arbeitenden Menschen kennen und verstehen. Hier erfasst und erlebt er den Sozialismus zutiefst.
Soweit dieser Propagandaartikel über Gustav Simon, der den Spitznamen „Gustav, der Kurze“ hatte. Bei aller schwülstigen Lobhudelei ist doch sicherlich das eine oder andere atmosphärisch herübergekommen. Wir wollen uns jetzt einmal mit den Fakten beschäftigen.
Gustav Simon wurde am 2. August 1900 in Malstatt-Burbach (heute ein Stadtteil von Saarbrücken) als Sohn eines Hilfsarbeiters bei der Eisenbahn geboren. Die Vorfahren väterlicherseits waren Bauern aus der Nähe von Birkenfeld. Die Simons suchten – wie viele Bauern und Landarbeiter damals – Arbeit in der saarländischen Industrie oder bei der Eisenbahn. Gustav Simon hatte übrigens noch einen jüngeren Bruder, den 1908 geborenen Bruder Paul. Paul Simon machte eine ähnliche Karriere wie sein Bruder Gustav und war zuletzt stellvertretender Gauleiter von Pommern. Bei so viel Prominenz in der Familie machte dann übrigens auch noch der Vater Adam Simon Karriere. War er bei Gustavs Geburt noch Hilfsarbeiter, so schied er später als Reichsbahnamtmann aus dem Eisenbahndienst aus.
Gustav Simon besuchte zunächst die katholische Volksschule seines Heimatortes, dann eine Präparandenanstalt und schließlich das katholische Lehrerseminar in Merzig. Dort machte er im Jahr 1920 die erste Volksschullehrer-Prüfung. Während es in dem zuvor zitierten Zeitungsartikel verklärend hieß, Simon habe das Erlebnis des Weltkrieges als junger Seminarist in sich getragen, war und blieb er eben „Seminarist“. Obwohl er alt genug dafür war, meldete er sich nicht als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg und auch nicht danach für ein Freikorps. Mit dem „Erlebnis des Weltkrieges“ – dem von den Nationalisten oft beschworenen „Fronterlebnis“ – hatte er nichts zu tun. Da er nach Abschluss seiner Lehrerausbildung keine Anstellung als Volksschullehrer fand, war er zunächst als Eisenbahnhelfer und dann als Zolldeklarant tätig. In dieser Zeit lebte Simon zunächst in Morbach, dann in Hermeskeil, sein Vater war inzwischen Vorsteher des Bahnhofs in Hermeskeil geworden.
Am 2. August 1923 – seinem 23. Geburtstag - immatrikulierte sich Simon an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt am Main. Seinen Unterhalt verdiente er sich als Werkstudent. Gleichzeitig engagierte er sich in nationalistisch-völkischen Studentengrüppchen und wurde noch im selben Jahr 2. Vorsitzender der Völkischen Studentengruppe in Frankfurt und im folgenden Jahr Mitglied der nationalsozialistischen Freiheitspartei. Ende 1924 machte er sein Abitur und wechselte im Mai 1925 an die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Frankfurt/Main über. Wenige Monate später, im August 1925, trat er der NSDAP bei (Mitgliedsnummer 17.017) und gründete die Hochschulgruppe Frankfurt des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes. Seitdem agitierte er für die NSDAP, wo immer sich ihm Gelegenheit bot. Bei den AStA-Wahlen des Jahres 1927 errang der von ihm geführte Nationalsozialistische Studentenbund zwei Mandate und Simon wurde zum Vorsitzenden der Frankfurter Studentenschaft gewählt. Er war damit der erste nationalsozialistische AStA-Vorsitzende an einer deutschen Universität. Trotz seines offensichtlichen Fleißes brach er Ende 1926/Anfang 1927 sein rechtswissenschaftliches Studium ab. Der Grund dafür ist nicht ganz klar – möglicherweise geschah dies aus Geldmangel. Stattdessen legte er erfolgreich die Prüfung als Diplom-Handelslehrer ab.
Simon orientierte sich in seine Heimat zurück – zum einen in den Hochwald und zum anderen ins Saarland. Im Oktober 1926 gründete er in Hermeskeil die Ortsgruppe der NSDAP. Aus dieser Hermeskeiler Zeit stammt auch sein weiterer Spottname „Giftpilz von Hermeskeil“. 1927 – nach seinem Diplom als Handelslehrer – war er zuerst Aushilfslehrer an einer Volksschule, dann Studienreferendar an einer Handelsschule und schließlich Gewerbelehrer in Völklingen. Bald brach er die Ausbildung ab und schied noch vor dem Assessorexamen aus dem Schuldienst aus. Auch der Grund dafür ist nicht recht bekannt. Manche meinen, dies geschah, weil er nicht mit einer Übernahme in das Beamtenverhältnis als Lehrer rechnen konnte. Andere geben als Grund den Wunsch des damaligen Gauleiters Ley an, dass sich Simon ganz der Arbeit für die NSDAP widmen sollte.
Wie dem auch sei. Das Ergebnis war klar: Von nun an engagierte sich Simon ausschließlich für die NSDAP. Die Parteiorganisation im Hunsrück war damals – wie im südlichen Rheinland überhaupt - noch wenig entwickelt. Die Region – wie auch Koblenz – gehörte zum Gau Rheinland-Süd, später: Gau Rheinland. Gauleiter war der Chemiker Dr. Robert Ley aus Wiesdorf bei Köln. Ley und andere Redner hatten schon verschiedentlich dort Propagandaaktionen durchgeführt, doch zu einer kontinuierlichen Bearbeitung und zur organisatorischen Durchdringung des Gebiets hatten Mittel und Personal gefehlt. In dieses Vakuum stieß Simon dann hinein. Schon 1928 verbreiterte er seine Machtbasis, indem er sich von dem Gauleiter Ley die Leitung des Bezirks Trier-Birkenfeld der NSDAP übertragen ließ.
Im ländlich strukturierten Hochwald und in den Weinanbaugebieten an der Mittelmosel hatte Simon in der Folgezeit sehr eifrig und auch erfolgreich die Werbetrommel für die Nazis gerührt. Er stieß dort auf offene Ohren, war doch die deutsche Landwirtschaft - einschließlich der Winzerschaft - 1928 in die weltweite Agrarkrise geraten. Bezeichnend dafür waren eine Überproduktion und gleichzeitig eine Unterkonsumtion. Die stark zunehmende Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Lohn- und Gehaltskürzungen ließen die Nachfrage auch nach Agrarprodukten stark und rasch schrumpfen. Das Ergebnis war ein Preisverfall für Agrarprodukte in einem Umfang, wie er bisher in Deutschland noch unbekannt war. Erfahrbar werden diese Stimmung unter den Bauern und Winzern sowie die Propaganda Simons und seiner Nazis durch ein Schreiben des Präsidenten des Landesfinanzamtes in Köln von Anfang 1930 und der daraufhin angestellten Recherchen. Anlass für dieses Schreiben war die Information, dass der Nationalsozialismus unter den jungen Burschen an der Mosel und auf dem Hunsrück eine starke Anhängerschaft gefunden hätte und der Bauernverband und die politischen Parteien ihren Einfluss verloren hätten; auch gegen die kirchliche Autorität solle jene Jugend sich ab und zu in der Kirche unliebsam bemerkbar gemacht haben. In Sorge, dass es bei Massenversammlungen zu Ausschreitungen gegen die Reichssteuerbehörden als die nächstliegenden Angriffspunkte kommen könnte, bat er die Regierungspräsidenten von Koblenz und Trier um ihre Einschätzung der Lage. Zudem regte der Präsident an, geeignete Vorbeugungsmaßnahmen zum Schutze der Dienstgebäude zu treffen sowie zu prüfen, ob nicht Kriminalbeamte mit der Beobachtung der Bewegung zu betrauen seien, da bei der Eigenart der beteiligten politischen Richtung andernfalls kaum Kenntnis von ihren Vorhaben zu erlangen sein werde.
Tatsächlich wurde ein Kölner Kriminalkommissar beauftragt, die Stimmung zu erkunden. Seine Recherchen vor Ort erbrachten folgendes: Die NSDAP war vor allem an der Mittelmosel und im Hochwald sehr aktiv und hatte regen Zulauf. In ihrer Agitation gingen die Nazis systematisch vor. Erst prüften sie die Stimmung der Bewohner und stellten sich bei ihren Werbeveranstaltungen dementsprechend ein. Ihr Vorgehen war überall gleich, das wesentliche Propagandamittel war die Versammlung in den einzelnen Orten. Die Versammlungen pflegten so eingeleitet zu werden, dass vormittags ein mit häufig uniformierten Nationalsozialisten besetzter Lkw in den Ort einfiel und Flugblätter verteilte. Darin wurden die Einwohner aufgefordert, an der am selben Tag stattfindenden Versammlung teilzunehmen. In der Versammlung selbst ergingen sich die nationalsozialistischen Redner in Beschimpfungen der Regierung sowie der Behörden und Beamten. Zu einer Diskussion pflegte es meist nicht zu kommen. Die Versammlungen waren aber in aller Regel sehr gut besucht.
Schon bald erweiterte Simon seinen Aktionsradius beträchtlich und wandte sich Koblenz zu. Hier war die Parteiorganisation wiederholt zusammengebrochen und durch internen Streit gelähmt. Auf Bitten Leys ging er nach Koblenz, um die rivalisierenden Gruppen in der NSDAP zu befrieden. In einem Bericht der Polizeiverwaltung Koblenz heißt es u.a. dazu:
Am 24. März 1929 fand im Restaurant Löbbermann in der Münzstraße eine Mitgliederversammlung der Nationalsozialisten statt. Anwesend waren ca. 150 Personen. Aufgabe dieser Versammlung war es, die vor mehreren Monaten infolge innerer Zwistigkeiten aufgeflogene Ortsgruppe Koblenz der NSDAP neu zu gründen. Innerhalb der Koblenzer Anhänger der NSDAP bestehen zwei Strömungen, eine radikalere, die in der Hauptsache geführt und beeinflusst wird vom Kölner Gauvorstand, und eine gemäßigtere, die sich zum Teil aus älteren Bürgern der Stadt Koblenz zusammensetzt. Die Gegensätzlichkeiten der beiden Strömungen kamen in der geschlossenen Mitgliederversammlung wieder scharf zum Ausdruck, so dass es vorläufig nicht gelang, einen neuen Vorstand für die Ortsgruppe Koblenz zu bilden. Die Ortsgruppe an sich wurde wieder ins Leben gerufen. An die Spitze dieser Ortsgruppe wurde der aus Hermeskeil nach hier zugezogene Gewerbelehrer Simon (…) gestellt.
Kurz darauf wurde Simon vom Gauleiter Ley auch zum Leiter des NSDAP-Bezirks Koblenz ernannt. Simon war ein fanatischer Nationalsozialist. Von seiner Herkunft her galt er als Grenzgänger. Als solcher war er auch in der Lage, die Menschen in der hiesigen Grenzregion für „völkische Belange“ zu mobilisieren. Seine Anhänger bewunderten ihn als „Massenredner von Format“, der mit seiner „glänzenden Rhetorik“ seine Zuhörer mitreißen konnte. Er war zugleich ein „Kämpfer“ und „Draufgänger“, der „Energie“ und einen „entschlossenen Willen“ besaß. Dank seiner „verbissenen Beharrlichkeit“ und seines „eisernen, rastlosen Fleißes“ wurde er zu einem „Vorkämpfer“ und „Aktivisten“ des Nationalsozialismus in Koblenz und Umgebung.
Seine ersten Erfolge hatte Simon gleich bei den Stadtverordnetenwahlen im November 1929. Im katholisch und durch die Beamten geprägten Koblenz erhielt die NSDAP 38,5 % der abgegebenen gültigen Stimmen. Dies ergab 8 Stadtverordnetenmandate, die Fraktion der NSDAP – mit Simon an ihrer Spitze – wurde damit nach dem Zentrum die zweitstärkste Fraktion im Stadtparlament. Mit ihren 38,5 % erzielte die NSDAP prozentual das höchste Ergebnis in ganz Preußen.
Von Koblenz aus baute Simon seine Position weiter aus. Insbesondere agitierte er im Moselland. Das fing schon vor den Toren von Koblenz – in Winningen – an. Dort war Simon informeller Führer der dortigen sehr aktiven Ortsgruppe der NSDAP. Fast alle acht Tage erschien er mit seiner Koblenzer Ortsgruppe – meistens in Parteiuniform - in der Wirtschaft „Zur Hoffnung“. Zusammen mit der Winninger Gruppe debattierte man dann über weitere Aktivitäten. Sehr bald kümmerte sich Simon auch um den Nachbarbezirk Trier, in dem die Nazis in jener Zeit noch nicht Fuß gefasst hatten. Über längere Zeit hinweg hielt er jede Woche dort eine Parteiversammlung ab. Mit großer Hartnäckigkeit baute er bis Mai 1930 in Trier eine 150 Mitglieder starke, einigermaßen stabile Ortsgruppe der NSDAP auf.
Einen weiteren Erfolg erzielte Simon bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930. Bei diesen sog. Erdrutschwahlen konnten die Nazis reichsweit 18,3 % der abgegebenen gültigen Stimmen erreichen und die Zahl ihrer Reichstagsmandate von 12 auf 107 erhöhen. In dem hiesigen Wahlkreis 21, dem Wahlkreis Koblenz-Trier, gelang der NSDAP aufgrund der regionalen Besonderheiten (insbesondere wegen des starken Einflusses der Zentrumspartei) kein solcher Durchbruch. Sie erreichte hier „nur“ 14,9 % der abgegebenen Stimmen. Aber immerhin schaffte Simon einen persönlichen Erfolg: Neben vier Zentrumsabgeordneten wurde auch ein Kandidat der NSDAP in den Reichstag gewählt – und das war er, Gustav Simon.
Nach diesem Erfolg, der ihn auch finanziell von der Gauleitung in Köln unabhängig machte, unternahm Simon einen Vorstoß zur Neugliederung des Gaues Rheinland. Im Oktober 1930 legte er eine Denkschrift zur Teilung des Gaues vor. Diese sah die Bildung eines nördlichen und eines südlichen Gaues vor. Begründet wurde dies damit, dass so die Wahlkreise bei den Reichstagswahlen mit den Gauen identisch würden und die Propaganda so noch effektiviert werden könnte. Die Parole hieß: „Gau gleich Reichstagswahlkreis“. Außerdem wies Simon auf die Größe des Gaues und auf erhebliche Unterschiede in der Sozialstruktur sowie in der politischen Landschaft hin. Als die Reichsorganisationsleitung der NSDAP darauf zunächst nicht reagierte und Ley voller Zorn das Ansinnen zu verhindern suchte, schrieb Simon an die Reichsleitung:
Ich persönlich befinde mich in einer schlimmen Lage. Auf der einen Seite fehlt mir das Vertrauen zur Gauleitung in Köln, das auf die Dauer auch durch die beste Disziplin und Unterordnung nicht ersetzt werden kann. Auf der anderen Seite denke ich nicht daran, ein Gebiet zu verlassen, das in organisatorischer Hinsicht mein Werk ist, wo der erheblichste Teil der Ortsgruppen von mir persönlich gegründet wurde. Es wäre ein nicht wieder gutzumachender Schaden, wenn ich zurücktreten würde. Ich bin es der Bewegung und mir schuldig, wenn ich die geschaffene Organisation nicht preisgebe und um den einzigen Ausweg bitte, der hier vorhanden ist: die Bildung eines Gaues Koblenz-Trier.
Nach einigem Hin und Her gelang es dann Simon, seine Vorstellungen durchzusetzen. Auf einer Gautagung am 31. Mai 1931 hier in Koblenz wurde die Teilung des Gaues endgültig vollzogen und Simon wurde von Ley als erster Gauleiter des Gaues Koblenz-Trier-Birkenfeld in sein Amt eingeführt. – Ley selbst blieb nominell Gauleiter des Nordteils des bisherigen Gaues Rheinland, der dann Gau Köln-Aachen hieß. Er kehrte aber nicht mehr nach Köln zurück. Sein Nachfolger als Gauleiter wurde sein bisheriger Stellvertreter, der in Gemünden im Hunsrück geborene Josef Grohé. Ley übernahm andere Aufgaben und war dann ab Mai 1933 Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und auch deren Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ (KdF).
In Koblenz setzte sich Simon fest. Koblenz machte er zu seiner „Gauhauptstadt“. Die Gauleitung hatte – allerdings wohl erst nach der so genannten Machtergreifung – ihren Sitz in der Emil-Schüller-Straße 18-20. Ab Oktober 1931 übernahm der Gau die von Ley gegründeten Zeitungen „Koblenzer Nationalblatt“, „Trierer Nationalblatt“ und „Westwacht“. Simon wurde ihr Herausgeber.
Inzwischen saß Simon nicht nur als Fraktionsvorsitzender im Koblenzer Stadtrat und war Reichstagsabgeordneter, sondern er war auch Mitglied des Rheinischen Provinzial-Landtages und des Preußischen Landtags. Mit parlamentarisch-demokratischen Gepflogenheiten hatte er aber nichts im Sinn. Den anderen Parteien warf er „Schiebung und Korruption“ vor, unterstellte ihnen „Verelendungspolitik“ und machte sie verantwortlich für die „Proletarisierung des Mittelstandes“. Das Zentrum diffamierte er als „antichristliche Zuhälterpartei des Marxismus“ und betonte immer wieder dessen „christenfeindliche“ Einstellung. Für ihn waren „Marxismus und Zentrum die Todfeinde des Deutschtums und des Christentums“. Für Simon sprach aus dem Marxismus „ein jüdisch-asiatischer Dämon der Zersetzung“, alle Deutschen müssten „sich gegen das bolschewistische Verbrecher-Niederrassentum“ wehren.
Auch pflegte Simon einen üblen Antisemitismus. Juden assoziierte er mit dem Marxismus und diffamierte beide damit. So denunzierte er z.B. die antinationalsozialistische Presse als „vergiftete (…) Dolche (…) der marxistisch-jüdischen Verleumdungspropaganda“. Den „deutschen Kaufleuten“ stellte er die ihre Existenz bedrohenden „jüdische(n) Groß-Warenhäuser“ und „jüdischen Großkapitalisten“ gegenüber. Die Christen warnte er vor „den Stämmlingen derer, die einst Christus ans Kreuz schlugen und heute dabei sind, das deutsche Volk ans Kreuz zu schlagen“.
Am 30. Januar 1933 waren die Nazis und auch Gustav Simon am Ziel. Für ihn war dieser Tag der „Tag der deutschen Revolution, an dem der Kampf um die Macht entschieden“ wurde. Dieser Kampf um die Macht – so Simon in einer Rede am 6. Februar 1933 – hätte die Nationalsozialisten „Ströme von Blut (…) gekostet und sei so teuer erkauft, dass wir das nicht wieder hergeben. Wir lassen uns lieber unter den Trümmern des Dritten Reiches begraben, als es jemals wieder aufzugeben.“ – Mit dieser wüsten Drohung sollte Simon leider Recht behalten.
Mit der „Machtergreifung“ und dem Ende der „Kampfzeit“ begann für Simon eine neue Zeit – und eine solche auch für die Rheinlande. Simon forderte eine „völkische Gesinnung“ der Bewohner, dass hier „Bollwerke einer deutschen Gesinnung“ neben den „militärischen Bollwerken“ entstehen müssten. „Das rheinische Volk“ – so Simon bereits im April 1933 – „ist keine Völkerbrücke geworden, es ist geworden der völkische Schutz- und Trutzwall des Deutschen Reiches gegen Westen.“
Der Eindruck, dass sich Simon und die Nazis damit zurückziehen und in Deutschland einigeln wollten, wäre allerdings falsch. Denn schon im August 1933 erklärte Simon: „Die Saar, Elsaß-Lothringen, Österreich, Luxemburg, Belgien und die Niederlande sind alle einmal deutsch gewesen. Nicht eher wird der Nationalsozialismus und wird sein Führer ruhen, als das Ziel eines Groß-Deutschland von 90 Millionen erreicht ist.“ Damit waren die Expansionsabsichten der Nazis im Westen bereits früh formuliert. Schnell ging auch Simon daran, diese Ziele zu fördern. So übernahm er schon im Juni 1933 die Führung des „Bundes der Saar-Vereine“. Nur zu gern hätte er seinen Machtbereich erweitert und nach der Rückgliederung des Saargebietes im Jahre 1935 dieses mit seinem Gau vereinigt. Das Saargebiet wurde aber dem Einfluss Josef Bürckels, des Gauleiters des Gaues Rheinpfalz, unterstellt und später auch verwaltungsorganisatorisch mit dessen Herrschaftsbereich verbunden. Auch durfte Bürckel später den von Simon favorisierten Namen „Gau Westmark“ für seinen Gau vereinnahmen.
Überhaupt hatte Gustav Simon nach der Machtübernahme durch die Nazis den Zenit seiner politischen Karriere erreicht. Allerdings sammelte er noch einige wohlklingende Titel. So wurde er 1933 zum Präsidenten des Rheinischen Provinziallandtages gewählt und zum Preußischen Staatsrat berufen. Er schaffte es aber nicht, in seinem Gau Koblenz-Trier-Birkenfeld (nach der Eingliederung des oldenburgischen Landesteils in den Regierungsbezirk Koblenz im Jahr 1937 hieß der Gau nur noch: Gau Koblenz-Trier) seine Macht so auszubauen wie es andere Gauleiter schafften. Das lag entscheidend daran, dass er zusätzlich zu seinem Parteiamt des Gauleiters nicht auch ein staatliches Amt übernehmen konnte. Adäquat für einen Gauleiter wäre das Amt des Oberpräsidenten, also des Oberpräsidenten der Rheinprovinz gewesen. Im Oberpräsidium waren verwaltungsmäßig fünf Regierungspräsidien zusammengefasst. So hätte Simon die Nachfolge des bald nach der Machtergreifung abgesetzten Oberpräsidenten der Rheinprovinz Hans Fuchs antreten können. Stattdessen wurde aber der Deutschnationale Hermann Freiherr von Lüninck Oberpräsident. Im Jahr 1935 ergab sich nach dem Rückzug von Lünincks noch einmal die Möglichkeit, die Position des Oberpräsidenten zu besetzen. Diesmal wurde tatsächlich auch ein Gauleiter Oberpräsident der Rheinprovinz. Es war aber nicht Simon sondern vielmehr der Gauleiter von Essen Josef Terboven.
Diese Personalpolitik um Simon herum war kein Zufall. Simon war wenig beliebt – auch innerhalb der NSDAP. So hieß es schon in einem Schreiben vom 28. März 1933, an dem auch ein Parteigenosse – ein „Alter Kämpfer“ aus Trier – beteiligt war, über Gustav Simon u.a.:
Der Gauleiter selbst ist weit entfernt davon, hier besondere Sympathien zu genießen. Im Gegenteil: Der Verkehrston, den er im Umgang mit Parteigenossen anzuschlagen beliebt und der als absolut unpassend bezeichnet werden muss, sein wenig einnehmendes Auftreten in den öffentlichen Versammlungen und seine anmaßende Sprechweise sind ebenso wenig geeignet, ihm und unserer Sache Sympathien zu erwerben, wie sein deutlich sichtbares Bestreben, die seltsamsten Dunkelmänner mit Gewalt auf Posten zu befördern, auf die sie unter keinen Umständen gehören. Nichts beweist im Übrigen die Existenz seiner Kamarilla deutlicher, als die, angesichts der vorhandenen Kräfte, durch nichts gerechtfertigte Überhäufung dieser Günstlinge mit Würden und Funktionen.“
Gleichwohl hatte Simon auch als Gauleiter – das Zitat von eben lässt es erkennen – eine Fülle von Einflussmöglichkeiten. In vielen Angelegenheiten der staatlichen und kommunalen Verwaltung einschließlich der Personalangelegenheiten war Gauleiter Simon die entscheidende Person. Er und seine Parteigänger bestimmten – auch ohne staatliches Amt – die Geschicke im Gau erheblich mit und waren verantwortlich für das typisch Nationalsozialistische der damaligen Ereignisse und Verhältnisse. Judenverfolgung, Kirchenkampf, Gemeinschaftsschule usw. waren Politikfelder, die von den Nationalsozialisten besetzt waren. Dabei griff die NSDAP zurück auf Agitation, Massenmobilisierung, Boykott und Straßenterror, um Stimmung zu machen, Behörden und Verwaltungen in Zugzwang zu bringen.
Der von Hitler entfesselte Zweite Weltkrieg brachte Gustav Simon dann noch weitere Funktionen und Kompetenzen, gerade auch Kompetenzen im Exekutivbereich. Nach seiner Ernennung zum Obergruppenführer des Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps (NSKK) wurde er alsbald Beauftragter des Reichsverteidigungskommissars für den Wehrkreis XII, Gauwohnungskommissar, Bevollmächtigter für den Arbeitseinsatz in seinem Gau und Reichsverteidigungskommissar seines Gaus. Vor allem aber wurde er Chef der Zivilverwaltung im besetzten Luxemburg.
Nach der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch den Überfall auf Polen begann Hitler am 10. Mai 1940 den sog. Westfeldzug. In den Worten des Oberkommandos der Wehrmacht hieß das:
Angesichts der unmittelbar bevorstehenden feindlichen Kriegsausweitung auf belgisches und holländisches Gebiet und der damit verbundenen Bedrohung des Ruhrgebietes ist das deutsche Westheer am 10. Mai 1940 bei Morgengrauen zum Angriff über die deutsche Westgrenze auf breitester Front angetreten.
Und in einem „Aufruf an die Soldaten der Westfront“ erklärte Hitler:
Die Stunde des entscheidendsten Kampfes für die Zukunft der deutschen Nation ist gekommen. (…) Der heute beginnende Kampf entscheidet das Schicksal der deutschen Nation für die nächsten tausend Jahre!
Belgien, Holland und Luxemburg wurden gleichsam überrannt. Ein von Deutschland gestelltes Ultimatum lehnte die luxemburgische Großherzogin ab und begab sich ins Ausland. Schon am 11. Mai 1940 nahmen die Nazis Luxemburg vollständig in Besitz. Dabei sicherte Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop den Luxemburgern zu, „dass Deutschland nicht die Absicht hat, durch seine Maßnahmen die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit des Großherzogtums jetzt oder in Zukunft anzutasten“. – Das war natürlich – wie so vieles bei den Nazis – erstunken und erlogen. Der völkerrechtliche Status von Luxemburg blieb unklar. Luxemburg wurde dem Deutschen Reich zwar nicht rechtsförmlich angegliedert, es galt also „staatsrechtlich noch nicht als Inland“. Gleichwohl wurde es aus offizieller deutscher Sicht „in die Verwaltung des Deutschen Reiches übernommen“.
In Luxemburg richteten die Deutschen zunächst eine Militärverwaltung ein. Aber schon am 21. Juli 1940 wurde Gustav Simon vom Oberbefehlshaber des Heeres zum Chef der Zivilverwaltung (CdZ) in Luxemburg bestellt. Am 2. August 1940 – an seinem 40. Geburtstag - wurde Simon als Chef der Zivilverwaltung Hitler „unmittelbar“ unterstellt, von ihm sollte er „allgemeine Weisungen und Richtlinien“ erhalten. Damit schied Luxemburg aus der Militärverwaltung aus und Gustav Simon oblag fortan „die gesamte Verwaltung im zivilen Bereich“. Simon selbst formulierte sehr treffend so: „Die Verfassung bin ich! Die Gesetze mache ich.“ Luxemburg war für Simon eine Art Laboratorium, in dem er ungestört nationalsozialistische Politik betreiben konnte. Erklärtes Ziel war, Luxemburg in „kürzester Zeit dem deutschen Volkstum wieder zurück zu gewinnen“.
Sein Amt als Chef der Zivilverwaltung trat Simon am 6. August 1940 an. Dabei nahm er eine Parade von 800 deutschen Polizisten ab. Bei seiner Antrittsrede unterstrich Simon sein Ziel, Luxemburg wieder einzudeutschen und die französische Firnis abzustreifen. Simon sollte die Luxemburger für das Deutschtum gewinnen und die Annexion des Großherzogtums vorbereiten. Er hatte die Hoheitsbefugnisse über die Verwaltung des Großherzogtums. Bereits die ersten Amtshandlungen Simons machten die Anstrengungen Simons zur „Entwelschung“ und „Germanisierung“ der Luxemburger deutlich:
- Am 6. August 1940 erließ er die „Verordnung über den Gebrauch der deutschen Sprache im Lande Luxemburg“. Darin stellte er fest: „Die Sprache des Landes Luxemburg und seiner Bewohner ist seit jeher deutsch.“ Am folgenden Tag erschienen die ersten Plakate gegen den Luxemburger Dialekt, „Schluss mit dem fremden Kauderwelsch“ und gegen das „verniggerte“ Französisch.
- Wenig später wurde sogar das Tragen der Baskenmütze verboten.
- Am 31. Januar 1941 erging die Verordnung über die Änderung von Vor- und Familiennamen in Luxemburg. Damit wurden den Luxemburgern rein deutsche Vor- und Familiennamen aufgezwungen. Aus Henri wurde Heinrich, aus Dupont wurde Brückner.
- Am 1. Juni 1941 erließ Simon die Verordnung über das Verbot des Gebrauchs der französischen Sprache in der Öffentlichkeit. Das Verbot beinhaltete nicht nur Straßen- und Ortsnamen, sondern auch Ausdrücke des täglichen Gebrauchs wie „bonjour“, „merci“, „monsieur“, „madame“ usw. sowie Namen von Geschäften.
Weiterhin verlangte Simon von den Luxemburgern „vollste“ Loyalität.
- Am 13. August 1940 verbot er allen Behörden den Gebrauch der Ausdrücke „Großherzogtum“ oder „Land Luxemburg“.
- Am selben Tag erließ er folgende Verfügung für den öffentlichen Dienst in Luxemburg: „Es wird verlangt, dass jeder Beamte in Luxemburg seine Loyalität einsetzt für die vollste Unterstützung der deutschen Bestrebungen“. Die Beamten und Lehrer hatten eine Erklärung zu unterschreiben, mit der sie sich verpflichteten, alle Anordnungen der deutschen Verwaltung durchzuführen. Wer nicht unterschrieb, wurde sofort aus dem Dienst entfernt. Gleichzeitig fanden für die luxemburgischen Beamte Schulungslehrgänge im Deutschen Reich statt. Die Namen der entlassenen Beamten wurden in der Tagespresse veröffentlicht.
Außerdem stülpte Simon Luxemburg deutsche Verwaltungsstrukturen und –organisationen über und führte deutsches Recht ein.
Nur zwei Wochen nach seiner Ernennung zum Chef der Zivilverwaltung und nach seiner Unterstellung Hitler „unmittelbar“ baute Simon einen Repressionsapparat in Luxemburg auf. Das geschah nach deutschem Vorbild und mit deutschem Führungspersonal, vielfach übertrug er deutschen Stellen und Funktionsträgern Aufgaben im besetzten Luxemburg.
- So wurden vier Kreise neu errichtet: Luxemburg-Stadt, Luxemburg-Land, Diekirch und Grevenmacher. Für diese setzte Simon „moselländische“ Kreisleiter ein.
- Weiterhin etablierte er Mitte August 1940 ein Einsatzkommando der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) in Luxemburg. Es bestand aus je einer Abteilung Geheime Staatspolizei (Gestapo), Kriminalpolizei (Kripo) und Sicherheitsdienst (SD). Es erhielt seinen Sitz in der Villa Pauly. Der Leiter des Einsatzkommandos in Luxemburg war in Personalunion Leiter der Staatspolizeistelle Trier. Der erste Leiter war der SS-(Ober)Sturmbannführer und Oberregierungsrat Wilhelm Nölle und dann ab März 1941 der SS-Obersturmbannführer und Oberregierungsrat Fritz Hartmann. Hartmann war zuvor Leiter der Staatspolizei(leit)stelle Koblenz gewesen. Er wurde im März 1941 Leiter der Staatspolizeistelle Trier und dann in Personalunion Leiter des Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD in Luxemburg.
- Ebenfalls Mitte August 1940 organisierte Simon den Justizbereich neu. Mit Wirkung vom 14. August 1940 ordnete er die Einrichtung eines Sondergerichts an. Es war zuständig für die Aburteilung „deutschfeindlicher“ Kundgebungen aller Art. Darunter fielen auch die Herstellung von Flugblättern, die Verbreitung von „deutschfeindlichen“ Nachrichten, aber auch der Verkehr mit Kriegs- und Zivilgefangenen sowie Streiks. Des Weiteren musste das Sondergericht alle Strafsachen verhandeln, die die Staatsanwaltschaft bei dem Sondergericht anklagte. Das Sondergericht wandte deutsches Recht an. In leichten Fällen sollte es Geldstrafen aussprechen, ansonsten verhängte es Gefängnisstrafen und in schweren Fällen Zuchthausstrafen und sogar die Todesstrafe.
Zugleich regelte Simon auch die personellen Angelegenheiten. Unter dem 15. August 1940 bestellte er einen „Kommissar für die Justizverwaltung in Luxemburg“ sowie einen „Kommissar für die Staatsanwaltschaft und den Strafvollzug in Luxemburg“. Kommissar für die Justizverwaltung wurde der Präsident des Oberlandesgerichts Köln, Dr. Alexander Bergmann, und Kommissar für die Staatsanwaltschaft und den Strafvollzug Dr. Osterkamp, er war Generalstaatsanwalt in Köln. Diese wiederum ernannten ihre Vertreter vor Ort, die die Aufgaben als Kommissar in Luxemburg tatsächlich wahrnahmen. Für die staatsanwaltschaftlichen Belange waren das der Trierer Oberstaatsanwalt Dr. Hofmann und Staatsanwalt Leonhard Drach. Nach dem Ausscheiden Hofmanns Ende 1940 war Drach ab dem 1. Januar 1941 Vertreter des Kommissars für die Staatsanwaltschaft vor Ort in Luxemburg. Wer das letzte Mal meine Veranstaltungen besucht hat, erinnert sich vielleicht daran, dass ich Leo Drach dabei porträtiert habe.
Das Sondergericht in Luxemburg tagte unter dem Landgerichtsdirektor Adolf Raderschall als Vorsitzendem. Die Beisitzer wechselten. Tätig waren u.a. der Landgerichtsrat Fuhr, der Gerichtsassessor Schmidt, Landgerichtsrat Gaerner, Landgerichtsrat Kubasch u.a.
Im Laufe der Zeit wurden die Kompetenzen des Sondergerichts immer weiter ausgedehnt, so dass es schließlich auch für Sabotage, Abhören von „Feindsendern“, Vergehen gegen Kriegswirtschaftsbestimmungen, Wehrkraftzersetzung und Wehrdienstentziehung zuständig war.
Im Herbst 1941 kam es im Justizbereich dann noch zu einer organisatorischen Änderung. Zu dieser Zeit hatte Simon festgestellt, dass der Volksgerichtshof und die Reichsanwaltschaft in Berlin mit Luxemburger Sachen befasst waren. Darin sah er eine Kompetenzbeschneidung und ordnete deshalb am 31. Oktober 1941 an, dass das Sondergericht Luxemburg auch die Zuständigkeiten des Volksgerichtshofs übertragen erhielt. Nun war das Sondergericht Luxemburg auch zuständig für die Bestrafung von Hochverrat, Landesverrat und Angriffen gegen Hitler, sofern die Tat in Luxemburg begangen wurde. Damit diese Bestimmungen auf Luxemburg angewendet werden konnten, erklärte Simon für die erwähnten Straftaten Luxemburg zum Inland, in diesem Zusammenhang wurden die Luxemburger als deutsche – und nicht als ausländische - Staatsangehörige behandelt. Das Sondergericht konstituierte sich in diesen Fällen als Sondergericht/Volksgerichtshof.
Vertreter der Anklage in den Verfahren vor dem „normalen“ Sondergericht in Luxemburg war der Staatsanwalt Wienecke, Vertreter der Anklage vor dem Sondergericht in Volksgerichtshof-Zuständigkeit war der Erste Staatsanwalt Leo Drach.
Wie eine Fragebogen-Aktion nach dem Krieg ergab, hielten Sondergericht und Sondergericht/Volksgerichtshof in der Zeit vom 22. Oktober 1940 bis zum 3. August 1944 170 Sitzungen ab. Diese Angaben beziehen sich dabei – wie auch die folgenden – nur auf Verfahren in „politischen Sachen“. Vor dem Gericht erschienen insgesamt 875 Personen, davon 799 in „normaler“ Sondergerichtshof-Zuständigkeit und 76 in Volksgerichtshof-Zuständigkeit. Davon wurden 17 Personen zum Tode verurteilt, von denen 15 hingerichtet und zwei wegen Formfehler oder Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Zuchthausstrafe mit dem Leben davon kamen. Zudem wurde eine lebenslängliche Zuchthausstrafe ausgesprochen. An Strafen wurden insgesamt 1.034 Jahre und 1.174 Monate Zuchthaus und 166 Jahre, 1.874 Monate und 65 Wochen Gefängnis verhängt. 20 Verurteilte starben in der Haft, 5 kehrten nicht zurück, 11 starben nachträglich - zum größten Teil an den Folgen ihrer Inhaftierung. 120 zurückgekehrte Personen waren krank, 28 erlitten durch Haft oder Unfall Kriegsschäden; die meisten davon waren noch im Jahre 1948 krank, einer hundertprozentig.
In wichtigen Fällen legte Simon das Strafmaß selbst fest. So heißt es z.B. als Ergebnis einer Besprechung beim Gauleiter Simon im Mai 1942:
„a) für den Fall Müller und Hubert hält der Gauleiter die Todesstrafe für die gegebene Bestrafung,
b) im Falle Clesse ist er mit einer Bestrafung des Haupttäters von sechs bis zehn Jahren Zuchthaus einverstanden,
c) im Fall Bernardy erscheint eine Bestrafung von zwei bis drei Jahren Gefängnis am Platze,
d) im Falle Helten ist eine Zuchthausstrafe von bis zu zehn Jahren geboten.“
Bereits Anfang Januar 1941 hatte die NSDAP den Gau Koblenz-Trier in Gau Moselland umbenannt. Durch diese Namensänderung sollte stärkere Identifikation mit dem Landschaftsraum erreicht werden. Es sollte eine Quasi-Staatsbürgerschaft des „Moselländers“ entstehen. Zugleich sollte damit die Angliederung Luxemburgs an den Gau sowohl verschleiert als auch erklärt werden. Für Gustav Simon war Luxemburg seitdem „Parteiinland“.
Zu den ersten Maßnahmen Simons als Chef der Zivilverwaltung gehörten im September 1940 mehrere Verordnungen, mit denen er die Bestimmungen der „Nürnberger Rassengesetze“ auch in Luxemburg in Kraft setzte. Knapp 3.000 Juden haben Luxemburg noch verlassen können bzw. wurden ausgewiesen. Die 750 in Luxemburg verbliebenen Juden wurden in einem abseits gelegenen ehemaligen Kloster in Fünfbrunnen zusammengezogen. Am 16. Oktober 1941 mussten die ersten Luxemburger Juden „auf Transport in den Osten“ gehen. In sechs weiteren Transporten wurden schließlich alle Juden bis zum 17. Juni 1943 nach Litzmannstadt (Lodz), Theresienstadt, Izbica bei Lublin und Auschwitz deportiert und ermordet.
Mit zunehmender Kriegsdauer und einem Zweifrontenkrieg – nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 – entstand immer größerer Bedarf an Soldaten. Auch die Luxemburger mussten möglichst viele stellen. Simon startete eine große Anwerbeaktion, die aber wenig erfolgreich war. Schließlich blieb ihm – auch unter dem Druck aus Berlin – nichts anderes übrig, als in Luxemburg die allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Am 30. August 1942 verkündete er die Wehrpflicht für die Luxemburger der Jahrgänge 1920 bis 1924. Später wurde sie auf die Jahrgänge bis 1927 ausgedehnt. Die Zwangsrekrutierten erlangten die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch durch den Eintritt in die deutsche Wehrmacht. Die Wehrpflicht war also nicht die Folge der Staatsangehörigkeit, sondern deren Voraussetzung. Das war also eine zwangsweise Eingliederung in eine fremde Wehrmacht, die das Völkerrecht verbietet.
Dies provozierte in den darauf folgenden Tagen eine Reihe von Streikaktionen in verschiedenen Ortschaften. Geschäftsleute schlossen ihre Läden, Lehrer und Beamte weigerten sich, ihren Dienst anzutreten, in der Schwerindustrie verließen Arbeiter ihren Arbeitsplatz, Bauern lieferten keine Milch ab. Diese Aktionen hatten mehr symbolischen Charakter. Sie dauerten nur einige Stunden an und hatten keine nachhaltige, schon gar keine zerstörerische Wirkung. Insgesamt zogen sie sich da und dort im Land bis zum 2. September 1942 hin.
Nachdem diese Protestaktionen schon stattgefunden hatten bzw. während sie liefen, erließ Simon als Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg unter dem 31. August 1942 insgesamt vier Verordnungen über die Verhängung des zivilen Ausnahmezustandes. Dabei wurde dieser zivile Ausnahmezustand zunächst nur für die Stadt Esch verhängt (1. Verordnung), später auch auf die Stadt Düdelingen (3. Verordnung) und schließlich über das gesamte Gebiet von Luxemburg (4. Verordnung). Mit der Verhängung des Ausnahmezustandes ging die Einsetzung eines Standgerichts einher. Das geschah in der 2. Verordnung vom 31. August 1942. Da das alles so schnell ging und das Verordnungsblatt nicht so schnell gedruckt werden konnte wie sich die Unzufriedenheit unter den Luxemburgern ausbreitete, ließ Simon hierüber Plakate drucken und sie aufhängen.
Ein wesentlicher Punkt bei diesem Ausnahmezustand war die Einrichtung eines polizeilichen Standgerichts. Für dieses „Super-Sondergericht“ erließ Simon eine Art Verfahrensordnung. Danach wurde das Standgericht als polizeiliches Standgericht gebildet. Es sollte zuständig sein zur Aburteilung von Straftaten, die das deutsche Aufbauwerk gefährden. Simon behielt sich die Bestimmung der Handlungen vor, die unter das Standrecht fallen sollten. Es war also völlig willkürlich, welche Handlungen und welche Personen bei dem Standgericht angeklagt wurden. Das Standgericht konnte nur auf Todesstrafe, Überstellung an die Geheime Staatspolizei oder Freispruch erkennen. Das Standgericht bestand aus einem Vorsitzer (so nannten die Nazis den Vorsitzenden) und zwei Beisitzern. Simon bestimmte den Führer des Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD in Luxemburg, den bereits erwähnten SS-Obersturmbannführer und Oberregierungsrat Fritz Hartmann zum Vorsitzer des Standgerichts. Dieser berief dann die Beisitzer. Der eine Beisitzer war der Landgerichtsdirektor Adolf Raderschall – der Vorsitzer des Sondergerichts Luxemburg - und der zweite Beisitzer ein gewisser Albert Schmidt, er war ebenfalls Obersturmbannführer und Kommissar bei der Geheimen Staatspolizei in Trier. Vertreter der Anklagebehörde war der ebenfalls schon erwähnte Staatsanwalt Leonhard Drach.
Das Standgericht – so hieß es in der Verordnung von Simon weiter – bestimmte sein Verfahren selbst. Es hatte alles zu tun, war zur Erforschung der Wahrheit erforderlich war. Das Urteil und die Besetzung des Gerichts sowie eine kurze Urteilsbegründung waren schriftlich niederzulegen. Die Vollstreckung der Urteile war durch den Vorsitzer zu veranlassen. Zeit und Ort der Vollstreckung waren schriftlich niederzulegen. Die Urteile des Standgerichts waren nicht mit Rechtsmitteln anfechtbar. Die Urteile bedurften der Bestätigung durch Simon als Chef der Zivilverwaltung. Und schließlich: Die Verordnung trat mit sofortiger Wirkung in Kraft.
Die Druckerschwärze von dem Verordnungsblatt war noch nicht trocken, da fand auch schon die erste Sitzung dieses polizeilichen Standgerichts in der Nacht des 1. September 1942 statt. Der Vorsitzer des Standgerichts war von Simon instruiert, dass grundsätzlich nur die Todesstrafe zu verhängen sei. 20 Angeklagte wurden vom Standgericht zum Tode verurteilt. Die Vollstreckung aller 20 Todesurteile fand meist schon am ersten Tag nach der Verurteilung im KZ Hinzert statt. Blutrote Plakate, die noch in der Nacht der Urteilsverkündung gedruckt und sogleich im ganzen Land aufgehängt wurden, verkündeten die Todesurteile und erklärten die Hinrichtungen für bereits vollzogen, auch wenn sie in Wirklichkeit erst ein oder zwei Tage später erfolgten. Der Gauleiter Simon war mit der Arbeit des Standgerichts sehr zufrieden und äußerte sich anerkennend.
In mehreren Fällen ordnete das Standgericht die Einstellung des Verfahrens an. Freisprüche gab es aber keine. 31 Angeklagte wurden zur Überstellung an die Geheime Staatspolizei verurteilt. Das hatte „Schutzhaft“ mit Einlieferung in ein Konzentrationslager zur Folge. Die meisten von ihnen wurden erst ins KZ Hinzert eingeliefert und von dort aus nach einigen Monaten in ein bei Lublin in Polen gelegenes Konzentrationslager verschleppt.
Verschleppt wurden auch an dem Streik beteiligte Schülerinnen und Schüler. Mädchen wurden in die Jugendherberge nach Adenau gebracht. 183 Schüler im Alter von 16 bis 19 Jahren kamen auf die Burg Stahleck oberhalb von Bacharach. Dort befand sich ein „Erziehungslager“ der Hitler-Jugend. Die Schüler wurden schikaniert und sollten mürbe gemacht werden. Stundenlang mussten sie Appellstehen und exerzieren, manche von ihnen mussten die Straße auf der Burg mit Zahnbürsten säubern.
In unmittelbarem Zusammenhang mit den Streikaktionen verkündete Simon am 9. September 1942 eine „Umsiedlungsaktion für Luxemburger“. Bis 1944 wurden daraufhin mindestens 1.410 Familien mit ca. 4.200 Personen nach dem Osten, dem Sudetenland und Oberschlesien, umgesiedelt.
Rund 11.200 junge Luxemburger wurden in den folgenden Jahren in den Reicharbeitsdienst (RAD) und in die Deutsche Wehrmacht gezwungen. 2.750 von ihnen kehrten nicht wieder zurück. 3.510 entzogen sich dem Dienst in der Wehrmacht durch Flucht. Vom Reichsarbeitsdienst und vom Kriegshilfsdienst waren auch 3.600 Mädchen betroffen. 60 von ihnen kamen dabei ums Leben.
Die Luxemburger Bevölkerung stand den deutschen Besatzern und der Besatzungspolitik weitgehend reserviert und ablehnend gegenüber. Als Simon im Oktober 1941 mit einer Volkszählungsstatistik eine formale Zusage der Luxemburger zum Deutschtum erreichen wollte, scheiterte er kläglich. Stichproben ergaben, dass auf dem Lande 98% und in den Städten 96% der Bevölkerung die deutsche Volkszugehörigkeit ablehnten. Natürlich gab es in Luxemburg auch Kollaboration, Kollaborateure und Denunzianten. Es gab aber auch passiven Widerstand und auch verschiedene Widerstandsgruppen. Teilweise wurden Mitglieder von ihnen vom Sondergericht in Volksgerichtshof-Zuständigkeit abgeurteilt. Andere wurden auf Geheiß Simons ohne – noch so fadenscheinige – Gerichtsverhandlung erschossen: so 23 Widerständler am 25. Februar 1944 im SS-Sonderlager/KZ Hinzert und 10 Widerständler am 19. Mai 1944 im KZ Natzweiler/Struthof im Elsaß.
In dieser Zeit war Gustav Simon Herr über Leben und Tod in Luxemburg.
Unterdessen kam es an 6. Juni 1944 zur Invasion der westlichen Alliierten in Dünkirchen/Nordfrankreich. Mitte August war der Weg nach Paris frei und am 25. August 1944 zog General Charles de Gaulle in Paris ein. Da wurde der Boden in dem von Deutschland besetzten Luxemburg zu heiß. Als die Alliierten bedrohlich nahe kamen, verließ Simon am 1. September 1944 fluchtartig Luxemburg. Er kehrte ein paar Tage später für kurze Zeit wieder zurück, verließ dann aber Luxemburg endgültig am 9. September 1944. Am Tag darauf trafen die Amerikaner in Luxemburg-Stadt ein, am 22. Februar 1945 war dann ganz Luxemburg befreit. Mittlerweile residierte Gustav Simon mit seinem Stab auf Schloss Sayntal bei Bendorf am Rhein. Er bezeichnete sich zu dieser Zeit immer noch als Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg – allerdings mit dem Zusatz: „zurzeit in Koblenz“.
Als die Amerikaner Anfang März 1945 Koblenz erreichten, floh Simon nach Westfalen. Nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht tauchte er unter, veränderte sein Äußeres, trug nun eine Brille und einen Schnurrbart und nannte sich nun nach dem Mädchennamen seiner Mutter Hans Wöllfer. Trotzdem gelang es den Briten, ihn am 11. Dezember 1945 in der Nähe von Paderborn zu verhaften. Kaum in seiner Gefängniszelle, schnitt sich Simon mit einer Rasierklinge die Pulsadern auf. Der Selbstmordversuch misslang aber. Nach der weiteren Darstellung der Briten hat sich Simon vor seiner Auslieferung nach Luxemburg dann am 18. Dezember 1945 in seiner Zelle am Bettpfosten erhängt. Nach einer anderen Quelle soll Simon auf dem Weg von Paderborn nach Luxemburg im Gefängnis in Luxemburg oder auf dem Transport dorthin von luxemburgischen Widerstandskämpfern erschlagen worden sein. Jedenfalls verbrachte man seinen Leichnam in das Gefängnis von Luxemburg-Stadt und seine Leiche konnte dort auch besichtigt werden. Was dann mit der Leiche geschah, ist nicht bekannt, unbekannt ist auch die Grabstätte Simons. Seine Sterbeurkunde wurde jedenfalls erst zwei Monate nach seinem Tod, im Februar 1946 in Paderborn, ausgestellt.
Das war Leben und Tod des Gauleiters des Gau Koblenz-Trier bzw. später Gau Moselland Gustav Simon. Mit einem hatte Simon Recht – mit seiner Prophezeihung bzw. Drohung von Februar 1933: (Die Macht) geben wir nicht wieder her. Wir lassen uns lieber unter den Trümmern des Dritten Reiches begraben, als es jemals wieder aufzugeben.“
Verfolgung und Widerstand in Koblenz 1933 – 1945
Teil 2: Dr. med. Johann Recktenwald (geb. 1882)
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich begrüße Sie sehr herzlich zum zweiten Vortrag in der diesjährigen Staffel über Widerstand und Verfolgung in Koblenz 1933 bis 1945. In der diesjährigen Staffel der VHS-Vorträge haben wir uns ja wieder Täter aus Koblenz vorgenommen. Das letzte Mal – vor zwei Wochen – habe ich den Gauleiter des Gaues Koblenz-Trier, später: Gau Moselland, Gustav Simon porträtiert. Heute will ich Ihnen einen Mediziner vorstellen, Dr. med. Recktenwald, genauer gesagt: einen wie man so sagt Human-Mediziner – obwohl das mit dem „Humanen“ hier ist -wie Sie noch sehen werden - so eine Sache ist.
Wie dem auch sei. Recktenwald ist der erste Mediziner, den ich in dieser Reihe porträtiere. Ich darf in Erinnerung rufen, mit wem wir uns bisher befasst haben: Im letzten Semester habe ich die Tätergeschichten begonnen mit dem Kesselschmied Emil Faust, dann habe ich den Verwaltungsjuristen Harald Turner porträtiert und schließlich den Justizjuristen Leonhard Drach. Vor 14 Tagen habe ich Ihnen von Gustav Simon, dem Diplom-Handelslehrer und abgebrochenen Jurastudenten erzählt. Also: Dr. Recktenwald ist in der Tat der erste von mir porträtierte Mediziner. – Und weil das so ist, möchte ich Ihnen zunächst etwas allgemein zu den Medizinern erzählen.
Wie wir ja inzwischen wissen, sind die Nürnberger Prozesse eine wichtige Erkenntnisquelle über NS-Täter. Vor mehr als 60 Jahren – am 1. Oktober 1946 – ergingen die Urteile des Internationalen Militär-Tribunals gegen die verbliebenen NS-Größen aus der Politik. Angeklagt waren Göring und 23 weitere Hauptkriegsverbrecher und sechs Organisationen. Anklagepunkte waren: Verbrechen gegen den Frieden (Planung und Führung eines Angriffskrieges), Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen. An diesen Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess schlossen sich 12 Nachfolgeprozesse an. Der erste dieser Nachfolgeprozesse war der „Fall 1“: Der Nürnberger Ärzteprozess. In diesem Prozess gab es vier Hauptanklagepunkte, und zwar:
- Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen,
- Kriegsverbrechen (insbesondere medizinische Menschenversuche),
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
- Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen.
Hinter diesen abstrakten Vorwürfen standen konkrete Personen und ihre Taten, als da waren: Hunderttausendfacher „Euthanasie“mord, brutale und tödliche Menschenexperimente sadistische medizinische Quälereien bisher unbekannter Art.
Im Einzelnen behandelte der Nürnberger Ärzteprozess die Dachauer Unterdruck- und Unterkühlungsexperimente, Versuche zur Trinkbarmachung von Meereswasser, Fleckfieber-Impfstoffversuche und die Hepatitis-epidemica-Virus-Forschung, Sulfonamid-, Knochentransplantations- und Phlegmoneversuche, Humanexperimente mit den Kampfstoffen Lost und Phosgen, die Herkunft der jüdischen Skelettsammlung für die „Reichsuniversität“ Straßburg, den als Euthanasie-Aktion verbrämten Krankenmord an Psychiatriepatienten und die experimentelle Vorbereitung für Massensterilisationen.
Auf der Nürnberger Anklagebank saß, neben den wenigen stellvertretenden Haupttätern, auch die in großen Teilen willfährige deutsche Medizin unter der NS-Diktatur, eine Medizin, deren Hauptvertreter es verstanden hatten, ihre allgemeinpolitischen und standespolitischen Interessen mit denen der NS-Ideologie auf einen Nenner zu bringen.
Das Gerichtsverfahren dauerte vom 9. Dezember 1946 bis zum 19. Juli 1947. Am 20. August 1947 wurde das Urteil verkündet: 7 Todesurteile, zahlreiche lebenslängliche Haftstrafen, einige Haftstrafen von fünfzehn bzw. zehn Jahren sowie einigen Freisprüche. – Darüber gibt es übrigens ein hochinteressantes, aber vollständig in Vergessenheit geratenes Buch: „Medizin ohne Menschlichkeit“. – Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Herausgegeben und kommentiert von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, erschienen in der Fischer Bücherei, Frankfurt/Main 1960. Dieses Buch ist im Übrigen die Neuausgabe der 1947 von den beiden Autoren veröffentlichten Schrift „Das Diktat der Menschenverachtung“.
Nicht in Nürnberg, sondern hier bei uns in Koblenz gab es ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren, das am 4. Februar 1948 zur Anklage des Oberstaatsanwalts in Koblenz bei der Strafkammer beim Landgericht in Koblenz gegen drei Ärzte der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Andernach führte. Hauptangeklagter war der ehemalige Direktor der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Dr. med. Johann Recktenwald. Der Vorwurf gegen ihn lautete auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Mord in einer Vielzahl von Fällen. Wir wollen hier der Frage nachgehen, wie es zu dieser Anklage kam, und wie es mit der Anklage gegen Dr. Recktenwald und mit ihm selbst weiterging.
Johann Rechtenwald wurde am 24. Juni 1882 in Bliesen im damaligen Saargebiet geboren. Die Familienverhältnisse waren unspektakulär: Der Vater Recktenwalds war Landwirt, ein Bruder von ihm fiel im Ersten Weltkrieg, seine Schwester war mit einem Rektor in Bliesen verheiratet. Ebenso unspektakulär war Recktenwalds Ausbildung und beruflicher Werdegang. Er besuchte zunächst die Volksschule in seinem Heimatort Bliesen und anschließend die humanistischen Gymnasien in St. Wendel und in Trier. Die Reifeprüfung bestand er im Jahr 1902. Anschließend studierte er an den Universitäten in Straßburg, Bonn, Marburg, Berlin, Heidelberg und Freiburg. Er war also ein weit gereister Student, ehe er im Jahre 1907 sein medizinisches Staatsexamen in Marburg – mit der Note „1“ - ablegte. Zwei Jahre später, 1909, promovierte er in Freiburg. Anschließend kehrte er nach Marburg zurück und hatte eine Stelle an der dortigen Psychiatrischen Klinik und Landesheilanstalt. Im Jahre 1911 trat Recktenwald in die Dienste der Rheinprovinz. Dort war er an verschiedenen Anstalten tätig: zunächst in Süchteln, dann in Düren, schließlich in Galkhausen bei Düsseldorf und noch in Merzig. In Merzig blieb er bis 1920. Dann war er von 1920 bis 1927 als Oberarzt an der Rheinischen Provinzial Heil- und Pflegeanstalt in Andernach tätig.
Diese Zeit der ersten Berufsjahre Recktenwalds fiel zusammen mit der Diskussion über die Behandlung Geisteskranker und Schwachsinniger. Das war keine nur von den damals noch zahlenmäßig und auch sonst unbedeutenden Nationalsozialisten angeheizte Kontroverse. Vielmehr wurde sie in der Mitte und aus der Mitte der Gesellschaft heraus geführt. Ihr Ursprung war der sog. Sozialdarwinismus, d.h. die auf der „Evolutionstheorie“ Charles Darwins beruhende These, dass Verbrecher, Asoziale, Geisteskranke u.a. auszusondern, zu selektieren sind, um die „Artung“ des Volkes aufzuwerten.
Diese Erbgesundheitspflege kam bis zum Ersten Weltkrieg nicht über ein Schatten- und Sektiererdasein hinaus. Das änderte sich während des Krieges, in dem – wie es hieß – gerade die besten Teile des Volkes ihr Leben lassen mussten, sowie durch eine weitere Publikation. Es war die im Jahre 1920 erschienene, nur 62 Seiten umfassende Schrift mit dem programmatischen Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form.“ Die Schrift hatte zwei Autoren mit Rang und Namen: Zum einen den Juristen Karl Binding. Er war zweimal promoviert, Dr. jur. und Dr. phil., Präsident des Reichsgerichts und 40 Jahre lang Universitätsprofessor. Der zweite Autor war der Psychiater Dr. med. Alfred Hoche. Nach Bindings Meinung gab es zwei Gruppen von Menschen, die zur Vernichtung freigegeben werden sollten:
Die Menschen der ersten Gruppe waren die, die infolge einer Krankheit oder Verwundung unrettbar verloren waren und den dringenden Wunsch nach Erlösung zu erkennen gegeben haben. Hierzu sollten gehören die unheilbar Krebskranken oder Schwindsüchtige wie auch die tödlich Verwundeten. In dieser Gruppe ging es also um die Freigabe des Todes der unheilbar Kranken auf Verlangen, also das, was man gemeinhin als Sterbehilfe, als Euthanasie, bezeichnet.
Dies war nicht das eigentlich Problematische an dem Buch von Bindung und Hoche. Das Problem befand sich in der zweiten Gruppe, die Binding als „lebensunwertes Leben“, das vernichtet werden durfte, definierte. Das war die Gruppe der unheilbar Blödsinnigen. Über sie schrieb Binding: „Sie haben weder den Willen zu leben noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müsste. Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich. Für Ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke.“ Der Psychiater Hoche lieferte aus seinem Fachgebiet noch „ärztliche Bemerkungen“ für die Tötung von Blödsinnigen. Für ihn waren das „Ballastexistenzen“. Ein Zitat möge diese erhellen:
Es ist eine peinliche Vorstellung, dass ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstands nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen.
Hoche sah diese Menschen nicht aus sich heraus, sondern nur in Bezug auf das gesellschaftliche Ganze. Gegenüber diesem Gan-zen hatten die Einzelexistenzen an Bedeutung verloren. Schon hier – wie erst recht später im Nationalsozialismus – trat immer mehr an die Stelle der Individualethik die Gemeinschaftsethik - nach dem platten Motto „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“. Es finden sich hier auch wirtschaftliche Erwägungen, die in der NS-Zeit große ideologische Bedeutung hatten.
Das Buch von Binding/Hoche war der Durchbruch für die Rassenhygieniker. Bereits in der Weimarer Republik diskutierten die Politiker zumal in wirtschaftlichen Krisenzeiten die hohen Kosten, die durch die Unterbringung von Menschen in Anstalten entstünden. Psychiater und Juristen dachten offen über Gesetze und Programme nach, die eine „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in bestimmten Fällen ermöglichen sollten. Dabei stand allerdings nicht die Tötung“ dieser Menschen, sondern deren Sterilisierung im Vordergrund. Man propagierte weiterhin das Ziel, nämlich die „Ausmerze der Minderwertigen“, wollte sich aber „nur“ des vermeintlich milderen Mittels bedienen. Andererseits erfuhr diese „Ausmerze der Minderwertigen“ schon in der Weimarer Republik eine Erweiterung. Denn man problematisierte die unkontrollierte Vermehrung „minderwertiger und asozialer“ Bevölkerungsschichten. Die „Rassenhygieniker“ beschworen ein Untergangsszenario, dessen Kern die Behauptung bildete, dass die als minderwertig eingeschätzten Teile der Bevölkerung sich schneller vermehrten als die angeblich vollwertigen. Der Geburtenrückgang betreffe nur die wertvollen Teile der Bevölkerung, während alle minderwertigen sich „hemmungslos“ vermehrten.
Um ihnen einen Eindruck vom Zeitgeist zu vermitteln, möchte ich Ihnen die Ergebnisse einer Fachtagung der Evangelischen Kirche aus dem Jahre 1931 mitteilen. Dabei ist davon auszugehen, dass die Evangelische Kirche – immerhin eine Institution mit fester sittlicher Grundhaltung – eine eher humanistischere Haltung einnahm als manche andere Organisation bzw. Gruppierung bzw. die öffentliche Meinung – von der NSDAP ganz zu schweigen. In einem Artikel fasst ein Dr. med. und Dr. phil. Hans Harmsen die Beratungsergebnisse der Evangelischen Fachkonferenz für Eugenik zusammen, die im Mai 1931 in Treysa tagte. Darin heißt es unter der Überschrift „Eugenik und Wohlfahrtspflege“:
Mit Nachdruck ist darauf hinzuweisen, dass erbbiologische Gesundheit nicht mit ‚Hochwertigkeit’ identisch ist. Die Erfahrung aller Zeiten lehrt vielmehr, dass auch körperlich und geistig Gebrechliche ethisch und sozial hochwertige Menschen sein können. Die Strukturwandlungen innerhalb unseres Bevölkerungsaufbaus und die quantitative wie qualitative Änderung der Bevölkerungsvermehrung, die vor allem in der Schrumpfung der durchschnittlichen Familiengröße bei den Gruppen der erbbiologisch und sozial Tüchtigen und Leistungsfähigen zum Ausdruck kommt, lassen aber eine eugenische Neuorientierung unserer öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege dringend erforderlich erscheinen. An die Stelle einer unterschiedslosen Wohlfahrtspflege hat eine differenzierte Fürsorge zu treten. Erhebliche Aufwendungen sollten nur für solche Gruppen Fürsorgebedürftiger gemacht werden, die voraussichtlich ihre volle Leistungsfähigkeit wieder erlangen. Für alle übrigen sind dagegen die wohlfahrtspflegerischen Leistungen auf menschenwürdige Versorgung und Bewahrung zu begrenzen. Träger erblicher Anlagen, die Ursache sozialer Minderwertigkeit und Fürsorgebedürftigkeit sind, sollten tunlichst von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden.
So weit diese Fachkonferenz der Evangelischen Kirche in Treysa im Frühjahr 1931. Sie sehen, dass selbst hier – nach einigen Reminiszenzen an die christliche Lehre und Tradition – doch einer Neuorientierung das Wort geredet wird. Wenn auch vorsichtig angesprochen wird doch eine Sterilisation befürwortet – und zwar wegen „sozialer Minderwertigkeit“.
Angesichts dieser Stimmung war es nicht verwunderlich, dass die Ärzteschaft und die Ministerialbürokratie schon zurzeit der Weimarer Republik den Entwurf eines Sterilisationsgesetzes auf den Weg gebracht hatten. Im Dezember 1932 hieß es im Reichs-innenministerium, die Sache sei dringlich, weil „zutreffend und in neuerer Zeit unter den Eindrücken der Wirtschaftsnot immer häufiger darauf hingewiesen wird, dass die ungehemmte Fortpflanzung von Menschen mit schlechten Erbanlagen die Allgemeinheit wirtschaftlich außerordentlich belastet“. Zwar sei bei der gegenwärtigen „Sachlage“ die Einwilligung des Betroffenen Voraussetzung, es müsse aber geklärt werden, „ob auch eine Zwangssterilisierung bei bestimmten schweren geistigen Erkrankungen“ möglich sei. Ein Sondergesetz unter Federführung des Reichsinnenministeriums sei zu empfehlen, da eine bloße Änderung des Strafgesetzbuchs „sowohl sachlich wie zeitlich in höchstem Maße nachteilig wäre“.
Durch die Turbulenzen im Januar 1933 und durch die Auflösung des Reichstages nach der so genannten Machtergreifung der Nazis wurde das Gesetzesvorhaben zunächst nicht weiter verfolgt. Als die Nazis dann aber in Preußen und im Deutschen Reich und auch anderswo im Land die Macht an sich gezogen hatten, forcierten sie das Vorhaben und verlangten vor allem auch eine Sterilisation gegen den Willen des Betroffenen.
Am 14. Juli 1933 erließ dann die Reichsregierung – seit Ergehen des so genannten Ermächtigungsgesetzes konnte sie anstelle des (gleichgeschalteten) Reichstages ebenfalls „Gesetze“ erlassen – das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Hierzu äußerte der Vizekanzler von Papen Bedenken. Diesen trug man Rechnung, indem vor seinem In-Kraft-Treten der Abschluss des Reichskonkordats mit dem Heiligen Stuhl abgewartet werden sollte und das Gesetz dann erst zum 1. Januar 1934 in Kraft trat.
Wir sehen: Dieses Gesetz war keine „Erfindung“ der Nazis. Sie griffen hier – wie auch in anderen Fällen – „lediglich“ bereits Vorhandenes sowie Stimmungen im Volk und gesetzgeberische Vorarbeiten auf – um es dann allerdings mit der ihnen eigenen Radikalität und exzessiv ein- und umzusetzen. Die Nazis gaben dabei das Ziel unmissverständlich vor: „Wir sind uns darüber klar, dass die Zukunft unseres Volkes nur durch positive bevölkerungs-politische Maßnahmen gesichert werden kann. Die Voraussetzung für solche Maßnahmen sind aber die ausjätend wirkende Ausmerzung und die Milderung der Gegenauslese.“ Kurz und bündig hieß es: „Aufartung durch Ausmerzung“.
Das Gesetz regelte in § 1 Abs. 1, dass – wer erbkrank ist – „durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden (kann), wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen und geistigen Erbschäden leiden werden.“ In § 1 Abs. 2 zählte das Gesetz neun Diagnosen auf, nach denen eine Person als erbkrank galt.
In dieser Zeit sammelte Recktenwald außerhalb von Andernach Erfahrung in der Heil- und Pflegeanstalt in Bonn und als stellvertretender Direktor in Bedburg-Hau. Er stand auch nicht abseits, als die Nazis 1933 die Macht ergriffen. Nach seiner eigenen Darstellung wurde er im Augenblick der sog. Machtergreifung Mitglied der NSDAP und war Mitglied des NSV, des NS-Ärztebundes, des VDA, des RLB, des RDB und im Reichskolonialbund. Er sei zunächst auch Zellenleiter-Anwärter gewesen. Diesen Posten habe er aber bald aufgegeben, um nur noch einfaches NSDAP-Mitglied zu sein. Dies alles war nicht Dr. Recktenwalds Schade. Denn schon 1934 wurde er Direktor der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Andernach.
Seitdem war und blieb die sog. Rassenhygiene als Teil des Rassismus ein entscheidendes Ziel der Nazis. Dabei fand das Thema sogar Eingang in die Schulbücher. In Mathematik-Büchern rechnete man mit den Kranken. Eine Aufgabe etwa lautete:
Nach vorsichtigen Schätzungen sind in Deutschland 300.000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege. Was kosten diese jährlich bei einem Satz von 4 RM? – Wie viele Ehestandsdarlehen zu je 1.000 RM könnten (…) von diesem Geld jährlich ausgegeben werden? – Oder: Der Bau einer Irrenanstalt erforderte 6 Mill. RM. Wie viele Siedlungshäuser zu je 1.500 RM hätte man dafür bauen können?
Auf diese Weise sollte der Boden für die Bejahung eines künftigen „Euthanasie“gesetzes mit dem Inhalt vorbereitet werden, „unwertes Leben“ weitgehend schutzunwürdig zu lassen.
Schon im Jahr 1935 beschäftigte man sich in „Führerkreisen“ mit dem Beginn einer „Euthanasieaktion“. Im Folgejahr – 1936 – gab es erste Verlegungen von nervenkranken und schwachsinnigen Patienten aus kirchlichen in staatliche Anstalten. Im nächsten Jahr – inzwischen nahmen die Verlegungen zu – verlangte die SS-Zeitschrift „Das Schwarze Korps“ den „Gnadentod“ für „unwertes Leben“ – sinnigerweise mit Akten aus der Heil- und Pflegeanstalt Andernach. Im Jahr 1938 dann führte man ausgewählte Besuchergruppen in psychiatrischen Anstalten die Patienten als „Abschaum der Menschheit“ vor. In verschiedenen Zeitschriften erschienen Fotos behinderter Menschen zu dem Zweck, Ekel und Abscheu zu erregen. Die „Kanzlei des Führers“ erwartete trotz dieser sehr regen Propagandatätigkeit bei einer groß angelegten „Euthanasieaktion“ Widerstände insbesondere bei der konfessionell gebundenen Bevölkerung. Sie beauftragte deshalb einen katholischen Moraltheologen, ein Gutachten zur „Euthanasie“ zu erstellen. Dieser kam zu dem Schluss, „Euthanasie“ sei unter bestimmten Bedingungen mit der katholischen Moraltheologie vereinbar.
Im Januar 1939 begannen die konkreten Vorgespräche mit Ärzten in der „Kanzlei des Führers“. Im Laufe des Jahres wurden die Vorbereitungen intensiviert. Inzwischen stand der von Hitler entfesselte Zweite Weltkrieg unmittelbar bevor. Im Juli/August 1939 erhielt die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ den Tarnnamen „T 4“. Die Benennung kam von dem Standort der Dienststelle in Berlin, in der Tiergartenstraße 4. Es wurden auch die Gutachter bestellt, die die „Selektion“ der Kranken und Behinderten vornehmen sollten. Weiterhin wurde das Kriminaltechnische Institut im Reichssicherheitshauptamt Berlin beauftragt, das am besten geeignete Tötungsmittel herauszufinden. Man einigte sich auf Kohlenmonoxydgas. Es wurde in Flaschen abgefüllt beim Ludwigshafener Werk der IG Farben bestellt. – Am 1. September 1939 befahl Hitler den Überfall auf Polen. Damit begann der Zweite Weltkrieg – wir werden darauf gleich noch einmal zurückkommen.
Drei Wochen später – am 21. September 1939 – ordnete der Reichsminister des Innern mit Runderlass an, alle Heil- und Pflegeanstalten zu melden. Damit sollte sichergestellt werden, dass sämtliche Krankenanstalten und später auch alle ihre Patienten erfasst wurden – also auch die konfessionellen und privaten Anstalten unterfielen der Meldepflicht. Am 9. Oktober 1939 ordnete der Staatssekretär im Reichsinnenministerium Dr. Conti an, an alle Heil- und Pflegeanstalten für die einzelnen Patienten Meldebögen zu versenden. Diese Bögen waren von den Anstalten auszufüllen und zurückzusenden. Wir kommen nachher noch einmal darauf zurück.
Im Herbst 1939 begannen die Massentötungen. Die ersten Opfer sind Patienten aus Pommern, Westpreußen und Polen. In dieser Zeit unterzeichnete Hitler die bekannte Ermächtigung an seinen Begleitarzt Dr. Brandt und den Reichsleiter Bouhler zur Tötung nervenkranker und schwachsinniger Anstaltspatienten im Deutschen Reich. Diese auf Privatpapier gegebene Ermächtigung wurde auf den 1. September 1939 – den Beginn des Zweiten Weltkrieges – zurückdatiert. Sie hatte den Wortlaut:
Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.
Bis Ende 1939 wurden die Anstalten Grafeneck in Württemberg, Brandenburg/Havel und Schloss Hartheim bei Linz/Donau zu Tötungsanstalten umfunktioniert. Die sog. Kinderfachabteilung Görden begann mit der Tötung minderjähriger Patienten. In Meseritz/Obrawalde und Tiegenhof wurden die Patienten in mobilen „Gaswagen“ umgebracht.
Im Laufe des Jahres 1940 hatten alle Tötungsanstalten – mit Ausnahme der Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg – mit den Massentötungen Kranker und Behinderter begonnen. Im Sommer 1940 gab es die ersten Proteste von Kirchenvertretern und auch dem einen oder anderen Arzt. Auf einer Tagung verbot die katholische Bischofskonferenz den Gläubigen, beim Abtransport von „Euthanasie“-Patienten aktiv mitzuwirken. Die beiden großen Konfessionen versuchten dann, durch „Verhandlungen“ auf die „Euthanasie“-Aktion Einfluss zu nehmen und zu erreichen, dass die „Euthanasie“ auf einen möglichst eng begrenzten Personenkreis beschränkt wurde. Im Dezember 1940 verkündete das Hl. Offizium in Rom durch Dekret, dass jede Tötung menschlichen Lebens, insbesondere im Zuge der „Euthanasie“, nach offizieller kirchlicher Auffassung verboten sei.
Noch im selben Monat wurde die „Vergasung“ von „Euthanasie“-Opfern in der Tötungsanstalt Grafeneck eingestellt. An ihre Stelle trat – nach Umbaumaßnahmen – im Januar 1941 die Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg.
Bis dahin waren in diese „T 4-Aktion“ nur die engsten Sachbearbeiter Hitlers und einige wenige Gutachter eingeweiht. Das änderte sich im Februar 1941. Da fand in der Reichskanzlei die eigentliche Eröffnung der „T 4-Aktion“ statt. Es waren sämtliche Direktoren der als sog. Zwischenanstalten vorgesehenen Heil- und Pflegeanstalten Deutschlands sowie Professoren der Psychiatrie deutscher Universitäten geladen. Anwesend waren etwa 100 Personen. Mit dabei waren auch Dr. Recktenwald von der Zwischenanstalt Andernach sowie ein gewisser Prof. Dr. Creutz. Creutz war Medizinaldezernent des Provinzialverbandes der Rheinprovinz und war zuständig für die Psychiatrie (und Euthanasie) im Rheinland. Dieser Prof. Creutz wird später noch eine sehr wichtige Rolle spielen.
Diesem Auditorium wurde dann verdeutlicht, es seien „unnütze Esser“ zu beseitigen: „Die besten der Nation fielen draußen; dieser negativen Auslese des Krieges müsse entgegengewirkt werden. Im Übrigen sei es auch im Interesse der Front notwendig, diesen Schritt zu tun, sonst könne draußen leicht eine Bitterkeit entstehen, dass der Soldat Tag und Nacht in Lebensgefahr schwebe, während die für die Nation wertlosern Elemente zu Haus gepflegt und gehegt würden“. Alle Anwesenden erklärten ihre Bereitschaft mitzumachen – mit Ausnahme eines Dr. Schmidt. Dieser Mediziner war sehr bestürzt über das Gehörte und Geplante. Er verweigerte daraufhin seine Mitarbeit. Das brachte ihm Vorwürfe ein, aber nicht deswegen, weil er mit bereit war mitzumachen, sondern weil er seine fehlende Bereitschaft nicht beizeiten – vor der Darlegung der Tötungsaktion – erklärt hatte. Dieser Dr. Schmidt hat übrigens auch später keine erkennbaren Nachteile durch seine Weigerung erleiden müssen. Den Teilnehmern wurde dann der Ablauf der Tötungsaktionen erläutert. Das Verfahren bei den Massentötungen war dabei – wie schon zuvor – das folgende:
Alles begann mit den Meldebögen. Diese waren – wie erwähnt – im Laufe des Jahres 1940 für die einzelnen in den Anstalten vorhandenen Patienten auszufüllen. Halbjährlich waren die Meldebögen für die Neuzugänge erstellt. Die Meldebögen enthielten außer den Personalien Fragen nach dem Krankheitsbild, der Brauchbarkeit für Außen- und Hausarbeiten und dem Grad der Arbeitsfähigkeit, prozentual verglichen mit der Arbeitsleistung Gesunder. Die Meldebögen waren von jeder Heil- und Pflegeanstalt in der damaligen Rheinprovinz auf dem Dienstweg an die zuständige Stelle zu senden und zwar an den Prof. Creutz. Creutz sandte die Meldebögen weiter an das Reichsinnenministerium.
Dann ging es zur „Begutachtung“ dieser Meldebögen. Dafür war inzwischen eine (erste) Organisation geschaffen worden: die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten. Dort arbeiteten Ärzte als „Gutachter“. Sie entschieden lediglich anhand der Meldebögen über Leben und Tod der Patienten. Je zwei Ärzte werteten unabhängig voneinander die Meldebögen aus und füllten dann das schwarz umrandete Kästchen des Meldebogens aus: „Ja“ war der Vorschlag zur Tötung, „nein“ die Ablehnung. Auch konnten sie noch „fraglich“ eintragen. In diesem Fall wurde der Patient durch eine Kommission oder durch einen Universitätsprofessor noch einmal untersucht.
Damit nicht alle Anstalten mit dem Abtransport der „todeswürdigen“ Kranken in die Tötungsanstalten beauftragt wurden, damit also möglichst wenige Ärzte in das „Euthanasie“-programm eingeweiht zu werden brauchten, wurden in den einzelnen Provinzen Deutschlands jeweils zwei Anstalten bestimmt, die als sog. Zwischenanstalten die Sammlung aller durch die Listen zum Tode verurteilter Patienten durchzuführen und sie nach genau vorgeschriebenen Transportaufträgen in die Tötungslager abzuführen hatten. In der damaligen Rheinprovinz gab es auch zwei sog. Zwischenanstalten: das waren die Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen bei Düsseldorf und eben die Heil- und Pflegeanstalt Andernach. Damit diese „Zwischenanstalten“ ihre Aufgabe erfüllen und Patienten anderer Anstalten aufnehmen konnten, mussten sie selbst erst einmal von für „todeswürdig“ angesehenen Patienten „geleert“ werden. Dies geschah, indem man diese Kranken der Zwischenanstalten, sog. Ursprungskranke, sofort in die Tötungsanstalten brachte und dann ermordete. Der dadurch frei gewordene Platz in den Zwischenanstalten wurde dann mit Kranken aus anderen Anstalten besetzt. Für diese war die Heil- und Pflegeanstalt erkennbar eine Zwischenanstalt.
Dr. Recktenwald hatte nach Rückkehr aus der Reichskanzlei in Berlin zwei weitere Andernacher Anstaltsärzte in diese „Eutha-nasie“-Aktion einzuweihen. Daraufhin wurden die Meldebögen ausgefüllt bzw. wenn sie bereits ausgefüllt waren entsprechend den in Berlin erhaltenen Direktiven abgeändert. Zu diesem Zeitpunkt wussten diese drei also positiv, dass die Verneinung der Arbeitsfähigkeit bzw. der Möglichkeit, den Patienten zu entlassen, höchstwahrscheinlich das Todesurteil für den Betreffenden bedeutete. Erst recht wussten sie, dass die Patienten, die auf den den Anstalten später zugehenden Transportlisten standen, umgehend in den Tötungsanstalten getötet würden. Dabei hatte – nach der Aussage eines Zeugen in dem Nachkriegsprozess – das ärztliche Personal der Heil- und Pflegeanstalt selbst zu diesem Zeitpunkt noch die Möglichkeit, Patienten von der Liste zu streichen. Wörtlich gab dieser Zeuge später an: „Es lag in der Hand des leitenden Direktors der hiesigen Anstalt und in der Hand der Abteilungsärzte, von der Liste diejenigen zu streichen, die noch arbeitsfähig waren oder für die noch sonstige Gründe sprachen, dass sie hier blieben.
Der erste Transport verließ Andernach am 11. Februar 1941. Er fiel insoweit aus der Reihe, weil von ihm jüdische Kranke, 58 Personen, betroffen waren. Es hieß, sie sollten in die von der Reichsvereinigung der Juden unterhaltenen Jacobysche Heil- und Pflegeanstalt in Sayn, heute: Bendorf-Sayn verlegt werden. Dort wurden die jüdischen Patienten aus dem gesamten Reichsgebiet zusammengefasst und dann später – wie die Juden aus der Stadt und dem Landkreis Koblenz – zur Vernichtung in den Osten deportiert. Diese 58 Juden aus der Anstalt in Andernach kamen aber nie in Bendorf-Sayn an. Sehr wahrscheinlich sind diese 58 jüdischen Kranken als erste in die Tötungsanstalt Hadamar transportiert und dort vergast worden.
Zur Vorbereitung der (weiteren) Transporte von Andernach nach Hadamar hielt sich am 29. und am 31. März 1941 eine Gutachter-Kommission in Andernach auf. Anhand der ausgefüllten Meldebögen und dem flüchtigen Eindruck von den Kranken entschieden sie, welche Patienten auf die Todeslisten kamen und welche nicht. Dabei nahm man sich für jeden Patienten durchschnittlich 2 Minuten Zeit.
Während die Gutachter-Kommission in Andernach war, fand am 29. März 1941eine Konferenz der Leiter rheinischer Heil- und Pflegeanstalten statt. Sie wurde einberufen und geleitet von dem bereits erwähnten Prof. Dr. Creutz. An ihr nahm auch Dr. Recktenwald teil. Dabei erstattete Prof. Creutz einen Bericht über die „Euthanasie“-Aktion, und speziell ihren Ablauf im Rheinland. Diese Konferenz sollte später – nach dem Krieg - eine zentrale Bedeutung bekommen, wir werden auf sie dann noch einmal zurückkommen.
Der 1. Transport von Andernach nach Hadamar erfolgte dann am 23. April 1941 mit 89 Kranken. Der 2. Transport war am 25. April 1941 mit 60 Kranken. Der 3. Transport am 6. Mai 1941 betraf 89 Kranke. Dem 4. Transport am 7. Mai 1941 fielen 88 Kranke zum Opfer. Und der 5. Transport ging am 8. Mai 1941 mit 90 Kranken nach Hadamar ab. Diese fünf Transporte betrafen alle sog. Stammkranke, also Patienten, die bereits seit längerem in Andernach untergebracht waren.
Nachdem die Anstalt Andernach von diesen „Stammkranken“ zu einem guten Teil geleert worden war, wurden ab dem 8. Mai 1941 Patienten aus anderen rheinischen Heil- und Pflegeanstalten nach Andernach verlegt. Für diese sog. Durchgangskranken war Andernach „Zwischenanstalt“. Nach einem kürzeren Aufenthalt in Andernach sollten in die Gaskammer nach Hadamar geschickt werden. So geschah das auch. Einen Monat später wurden die Transporte wieder fortgesetzt. Dabei betraf der erste dieser Transporte, der vom 7. Juni 1941 mit 51 Patienten, noch einmal „Ursprungskranke“ der Anstalt Andernach. Das waren dann insgesamt 469 „Ursprungskranke“, die von Andernach nach Hadamar in den Tod geschickt wurden.
Dann begannen die Transporte der „Durchgangskranken“ von Andernach in die Tötungsanstalt Hadamar. Es waren insgesamt 5 Transporte:
1.Transport am 18.06.1941 115 Kranke nach Hadamar
2.Transport am 20.06.1941 105 Kranke nach Hadamar
3.Transport am 07.07.1941 87 Kranke nach Hadamar
4.Transport am 25.07.1941 67 Kranke nach Hadamar
5.Transport am 15.08.1941 76 Kranke nach Hadamar.
Das waren – wenn Sie so wollen – 448 „Durchgangskranke“. Insgesamt waren es also zunächst 469 „Stammkranke“ und dann 448 „Durchgangskranke“, also insgesamt 917 Kranke, die nach Hadamar ins Gas geschickt wurden. Das alles sind Zahlen. Diese sind wichtig, aber sie sagen letztlich nichts über das Schicksal dieser von Medizinern als „todeswürdig“ angesehenen Menschen aus. Deshalb will ich Ihnen hier zwei Menschenschicksale kurz darstellen – wenn überhaupt erfährt man von diesen „Euthanasie“-Opfern ohnehin nur sehr wenig und oft genug amtlicherseits Gelogenes.
Ein solches Opfer war der am 31. März 1908 in Bendorf geborene Gerd W. Er lebte seit einer nicht näher bekannten Zeit in der Anstalt Andernach. Dann geriet er in die „T 4-Aktion“. Am 8. Mai 1941 (das ist er zuvor erwähnte 5. Transport von Andernach nach Hadamar) wurde er mit einem Bus einer eigens zu Tarnzwecken gegründeten Gesellschaft namens GEKRAT nach Hadamar gefahren und dort noch am selben Tag im Keller in der Gaskammer umgebracht.
Um den Mord zu verschleiern, teilte der ärztliche Direktor der Anstalt Andernach den Eltern unter diesem 8. Mai 1941 mit, dass ihr Sohn in eine andere Anstalt verlegt worden sei, deren Name und Anschrift ihm noch nicht bekannt seien. Sie mögen sich wegen weiterer Nachrichten noch etwas gedulden. Am 20. Mai schrieb dann die Anstalt Sonnenstein in Sachsen - sie ist zur Tarnung eingeschaltet -, dass der Sohn vor kurzem in diese Anstalt verlegt worden und am 20. Mai 1941 unerwartet „infolge akuter Hirnschwellung verstorben“ sei. Weiter heißt es, dass zur Seuchenbekämpfung die sofortige Einäscherung und Desinfektion des Nachlasses verfügt sei. Gleichzeitig wurde um Mitteilung gebeten, ob die Eltern die „Urne mit den sterblichen Überresten des Entschlafenen auf einem bestimmten Friedhof beisetzen lassen wollen“. Anderenfalls werde man die Urne anderweitig beisetzen lassen. Als die Eltern umgehend um die Überführung der Urne baten, erhielten sie noch folgenden Brief der Anstalt Sonnenstein:
(Die Ortspolizeibehörde Sonnenstein) wird nunmehr die Urne mit den sterblichen Überresten Ihres heimgegangenen Sohnes Gerd W. in Kürze gebührenfrei an die Friedhofsverwaltung Bendorf/Rhein überführen, so dass Sie mit dem Eintreffen derselben im Laufe der kommenden Woche rechnen können. Gleichzeitig bestätigen wir den (von Ihnen) ausgesprochenen Verzicht auf den Nachlass, den wir der (Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt) NSV zur Verfügung stellen werden. Heil Hitler! Im Auftrag (Unterschrift).
Das war das Schicksal von Gerd W. – einem sog. Ursprungskranken. Nachdem die „Zwischenanstalt“ Andernach viele solcher Ursprungskranker nach Hadamar in den Tod geschickt hatten, war in Andernach Platz frei geworden für Kranke, die aus anderen Anstalten nach Andernach als Zwischenanstalt verlegt wurden, um dann von Andernach aus nach Hadamar in den Tod geschickt zu werden.
Einer dieser so genannten Durchgangspatienten war der 1920 in Koblenz geborene Edmund Z. Seine Kindheit und Jugendzeit in Koblenz verliefen in geordneten Bahnen und „normal“. Edmund Z. besuchte die Volksschule, ohne sitzen zu bleiben, und absolvierte eine kaufmännische Lehre.
Dann trat er freiwillig in den Reichsarbeitsdienst ein. Nach vier Wochen bekam er seinen ersten Gehirnkrampf und wurde entlassen. Daraufhin bemühten sich seine Eltern um die Behandlung des Leidens. Zunächst wurde er in Koblenz fachärztlich betreut, später - als dies keine Besserung brachte - kam er in die Heil- und Pflegeanstalt Bonn. Auch dort besserte sich sein Zustand nicht. Die Krämpfe traten sogar häufiger auf, drei- bis fünfmal am Tag. Gleichwohl behielt er seinen Verstand und machte sich in der Anstalt durch vielerlei Arbeiten für Schwerkranke nützlich.
Im Mai 1940 passierte es dann: Edmund Z. geriet in die „Aktion T 4“. Offenbar mit dem Transport vom 20. Mai 1941 wurde er mit 25 Männern und 25 Frauen von Bonn in die Heil- und Pflegeanstalt Andernach „verlegt“. Anfang Juni schrieb er seiner Familie, sie hätten einen Ausflug nach Andernach gemacht, dort solle er bleiben. Daraufhin besuchte ihn die besorgte Mutter in Andernach. Als drei Tage später seine Patin ihn ebenfalls besuchen wollte, war er schon nicht mehr da. Der sofortige Anruf seiner Schwester blieb ebenfalls erfolglos: Viermal wurde sie von einer Stelle zur anderen weiter verbunden, dann hängte die Anstalt einfach ein. Am nächsten Tag war die Schwester in Andernach. Man verweigerte jede Auskunft über den Verbleib des Bruders, gab ihr aber die Adresse der Gesellschaft, die ihn abtransportiert hatte. Auf ihren heftigen Protest hin bekundeten die versammelten drei Herren der Anstalt ihre Unschuld an allem. In großer Sorge verließ sie Andernach.
Tage später erhielt die Familie aus Berlin Bescheid, Edmund sei nach Hadamar bei Limburg verlegt worden und sei in gutem Gesundheitszustand dort angekommen. Wegen ansteckender Krankheiten seien aber Besuche, Briefe und Pakete verboten. Wenige Tage später kam die Nachricht: Tod am 3. Juli 1941 in Hadamar durch Pneumonie (Lungenentzündung). Die Wahrheit ist aber eine andere: Edmund Z. wurde noch am Tag seiner Ankunft in Hadamar vergast.
Am 3. August 1941 hielt der Bischof von Münster, Graf von Galen, eine sehr engagierte Predigt, in der der die Massentötungen von Geisteskranken als Mord anprangerte. Auch in der Bevölkerung gab es inzwischen Proteste.
Daraufhin wurde am 24. August 1941 die „Aktion T 4“ auf Weisung Hitlers eingestellt. Der Grund dafür ist nicht ganz klar. Sicherlich haben diese Proteste Wirkung gezeigt. Andererseits hatte man mit der „Aktion“ die zuvor gesetzten Ziele erreicht. Man hatte sich vorgenommen, ca. 70.000 Patienten zu ermorden. Tatsächlich hatte man in den Tötungsanstalten bis zu diesem Zeitpunkt mehr als 70.000 Menschen umgebracht.
Damit war die „T 4-Aktion“ abgeschlossen – nicht aber das massenhafte Töten von Menschen, deren Leben man damals als „lebensunwert“ bezeichnete und die Menschen danach behandelte. Denn das Töten dieser Menschen ging weiter. Die Morde geschahen aber nicht mehr durch Giftgas sondern durch andere gezielte Maßnahmen: Vor allem durch sog. Hungerkuren und die Überdosis von Medikamenten insbesondere in den bereits bestehenden Tötungsanstalten. Dies war die zweite Phase der „Euthanasie“, die sog. wilde Euthanasie. Noch sehr viel schwieriger als für die „Aktion T 4“ ist die Zahl der dabei ermordeten Kranken zu schätzen. Man nimmt hierfür eine Zahl von 140.000 Opfern an. In dieser Phase lag es vor allem in der Hand der Leiter der Anstalten und der Anstaltsärzte, wie sie die ihnen zur Heilung anempfohlenen Patienten behandelten. Sie hatten weiterhin die Meldebögen auszufüllen. Nun stellte aber keine übergeordnete Stelle in Berlin die Transportlisten zusammen. Vielmehr gab sie nur eine bestimmte Anzahl von Patienten vor, die von der Zwischenanstalt verlegt werden sollten. Die Auswahl der Opfer und deren Zusammenstellung in den in den Transportlisten oblagen der Anstalt, also deren Leiter, also in Andernach Dr. Recktenwald.
In dieser Phase der „wilden Euthanasie“ waren die Anstaltsleiter und die Anstaltsärzte erst recht Herr über Leben oder Tod ihrer Patienten. Zudem kamen immer neue Menschengruppen in den Kreis derer, die die selektiert und dann getötet werden sollten: Tuberkulosekranke, Alte und Schwache, Obdachlose, Arbeitsunwillige, Zigeuner und viele andere mehr.
Auch die sog. Verlegungen der Insassen der Andernacher Anstalt gingen weiter. Bekannt sind insgesamt 37 Transporte von Andernach aus mit 1.828 Patienten. Aber die wenigsten von ihnen kamen nach Hadamar. Letztlich die beiden letzten Transporte im Juli und im September 1944 gingen dorthin. Die anderen Transporte hatten unbekannte oder andere Ziele. Es ist davon auszugehen, dass die ersten Transporte nach dem sog. „Euthanasie-Stopp“ am 24. August 1941 Rückführungen waren, d.h. die für die Ermordung in Hadamar vorgesehenen Patienten, die zu diesem Zweck in die Zwischenanstalt Andernach verlegt wurde, wurden nunmehr von Andernach in ihre ursprünglichen Anstalten zurückverlegt, nachdem eine Ermordung in Hadamar nicht mehr vorgesehen war.
Anders war es aber mit den Transporten in den Osten. Sie sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass im Jahr 1942 die Anweisung erging, polnische Heil- und Pflegeanstalten von polnischen Kranken „freigemacht“ werden mussten. Damit sollte Platz geschaffen werden für Kranke aus dem „Altreich“, damit diese in dem besetzten Polen getötet werden konnten. Mindestens 6 Transporte mit insgesamt 325 Menschen gingen von Andernach in das besetzte Polen, und zwar nach Tworki bei Warschau, nach Kulparkow bei Lemberg und nach Meseritz/Obrawalde in Hinterpommern.
In Meseritz-Obrawalde wurden in den drei Jahren von 1942 bis 1945 18.000 Menschen ermordet. Eine ehemalige Patientin von Meseritz-Obrawald hat kurz nach der Befreiung folgende Aussage gemacht:
Ich bin des Nachts, wenn Transporte kamen, aufgeblieben und habe die Pflegerinnen, die den Transport begleitet hatten, bedient. Da kamen die Oberpflegerinnen R., W., Sch., J. und anderes Personal. Sie haben sich unterhalten über die Spritzen. Oberpflegerin J. sagte u. a., man solle viele bringen, damit wir hier viele erledigen könnten. Eine Pflegerin von dem Transport sagte zu ihr, das dürfen sie doch ohne weiteres nicht machen, die Angehörigen werden doch wissen wollen, woran die Kranken gestorben sind. Doch meinte die J.: Die Älteren geben wir (an) als an Altersschwäche oder Herzschlag, Grippe oder doppelseitiger Lungenentzündung gestorben. Eine Pflegerin von dem Transport fragte nachdem noch: Wenn aber die Angehörigen die Leiche wollen? Darauf wurde geantwortet: Dann würde Dr. Mootz schreiben, wir können die Leiche nicht überführen, weil sie eine ansteckende Krankheit hätten, oder aus Geldmangel, oder weil die Bahn keine Leichen mehr zum Transport annähme. Wenn aber die Angehörigen die Leiche sehen wollten, so wurden sie zu denen, die abgespritzt waren, nicht zugelassen; die Pflegerin vom Transport sagte dagegen, bei uns dürften wir den Kranken keine solche Spritzen geben, dann würden wir bestraft oder abgesetzt. Frau Oberpflegerin J. (…) hat oft des Nachts zu mir gesagt, wenn ich von diesen Dingen ein Wort erzähle, würde es mir gerade so ergehen. Eine kurze Zeit war ich einer Krankheit wegen isoliert auf 4. Dort hörte ich, dass die Oberpflegerinnen R., J. und E. zur Pflegerin A. sagte: heute können wir die nehmen. Die Kranken wollten nicht gehen, da (sagte) die A. zu den Kranken: Ihr habt Besuch oder ihr wurdet verlegt. Da hatte die Kranke Helga Schultz zu der Pflegerin A. gesagt: Uns könnt Ihr nicht dumm machen, ihr wollt uns nur abspritzen. Da sind sie nicht gegangen, dann rief die A. bei der R. an, die darauf einige Pflegerinnen schickte, worauf sie mit Gewalt in die Zelle gebracht wurden. Wir hörten dann ca. 2 Minuten das Schreiben, darauf wurde es ganz still und es hieß, die Kranke wäre verlegt.
Eine von Andernach nach Polen deportierte Patientin war Erna P. Sie sagte nach dem Krieg als Zeugin vor Gericht folgendes aus:
1943 war ich mit noch anderen Anstaltsinsassen nach Tworki bei Warschau transportiert worden. Die Fenster unseres Wagens waren gestrichen, so dass man nicht hinaussehen konnte. Wir wurden von Pflegerinnen begleitet. Wohin es ging wurde uns nicht mitgeteilt. In Polen wurden wir gleich in Tworki, (in) eine polnische Anstalt eingeliefert. Gleich nach unserer Ankunft hörte ich, wie ein polnischer Arzt in deutscher Sprache sagte, die Angekommenen seien ja alle vergiftet. Zu mir sagte er, was ich denn dort wolle, ich sei ja nur magenkrank. Unser Transport bestand aus 100 Personen... Die Kranken bekamen in Tworki sehr wenig zu essen. Eines Tages hieß es dann immer, der und der sei nun tot. Ich habe in der Anstalt in Tworki gesehen, dass Anstaltsinsassen, die krank waren, Medikamente erhielten und dann nach zwei Stunden tot waren. Auch habe ich gesehen, dass sie Arznei in das Essen bekamen. Ich habe damals in Tworki in der Küche geholfen. Von Tworki aus bin ich auch in eine Anstalt in Kulparkow bei Lemberg gekommen. In dieser Anstalt waren wir acht Monate. In Kulparkow sind viele von uns gestorben. Die Kranken bekamen fast nichts zu essen und hatten sich ganz aufgelegen. Ich vermute, dass sie vor Hunger gestorben sind. Von Kulparkow kamen wir dann später wieder nach Tworki. (Dort) habe ich von Pflegerinnen gehört, dass sie den Kranken Koral, Trional und noch andere Medikamente gaben. Auch in Tworki war viel Hunger, die Kranken fielen so um. Nach meiner Ansicht sind auch dort viele verhungert. In Kulparkow habe ich acht Monate lang die Zimmer eines der dortigen Ärzte in Ordnung gehalten. Diese Gelegenheit habe ich wiederholt genutzt, um in die dort liegenden Akten der Kranken hineinzuschauen. Ich habe dort wiederholt gelesen, dass Kranke an Unterernährung gestorben seien. Sowohl in Andernach als auch in den polnischen Anstalten waren die meisten Kranken zu Skeletten abgemagert. Die bettlägerigen Kranken erhielten in den Anstalten täglich nur einen Teller Wassersuppe und eine Scheibe Brot. Die arbeitenden Insassen erhielten täglich vier Scheiben Brot und einen Teller Wassersuppe. Während der 18 Monate in Polen haben wir keine Kartoffeln gesehen. In Tworki gab es in der letzten Zeit auch keine Betten mehr, wir mussten auf der Erde, auf dem blanken Boden schlafen. Decken zum Zudecken gab es auch nicht. Auch wurde in Tworki im Winter nicht geheizt. Die Kranken waren verlaust.
Als die amerikanischen Truppen im März 1945 die Region um Koblenz befreiten, wurde u.a. auch der Direktor Dr. Recktenwald von der amerikanischen Militärbehörde verhaftet. Recktenwald kam in das Internierungslager Idar-Oberstein und dann in das Sonderlager Dachau. Nach einiger Zeit wurde er entlassen. Am 16. Dezember 1946 leitete der Oberstaatsanwalt in Koblenz das Ermittlungsverfahren gegen ihn ein, wenig später, am 17. Februar 1947, erging gegen ihn Haftbefehl und er kam in Untersuchungshaft.
In dem Ermittlungsverfahren nach dem Krieg räumte Dr. Recktenwald diesen Sachverhalt im Großen und Ganzen ein. Allerdings wollte er nichts davon gewusst haben, dass die ersten Transporte in die Tötungsanstalt Hadamar gegangen seien und die Transporte in das besetzte Polen, nach Tworki und nach Kulparkow im Zusammenhang mit der „Euthanasie“-Aktion gestanden hätten Vor allem machte Recktenwald geltend, er habe seinen Posten in Andernach nicht aufgegeben, weil er überzeugt gewesen sei, im Falle einer Weigerung selbst schweren Verfolgungen ausgesetzt zu sein. Zudem wäre an seiner Stelle in der „Euthanasie“-Aktion dann ein den Nazis höriger Arzt eingesetzt worden, der die ganze Anstalt ausgerottet hätte. Sein Bestreben sei gewesen, dafür zu sorgen, dass möglichst wenig Kranke in der „Euthanasie“-Aktion hingemordet worden seien.
Am 4. Februar 1948 wurde gegen Recktenwald und zwei weitere Ärzte Anklage erhoben, am 13. Juli 1948 begann die Hauptverhandlung vor der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Koblenz. Mit Urteil vom 29. Juli 1948 verurteilte das Landgericht Koblenz Dr. med. Recktenwald wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit Beihilfe zum Mord in einer unbekannten Anzahl von Fällen zu 8 Jahren Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte für die Dauer von 5 Jahren. Die Untersuchungshaft wurde Recktenwald in Höhe von 2 ½ Jahren auf die Freiheitsstrafe angerechnet.
In seiner Entscheidung ging das Landgericht Koblenz davon aus, dass Dr. Recktenwald nur für die Verlegungen und Tötungen einer sehr begrenzten Zahl von Kranken strafrechtlich verantwortlich war, nämlich nur für die Transporte vom 7. Juni bis 15. August 1941 mit den vom Gericht angenommenen 501 „Durchgangskranken. Die Kranken dieser Transporte seien nämlich von Recktenwald untersucht und für die „Verlegungen“ bereitgestellt worden. Alle anderen Transporte und Tötungen waren für das Landgericht Koblenz strafrechtlich nicht relevant.
Der allererste Transport – der Transport vom 58 Juden am 11. Februar 1941 – musste nach Auffassung des Gerichts schon außer Betracht bleiben, weil das Schicksal dieser Kranken nicht aufgeklärt werden könne, insbesondere nicht bewiesen sei, dass der Transport in die Tötungsanstalt Hadamar geführt habe. Weiterhin lastete das Landgericht Koblenz Recktenwald auch nicht die Tötungen der „Ursprungskranken“ an, die in den … Transporten vom 23. April bis 8. Mai 1941 von Andernach nach Hadamar verschleppt und dort ermordet worden waren. Diese Transporte und die anschließenden Ermordungen hätten nämlich auf der Entscheidung der Gutachter-Kommission beruht, die die Kranken in Andernach zuvor am 29. und 31. März 1941 selektiert hätte. Ebenso wenig sei Dr. Recktenwald für die weiteren Transporte nach dem sog. Euthanasie-Stopp am 24. August 1941 strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Bei den ersten Transporten nach dem Euthanasie-Stopp habe es sich ersichtlich um Rückführungen der für die Tötung in Hadamar vorgesehenen Patienten in ihre Ursprungsanstalten gehandelt. Problematischer seien demgegenüber die Transporte in den Osten, wie etwa nach Kulparkow bei Lemberg und nach Tworki bei Warschau zu beurteilen. Diese hätten zwar häufig zum unnatürlichen Tod der Patienten geführt, jedoch sei Recktenwald nicht zu widerlegen gewesen, er habe von der Tötung dieser Patienten im Osten nichts gewusst. Vielmehr sei er davon ausgegangen, die Kranken seien vor dem Heranrücken der Front im Westen in den „sicheren“ Osten evakuiert worden.
Danach blieben nur noch die Ermordungen der. „Durchgangspatienten“, die das Gericht mit 501 Personen annahm. Für diese Tötungen erklärte das Landgericht Koblenz Dr. Recktenwald aber für schuldig. Insbesondere nahm es ihm seine – spätere – Einlassung, die durch die Aussage des Prof. Dr. Creutz als Zeugen bestätigt wurde, nicht ab, er sein ein Gegner der NS-„Euthanasie“ gewesen und habe bei der Durchführung der „T 4-Aktion“ eine „stille Sabotage“ betrieben. Denn wenn das tatsächlich so gewesen wäre, dann habe sich das für den Ablauf der Aktion in der Anstalt Andernach nicht bemerkbar gemacht. Recktenwald sei im Wesentlichen so tätig geworden, wie es von der T 4-Zentrale in Berlin aus von ihm als Direktor der Zwischenanstalt Andernach erwartet worden sei; dadurch habe er das Euthanasie-Programm und speziell die Morde in Hadamar gefördert. Eine „stille Sabotage“ wie sie Recktenwald und der Zeuge Creutz behauptet hätten, wäre erst dann erkennbar und strafrechtlich relevant, wenn Rückstellungen von Transport und Entlassungen der Kranken aus der Anstalt einen solchen Umfang gehabt hätten, dass mit ihnen der Aktion ein wesentlicher Abbruch geschehen wäre. Das hat das Gericht aber nicht feststellen können. Ausdrücklich stellte das Landgericht Koblenz zusammenfassend dazu fest:
Es ist also bestenfalls ein verschwindend kleiner Teil der zu verlegenden Kranken auf außerhalb des Willens von Berlin liegende Initiative der Angeklagten hin nicht nach Hadamar gebracht worden, wobei (…) hervorgehoben werden muss, dass die Angeklagten als Ärzte der (…)Anstalt Andernach ausdrücklich dazu bestellt waren, die Kranken der Verlegungslisten daraufhin zu untersuchen, ob nicht unter ihnen solche wären, die unter die von Berlin vorgesehenen Ausnahmen fielen. Es durften nach dem Willen von Berlin nicht nur Ausnahmen gemacht werden, sondern es war gerade Aufgabe der Angeklagten als Ärzte der Zwischenanstalt, solche Ausnahmen herauszufinden. (…) Alles in allem haben die Angeklagten „pflichtgemäß“ gearbeitet. (…) Sie haben sich bewusst in das Mordgetriebe des Euthanasie-Programms einspannen lassen, sie haben willig, wenn auch ungern, die ihnen zugedachte Rolle, die von den Organisatoren der Aktion für wesentlich angesehen und deshalb eingerichtet wurde, angenommen und sie im Großen und Ganzen auch so ausgefüllt, wie man es von ihnen erwartete. Damit haben sie einen wesentlichen Beitrag zum Euthanasie-Programm geleistet und sind Glieder in der Kette, die von der „Kanzlei des Führers“ und dem Reichsinnenministerium in Berlin bis in den Vergasungsraum und das Krematorium in Hadamar reicht. Durch ihre Untersuchungen füllten sie eine Funktion aus, die von Berlin aus für so wesentlich gehalten wurde, dass man, wie sie selbst sagen, andere Ärzte herangezogen hätte, wenn sie sich ihr entzogen hätten.
In rechtlicher Hinsicht war für die Strafkammer diese Tätigkeit Dr. Recktenwalds Beihilfe zu den vielen Morden in Hadamar und zu dem in ihnen liegenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese heimtückischen und grausamen Morde, zu denen Recktenwald Beihilfe geleistet, seien auch nicht gerechtfertigt gewesen. Zwar habe es hierfür den „Ermächtigungserlass“ des „Führers“ vom 1. September 1939 gegeben, jedoch könne dieser die Morde nicht rechtfertigen. Auch hätte Recktenwald gewusst, dass die Massentötungen in Hadamar Unrecht waren. Selbst wenn er sein handeln für erlaubt gehalten haben mag, könne das ihn nicht entlasten. Denn eine solche Annahme „stünde in argem Widerspruch (…) zu dem, was im primitivsten Rechtsbewusstsein der Gesamtheit aller Völker als große Missetat lebe“. Schließlich sei sein Handeln auch nicht deshalb straflos, weil er nach besten Kräften „stille Sabotage“ geleistet und damit das Schlimmste verhindert habe. Dabei könne dahinstehen, ob eine solche „stille Sabotage“ überhaupt die Strafbarkeit ausschließen könne. Denn jedenfalls sich in tatsächlicher Hinsicht nicht feststellen, dass Recktenwald nach Kräften Widerstand geleistet und auch erkennbar etwas verhindert habe.
Gegen dieses Urteil wird man – im Großen und Ganzen - nicht viel einwenden können. Sicherlich war es etwas „blauäugig“ anzunehmen, dass Recktenwald für die Verlegungen und damit Tötungen der „Ursprungskranken“ keine Verantwortung traf, weil die Gutachter-Kommission die Kranken Ende 1941 selektiert hatte. Denn auch in diesen Fällen gab es sehr wohl die Möglichkeit der Entlassung bzw. der Rückstellung. Auch konnte man Recktenwald nur schwerlich abnehmen, nicht gewusst zu haben, was den Patienten nach den Verlegungen in den Osten widerfahren würde. Wenn man die anderen Kranken umgebracht hat, dann wird man diese sicherlich nicht vor Kriegshandlungen im Westen schützen wollen – zumal die Juden schon in den Osten deportiert und dort ermordet wurden und 1943 die Westfront – bezogen auf Andernach - nicht näher war als – nach dem Fall Stalingrads im Januar 1943 – die Ostfront bezogen auf Lemberg. Und überdies erhielt die Anstalt Andernach nach den Verlegungen in den Osten geradezu Stöße weise Todesmeldungen von dort. Das hätte einen doch aufschrecken müssen – zumal wenn man angeblich eine „stille Sabotage“ haben betreiben wollen. - Im Übrigen ist das Urteil nicht auf die Tötungen durch Verhungern lassen und Todesspritzen in der Phase der „wilden Euthanasie“ eingegangen. Das kann man dem Urteil aber nicht anlasten. Diese Morde waren schon von der Staatsanwaltschaft nicht angeklagt worden, sie hätten sich auch nur sehr schwer – wenn überhaupt – nachweisen lassen. Dazu hätte es Aussagen vom Pflegepersonal bedurft – aber wer vom Pflegepersonal hatte schon ein Interesse, dies zu offenbaren und sich damit selbst zu belasten?
Dieses Urteil des Landgerichts Koblenz ist nicht rechtskräftig geworden. Hiergegen hat Dr. Recktenwald Revision eingelegt. Auf dessen Revision hob das Oberlandesgericht Koblenz in seinem Urteil vom 14. Juli 1949 das Urteil des Landgerichts Koblenz mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Koblenz zurück. Das Oberlandesgericht monierte widersprüchliche Feststellungen des Landgerichts zur Bedeutung der Meldebögen und zur Möglichkeit der Zwischenanstalt, ausnahmsweise Rückstellungen und Entlassungen von Patienten vorzunehmen. – Hintergrund dieser Entscheidung war, dass das Landgericht Düsseldorf den Vorgesetzten Recktenwalds, den …. Prof. Dr. Creutz, der im Recktenwald-Prozess auch als Zeuge aufgetreten war, mit Urteil vom 24. November 1948 wegen erwiesenen ärztlichen Widerstandes gegen die Euthanasie-Aktion freigesprochen hatte. Das Landgericht Düsseldorf glaubte diesem Prof. Creutz, dass er in der Direktorenkonferenz vom 29. März 1941 den versammelten Anstaltsleitern nicht nur die Richtlinien zur Durchführung der T 4-Aktion mitgeteilt habe, sondern sie zugleich auch auf eine „stille Sabotage“ der Euthanasie-Aktion einhellig eingestimmt habe. Die ihm damals untergeordneten Anstaltsleiter hatten das Creutz – ich sage mal – gern bestätigt, war es doch auch für sie sehr vorteilhaft, waren sie doch dadurch Teil einer größeren Widerstandsgruppe und konnten für ihr eigenes Tun nicht belangt werden. – Auffällig ist allerdings, dass sich Recktenwald in seinem Strafverfahren nicht in dieser Weise eingelassen hatte. Das wird verständlich, wenn man berücksichtigt, dass er lange Zeit in Haft bzw. Internierung war und sich – anders als die anderen – nicht mit diesen absprechen und diese Verteidigungsstrategie aufbauen konnte. Später hat er diese Strategie natürlich gern aufgegriffen.
Als das Oberlandesgericht Koblenz sein Revisionsurteil fällte, war das Urteil des Landgerichts Düsseldorf zwar noch nicht rechtskräftig, es war aber abzusehen, dass Prof. Creutz, der Vorgesetzte Recktenwalds straflos bleiben werde.
Tatsächlich wurde Prof. Creutz vom Landgericht Düsseldorf mit Urteil vom 27. Januar 1950 freigesprochen. Zur Begründung hieß es, Creutz sei eindeutiger Gegner der NS-Euthanasie gewesen, habe dieser Aktion entgegengewirkt und habe damit auch erwiesenermaßen Erfolg gehabt. Er habe auf seinem Posten ausgeharrt und sich bei diesem Ausharren allein und ausschließlich von dem Bestreben der Rettung möglichst vieler Kranken leiten lassen. In dem Urteil wurde Creutz als ein „Saboteur gegen verbrecherische staatliche Maßnahmen des Nationalsozialismus im besten Sinne und ohne Makel“ bezeichnet.
Nach diesem Freispruch von Creutz in Düsseldorf war auch der Weg für Recktenwald in dem noch anhängigen Strafverfahren vor dem Landgericht Koblenz frei. Es fand eine neue Hauptverhandlung statt, in der selbst die Staatsanwaltschaft Koblenz für Recktenwald und den zweiten Angeklagten Anstaltsarzt Freispruch wegen erwiesener Unschuld beantragt. Mit Urteil vom 28. Juli 1950 sprach das Landgericht Koblenz Dr. med. Recktenwald (und auch den zweiten Arzt) dann frei – und zwar „de luxe“. Das Gericht nahm Recktenwald ab, zusammen mit seinem Vorgesetzten Prof. Creutz und den anderen Anstaltsleitern „stille Sabotage“ betrieben zu haben. So heißt es etwa in dem Urteil des Landgerichts Koblenz:
Der Angeklagte Dr. Recktenwald selbst hielt sich während der Transporte, deren Zweck er kannte, stets fern. Er durchlebte dann bittere Stunden in dem Bewusstsein, ein schweres Unrecht im Gefühl völliger Ohnmacht mit ansehen zu müssen (…) Bei jedem Transport musste er die Versuchung, sich von der Wehrmacht übernehmen zu lassen, erneut niederkämpfen. Doch hielt ihn sein Versprechen, das er seinem Vorgesetzten, Prof. Creutz gegeben hatte und insbesondere die Sorge, wer an seine Stelle treten würde, auf seinem Posten. (…) Dr. Recktenwald hat seine Zwischenanstalt (…) in eine Rettungsanstalt für die Kranken, die überhaupt gerettet werden konnten, verwandelt.
Das Gericht kam dann zu der Einschätzung, dass 18 im Einzelnen untersuchte Rückstellungen „stille Sabotage“ gewesen seien – 18 von 448 „Durchgangskranken“. Dann rechnete das Gericht noch weiter, dass noch 5 Fälle wahrscheinlich „stille Sabotage“ gewesen seien und 2 Rückstellungen im Einklang mit den Berliner Rückstellungs-Richtlinien erfolgt seien. Schließlich berücksichtigte das Gericht noch 17 weitere vorläufige Rückstellungen und führte diese auch auf „stille Sabotage“ zurück. So errechnete das Gericht 42 Fälle von „stiller Sabotage“. In dieser Sabotage sah das Gericht einen Schuldausschließungsgrund und stellte zusammenfassend fest:
Es steht zur völligen Gewissheit fest, dass die Angeklagten die Tötungsaktion aus Überzeugung missbilligt und sich ausschließlich deshalb an ihr beteiligt haben, um sie nach besten Kräften zu verhindern, zu stören und einzuengen. (…) In Anbetracht der rücksichtslosen Gewaltherrschaft der hinter der Euthanasieaktion stehenden Diktatur gab es für die Angeklagten nur diesen einen Weg, um wenigstens einen teil der Kranken zu retten. Ein Zurücktreten der Angeklagten hätte ihren Ersatz durch willfährige Anhänger der Euthanasie zur Folge gehabt. (…) Ihre Gesamtbeteiligung vom ersten Entschluss bis zur Beendigung war allein von der Erwägung getragen, der Aktion nach Kräften Abbruch zu tun und zwar nicht nur nach Maßgabe der Richtlinien. Sie haben sich nämlich nur aufgrund des Abwehrplanes des Prof. Creutz, der die Überschreitung der Berliner Richtlinien gerade bewirken sollte, zur Beteiligung entschlossen und in diesem Plan bis zum Schluss der Aktion die ihnen zugewiesene Aufgabe erfüllt. Die Angeklagten haben sich tätig und mit Erfolg für die Rettung der Kranken eingesetzt und jede erreichbare Möglichkeit zur Rettung der Kranken voll ausgenutzt.
Gegen dieses 127 Seiten lange Urteil hat der Oberstaatsanwalt dann noch – halbherzig, schließlich hatte sie in der Hauptverhandlung selbst Freispruch wegen erwiesener Unschuld beantragt – eine 5 ¼ Seiten lange Revisionsschrift verfasst und mit dieser Revision zum Oberlandesgericht Koblenz eingelegt.
Damit war Dr. med. Recktenwald rechtskräftig freigesprochen worden, obwohl er nachweisbar Beihilfe zum Mord an ca. 1.500 Menschen geleistet hat.
Meine Damen und Herren! Dr. Recktenwald und der Ausgang des Strafverfahrens gegen ihn sind kein Einzelfall. Von deutschen Gerichten ist – glaube ich – nur ein einziger Arzt wegen der Anstaltsmorde verurteilt worden. Ein Arzt der Tötungsanstalt in Hadamar. Immer wieder gab es Prozesse gegen Ärzte, die nach dem Krieg untergetaucht waren. Im Jahre 1986/87 fand ein letzter „Euthanasie“-Prozess beim Landgericht Frankfurt/Main statt. Angeklagt war u.a. ein Dr. Ullrich, früherer Arzt in der Tötungsanstalt Brandenburg. Als dieser im Prozess davon sprach, es seien lediglich „leere Menschenhülsen“ getötet worden und dies dann in der Heimatzeitung berichtet wurde, meldete sich eine ehemalige Patientin Dr. Ullrichs, die bei ihm nach dem Krieg jahrelang in Behandlung war. Sie schrieb daraufhin einen Brief an die Staatsanwaltschaft. Mit diesem Brief will ich hier schließen. In dem Brief erzählt sie von ihrem älteren Bruder, der Ende der 30er Jahre in Abständen von vier bis sechs Wochen epileptische Anfälle bekam. Eines Tages sei ihr Vater aufgefordert worden, den Jungen die die Heil- und Pflegeanstalt Andernach zu bringen. Dann heißt es wörtlich in diesem Brief:
Ich kann mich gut erinnern“, schrieb die Frau, „dass wir meinen Bruder dort besuchten. Mein Bruder liebte mich sehr und hob mir stets alle seine Geschenke auf. Mein Vater versprach meinem Bruder immer wieder, dass er nach Hause kommen dürfe, er sprach mit den Ärzten und wurde stets vertröstet. Mein Bruder konnte ausgezeichnet Violine spielen und bat immer wieder, ihm sein Instrument zu bringen, was aber abgelehnt wurde.
(Der Junge kam dann nach Hadamar. Sein Tod zerstörte das Leben der ganzen Familie. Die Frau fuhr in ihrem Brief fort:) Glauben Sie mir, meine ganze Kindheit war von diesem Mord überschattet, meine Eltern lachten nie wieder. Main Vater machte sich bis auf sein Sterbebett die schrecklichsten Vorwürfe, dass er es zugelassen hatte, dass mein Bruder überhaupt zur Untersuchung kam (…) Der Schmerz von uns konnte niemals milder werden, denn später kamen diese schrecklichen Berichte, ich sehe sie vor mir, die Busse mit den verhangenen Fenstern und darinnen diese armen Menschen. Ich habe mich immer wieder gefragt, was mein Bruder gedacht hat, wie mag er über meinen Vater gedacht haben, auf dessen Wort man bauen konnte. (Abschließend heißt es in dem Brief:) Mir steht es nicht zu, ein Urteil zu fällen. Aber gibt es eine Gerechtigkeit? Herr Dr. Ullrich konnte diese Gräuel sicherlich vergessen, er wohnte adäquat und hat sicherlich ein gutes Leben gehabt. Vielleicht bekommt er seines Alters wegen Straferlass, ich aber (…) kann es mein Leben nicht vergessen.