Ausstellung im Oberlandesgericht Koblenz
Zentrale Veranstaltung für das vielfältige Gedenken war die Ausstellung im Oberlandesgericht Koblenz. Sie stand unter dem Motto: „Vergessen heißt Verbannung. Erinnern ist der Pfad der Erlösung.“ Es war eine Doppelausstellung mit 16 Originalbildern von Teofila Reich-Ranicki aus dem Warschauer Ghetto. Der Förderverein Mahnmal Koblenz ergänzte sie mit Porträts von 16 jüdischen Bürgern aus Koblenz und Umgebung, die fast ausnahmslos von den Novemberpogromen des Jahres 1938 und deren Folgen betroffen waren.
Eröffnet wurde die Ausstellung am 30. Oktober 2008 mit der Künstlerin Teofila Reich-Ranicki, die von ihrem Ehemann Marcel Reich-Ranicki begleitet wurde.
Sehen Sie hier die beiden Plakate zur Ausstellung:
Die Eröffnung der Ausstellung fand im großen Sitzungssaal im Dienstgebäude II des Oberlandesgerichts Koblenz statt.
Präsident des Oberlandesgerichts Ralf Bartz begrüßte als Hausherr viele geladene Gäste.
Mit besonderer Freude wurden begrüßt (v.l.n.r.): die Künstlerin Teofila Reich-Ranicki, ihr Ehemann Marcel Reich-Ranicki,
Justizminister Dr. Heinz-Georg Bamberger
Und der Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Koblenz Dr. Heinz Kahn (im Vordergrund)
neben ihm Justizminister Dr. Heinz-Georg Bamberger.
Beim Studium des Programms.
Justizminister Dr. Heinz-Georg Bamberger bei seinem Grußwort.
Interessierte Zuhörer (v.l.n.r.):
Oberfinanzpräsident Ludwig Caspers, Präsidentin der Struktur- und Genehmigungsdirektion Nord Dagmar Barzen,
unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig, MdL Herbert Schneiders,
Präsident des Verfassungsgerichtshofs und des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz Dr. Karl-Friedrich Meyer.
Unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig gab eine Einführung in die Doppelausstellung.
Lesen Sie HIER seine Einführung:
Einführung in die Ausstellung „Vergessen heißt Verbannung, Erinnern ist der Pfad der Erlösung“ –
Zum 70. Jahrestag der Novemberpogrome von 1938
von Joachim Hennig
am 30. Oktober 2008 im OLG Koblenz
Sehr verehrte Frau Reich-Ranicki,
sehr geehrter Herr Reich-Ranicki,
sehr geehrter Herr Staatsminister Dr. Bamberger,
sehr geehrter Herr Präsident des Oberlandesgerichts Bartz,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich sehr, Sie heute Nachmittag in die Ausstellung hier im Oberlandesgericht Koblenz einführen zu dürfen. Es ist ja eine Doppelausstellung und so werde ich Sie gewissermaßen doppelt in die Ausstellung einführen.
Zunächst gebe ich eine Einführung in den Teil, den der Förderverein Mahnmal Koblenz zu der Ausstellung beisteuert. Hierbei geht es um die Anfänge der NS-Terrorherrschaft und um die Situation hier vor Ort in Koblenz. Im Anschluss daran möchte ich Sie in den anderen Teil der Ausstellung einführen, in die im Warschauer Ghetto 1941 und 1942 von Frau Reich-Ranicki gemalten Aquarelle.
Wir vom Förderverein Mahnmal Koblenz haben schon viele Opfer des Nationalsozialismus aus Koblenz und Umgebung porträtiert. Unsere Dauerausstellung besteht inzwischen aus 65 Personentafeln, also aus 65 Kurzbiografien. Darunter sind auch viele jüdische Einzelpersonen und Familien – insgesamt sind das 19. Die Ausstellung, die wir heute eröffnen und den ganzen Monat November zeigen, ist ein Ausschnitt aus dieser großen Ausstellung. Präsentiert werden 16 Personentafeln mit jüdischen Opfern, die die Novemberpogrome 1938 in Koblenz bzw. dessen Umgebung miterleben mussten.
Angefangen hatten die Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden bereits fünf Jahre früher, mit der Machtübernahme durch die Nazis am 30. Januar 1933, also vor nunmehr 75 Jahren. Damals hatte der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg sofort für den 5. März 1933 Neuwahlen zum Reichstag angesetzt. Im größten und wichtigsten Land des Reichs, in Preußen, hatte Göring den Posten des Innenministers übernommen und die Schläger von SA und SS offiziell zur „Hilfspolizei“ erhoben. Nach dem Reichstagsbrand am Abend des 27. Februar 1933 begannen die massenhaften Verhaftungen der Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen Oppositionellen. Unter ihnen waren auch Juden. Aber die Repressalien galten nicht – in erster Linie – ihrer ethnischen Herkunft oder Religion sondern ihrer politischen Gesinnung.
Die Ächtung und Ausgrenzung der – wie man so sagt – jüdischen Mitbürger begann am 1. April 1933, dem Tag des sog. Judenboykotts. Überall – auch hier in Koblenz – hinderten Trupps von SA- und SS-Leuten Kundschaft daran, jüdische Geschäfte zu betreten und jüdische Waren zu kaufen sowie jüdische Ärzte und jüdische Rechtsanwälte zu konsultieren. Das war die erste öffentliche Aktion zur Demonstration des Antisemitismus in Nazi-Deutschland. Wie das auf die Betroffenen wirkte, macht eine Tagebuchaufzeichnung von Frau Dr. Hertha Nathorff, geb. Einstein, der Nichte des Nobel-preisträgers, deutlich. Diese aus Württemberg stammende, in Berlin praktizierende Ärztin hielt an diesem Tag fest:
1. April 1933
Juden-Boykott
Mit Flammenschrift steht dieser Tag in mein Herz eingegraben. Dass so etwas im 20. Jahrhundert noch möglich ist. Vor allen jüdischen Geschäften, Anwaltskanzleien, ärztlichen Sprechstunden, Wohnungen stehen junge Bürschlein in Uniform mit Schildern „Kauft nicht bei Juden“, „Geht nicht zum jüdischen Arzt“, Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter“, „Der Jude ist die Inkarnation der Lüge und des Betruges“. Die Arztschilder an den Häusern sind besudelt und zum Teil beschädigt, und das Volk hat gaffend und schweigend zugesehen. Mein Schild haben sie wohl vergessen zu überkleben. Ich glaube, ich wäre tätlich geworden. Erst nachmittags kam so ein Bürschlein zu mir in die Wohnung und fragte: „Ist das ein jüdischer Betrieb?“ – „Hier ist überhaupt kein Betrieb, sondern eine ärztliche Sprechstunde“, sagte ich, „sind Sie krank?“ Nach diesen ironischen Worten verschwand der Jüngling, ohne vor meiner Türe Posten zu stehen. Freilich, manche Patienten, die ich bestellt hatte, sind nicht gekommen. Eine Dame hat angerufen, dass sie doch heute nicht kommen könne, und ich sagte, dass es am besten wäre, sie käme überhaupt nicht mehr. Ich selber habe heute mit Absicht in Geschäften gekauft, vor denen ein Posten stand. Einer wollte mich abhalten, in ein kleines Seifengeschäft zu gehen. Ich schob ihn aber auf die Seite mit den Worten: „Für mein Geld kaufe ich, wo ich will.“ Warum machen es nicht alle so? Dann wäre der Boykott schnell erledigt gewesen. Aber die Menschen sind ein feiges Gesindel, ich weiß es längst.
Das war aber erst der Anfang. Dem Boykott folgten die Beurlaubung der jüdischen Beamten, Richter und Staatsanwälte sowie die Zurücknahme der Rechtsanwaltszulassungen und die Löschung aus der Rechtsanwaltsliste. Begleitet und fortgesetzt wurden diese staatlichen Maßnahmen von Diskriminierungen vor Ort. Juden verbot man, Schwimmbäder und Sportplätze und andere Einrichtungen wie Wochenmärkte und Messen zu besuchen. Es gab ein Wechselspiel von alltäglichen Schikanen und Repressalien niederer NS-Chargen und legislatorischen Diskriminierungen. Besondere Bedeutung erlangten die auf dem sog. Reichsparteitag der Freiheit am 15. September 1935 beschlossenen „Nürnberger Gesetze“: das „Reichsbürgergesetz“ und das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“.
Eine Wegmarke des Unrechtsstaats waren dann die Pogrome vom 9. und 10. November 1938, die oft verharmlosend „Reichskristallnacht“ oder - auch nicht viel besser - „Reichspogromnacht“ genannt werden. Sie standen am Übergang von der Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden zu ihrer völligen Entrechtung.
Nach der Blitzaktion gegen in Deutschland lebende Juden mit polnischen Pässen Ende Oktober 1938 – auf die ich gleich noch zu sprechen komme – und nach den tödlichen Schüssen des 17-jährigen Herschel Grünspan am 7. November 1938 auf den Legationsrat Ernst vom Rath in Paris rief Goebbels mit Einverständnis Hitlers zu „spontanen Vergeltungsaktionen“ gegen „die Juden“ auf. SA, SS und die Gestapo wurden mobilisiert. Überall im Reich brannten die Synagogen. Am 11. November lag das offizielle Zwischenergebnis vor: 815 zerstörte Geschäfte, 29 in Brand gesetzte oder zerstörte Warenhäuser, 171 in Brand gesetzte oder zerstörte Wohnungen. 191 Synagogen waren in Brand gesteckt, 76 weitere vollständig demoliert. Dazu kamen Gemeindehäuser, Friedhofskapellen und andere jüdische Einrichtungen. Fast 100 Juden wurden ermordet worden, noch mehr hatten Verletzungen erlitten. 20.000 bis 30.000 Männer verschleppte man in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen.
Auch in Koblenz wüteten die Nazis. Zerstört wurden 13 bzw. nach einer anderen Zählung 19 Geschäfte und 36 bzw. 41 Wohnungen, jüdische Mitbürger wurden misshandelt. Trupps zerstörten die Synagoge am Florinsmarkt. In Brand gesteckt wurde sie allerdings nicht - die Nachbarhäuser sollten nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Aber der Friedhof wurde geschändet und die Leichenhalle verwüstet. Etwa 100 Männer wurden in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald verschleppt.
All dies geschah in Koblenz. Aber nicht nur in unserer unmittelbaren Nähe, sondern auch in der Umgebung: in Kobern, in Vallendar, in Bendorf, in Neuwied, in Mülheim, in Ochtendung usw. usw., im Koblenzer Raum in ca. 50 Orten - und überall in Deutschland, ohne dass sich Entsetzen, Mitleid oder Widerstand manifestierte.
Um Ihnen einen gewissen Eindruck von dem Pogrom hier in Koblenz zu vermitteln, zitiere ich Ihnen eine Passage aus dem Strafurteil des Landgerichts Koblenz von 1951, mit dem eine strafrechtliche Aufarbeitung dieses Novemberpogroms in Koblenz versucht wurde. Aus diesem Urteil, das in einer sehr nüchternen Sprache abgefasst ist, die bei einer solchen Gedenkveranstaltung wie hier schon fast weh tut und für die ich um Verständnis bitte, möchte ich hier auszugsweise zitieren. Im Folgenden geht es hier nur um einen einzigen Aspekt dieser „Aktion“, um die Vorfälle im Haus Kaiser-Friedrich-Straße 53. Dazu heißt es in dem Urteil:
Ein weiterer Zerstörungstrupp im Bereich der (SA-)Ortsgruppe Roon betätigte sich im Hause Kaiser-Friedrich-Straße 53, in dem die jüdischen Familien Wassermann, Bernd und Oster sowie einige weitere Juden zur Untermiete wohnten. Von den Mitgliedern dieses Trupps ist lediglich der Angeklagte E. bekannt, über die etwa 15 Mittäter konnte, abgesehen von der Person des inzwischen verstorbenen Ortsgruppengeschäftsführers Dunkel, nichts ermittelt werden. Es ist dies im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die Täter, um sich unkenntlich zu machen, die Kopfbedeckung nach Verbrecherart ins Gesicht gezogen hatten.
Am Morgen (…) befand sich der Angeklagte E. auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle. Unterwegs merkte er, dass eine Aktion gegen die Wohnungen der Juden im Gange war und begab sich wieder zu seinem Haus zurück. Vor dem Hause, etwa gegen 8 Uhr, traf er den Geschäftsführer der Ortsgruppe Roon und einige weitere nicht ermittelte Männer in Zivil, die im Begriffe waren, die Wohnungen der im Hause Kaiser-Friedrich-Straße 53 wohnhaften jüdischen Familien aufzusuchen. E. zeigte zunächst die im 2. Stock des Hauses befindliche Wohnung des Juden Wassermann und ging dann mit dem Trupp in die Parterrewohnung des Juden Bernd. Der Angeklagte zerschlug hier mit einem Stuhlbein vor den Augen des krank zu Bett liegenden Bernd ein Nachtschränkchen sowie in der Speisekammer ein Regal.
Danach ging der Angeklagte mit den übrigen Leuten des Trupps auch durch die Wohnungen Oster und Wassermann. Als er sich wieder nach unten begeben wollte, traf er vor der Wohnung Wassermann den Hausverwalter der Eigentümerin des Hauses, der Jüdin Oster, der ebenfalls im Hause wohnte. Der Angeklagte sagte zu den umstehenden Männern: „Der da ist auch ein Judenfreund“, stürzte sich auf ihn und schlug ihn zu Boden. (…)
Der Angeklagte E. hat sich an den Zerstörungen der Wohnungen seiner eigenen Hausgenossen und nächsten Nachbarn beteiligt, mit denen er zu Teil seit mehr als acht Jahren unter einem Dache wohnte.
So weit einige Feststellungen aus dem Urteil des Landgerichts Koblenz von 1951 zu dem Novemberpogrom hier in Koblenz. Übrigens: Die strafrechtliche Aufarbeitung des Novemberpogroms misslang nach dem Krieg – aber nicht nur hier in Koblenz, sondern in vielen anderen Städten auch.
Doch zurück zu den Novemberpogromen vor nunmehr 70 Jahren. Ihnen folgte eine beispiellose Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden aus der Öffentlichkeit sowie eine Ausschaltung aus dem Wirtschaftsleben. Damit aber nicht genug: Keine zehn Monate nach den Novemberpogromen entfesselte Hitler den Zweiten Weltkrieg. Was dann folgte, war der Völkermord, der Holocaust, die Shoa – dieses unbeschreibliche Verbrechen an den europäischen Juden.
Aus dieser Zeit des Zweiten Weltkrieges stammen – und damit komme ich zum zweiten Teil der hier präsentierten Ausstellung – aus dieser Zeit des Zweiten Weltkrieges stammen die insgesamt 16 Aquarelle von Frau Reich-Ranicki. Sie, die von Ihrem Mann Marcel und Ihren Freunden und Bekannten „Tosia“ genannt wird, ist die Frau von Herrn Marcel Reich-Ranicki. Im Vergleich zu ihm stand und steht Frau Reich-Ranicki eher im Hintergrund. Bekannt ist sie aber durch ihre Aquarelle, von denen wir hier ein Ensemble zeigen.
Marcel und Teofila Reich-Ranicki lernten sich Ende 1939/Anfang 1940 in Warschau kennen. Beide sind im Jahr 1920 in Polen geboren: Marcel in einem kleineren Ort an der Weichsel, Teofila in Lodz. Die Familie Reich verzog Ende der 1920er Jahre nach Berlin. Dort ging der junge Marcel zur Schule und machte im Jahr 1938 Abitur. Eine Bewerbung um einen Studienplatz war für ihn als so genannter Volljude aussichtslos. Kurz nach dem Abitur und im Zuge der Blitzaktion am 28. Oktober 1938 gegen in Deutschland lebende Juden mit polnischen Pässen wurde er in Berlin verhaftet und mit vielen anderen in einem plombierten Zug an die polnische Grenze „verfrachtet“. Denn Marcel Reich-Ranicki, dessen Vater Pole und dessen Mutter Reichsdeutsche war, hatte einen polnischen Pass. Er zog dann zu seinen Eltern und seinem Bruder nach Warschau. Dort lernte die Familie Reich die Familie Langnas kennen. Vater Langnas war in Lodz Mitinhaber einer ansehnlichen Fabrik gewesen. Ende 1939, nachdem die Deutschen Polen besetzt hatten, zogen die Langnas mit ihrer Tochter Teofila nach Warschau – in die unmittelbare Nachbarschaft der Familie Reich.
Ein entscheidendes Datum in dem sehr ereignisreichen Leben von Marcel und Teofila Reich-Ranicki war der 21. Januar 1940. In seiner Autobiografie schildert Marcel Reich-Ranicki diese Ereignisse unter dem Titel: „Der Tote und seine Tochter“. Am Mittag dieses Tages entdeckte man Pawel Langnas. Er hatte sich mit seinem Hosenriemen an einem Haken im Fensterrahmen erhängt. Seinem Leben hatte er ein Ende gesetzt, weil er nach der Enteignung seiner Fabrik und den anschließenden Demütigungen einen psychischen Zusammenbruch erlitten hatte, aus dem er keinen anderen Ausweg als den Selbstmord wusste. Es war dann Marcels Mutter, die die beiden 19-Jährigen zusammenbrachte, indem sie zu ihrem Sohn sagte: „Geh sofort dahin, der Langnas hat doch eine Tochter, ihrer muss man sich jetzt annehmen. Kümmere Dich um das Mädchen!“ Und so begann für Frau Reich-Ranicki das Beste: das Leben mit ihrem späteren Mann Marcel.
In dieser Zeit entstand in Warschau, der Stadt in Europa mit der größten jüdischen Wohnbevölkerung und – nach New York – der Stadt mit der zweitgrößten jüdischen Wohnbevölkerung der Welt, das Ghetto. Innerhalb von drei Tagen mussten die Juden in die nördlichen, meist hässlichen und vernachlässigten Viertel umziehen. Gleichzeitig hatten die dort lebenden Nichtjuden diese Viertel zu verlassen und ebenfalls mit Sack und Pack umzuziehen. Außerdem mussten die Juden eine weiße Armbinde mit einem blauen Davidstern tragen – und waren vogelfrei.
Die Deutschen nannten das übrigens nicht Ghetto sondern euphemistisch „jüdischer Wohnbezirk“. Im Frühjahr 1940 erhielt der Bezirk die neue Bezeichnung „Seuchensperrbezirk“. Die Zwangsorganisation der Warschauer Juden, der Judenrat, hatte den Bezirk mit einer drei Meter hohen Mauer zu umgeben, die oben noch mit einem ein Meter hohen Stacheldrahtzaun versehen wurde. Am 16. November 1940 wurden die 22 Eingänge in diesen Bezirk geschlossen und dann Tag und Nacht von jeweils sechs Posten bewacht: zwei deutschen Gendarmen, zwei polnischen Polizisten und zwei Angehörigen der jüdischen Miliz, die „Jüdischer Ordnungsdienst“ hieß. So war aus dem „Seuchensperrbezirk“ das riesige Warschauer Ghetto geworden – 400.00 Menschen waren so eingeschlossen.
Im August 1941 begann die völlige Isolierung des Ghettos. Inzwischen war der Wohnbezirk so übervölkert, dass durchschnittlich 7 – 10 Menschen in einem Raum wohnten. Polen drohte die Todesstrafe, wenn sie Juden mit Lebensmitteln versorgten oder sie außer-halb des Ghettos versteckten. Juden, die das Ghetto unerlaubt verließen, konnten ohne Vorwarnung erschossen werden. Von wenigen Ausnahmen – wie reiche Juden, Schwarzhändler und Schieber – abgesehen, vegetierte die Bevölkerung am Rande des Existenzminimums. Die offizielle Versorgung mit Lebensmitteln lag bei 180 Kalorien pro Tag. Die Sterblichkeitsziffer war enorm. Allein im Jahr 1941 starben im Warschauer Ghetto 45.000 Menschen - viele davon Kinder – und zwar an Hunger und an Krankheiten. Viele starben buchstäblich auf der Straße. Schon im Jahr 1940 wusste der deutsche Gouverneur des Bezirks Warschau: „Die Juden werden vor Hunger und Elend krepieren, von der so genannten Judenfrage wird nur noch ein Friedhof übrigbleiben.“
Neben Hunger, Kälte und Krankheiten litten die Ghettobewohner an täglicher Erniedrigung, völliger Willkür und Todesangst. Trotz allem oder auch gerade deshalb gab es auch zahlreiche Bekundungen von Selbstbehauptung. So fanden sich beispielsweise mehr als 80 Musiker zusammen, die ein eigenes Symphonieorchester gründeten und dann im Ghetto Konzerte gaben. Auch gab es literarische Veranstaltungen. Frau Reich-Ranicki, die eigentlich in Paris Grafik und Kunstgeschichte studieren wollte, zeichnete und malte Bilder in Zyklen, so etwa Frauengestalten im Wandel der Jahrhunderte, Heroinnen der Opernbühne und anderes mehr. Alsbald begann sie das Alltagsleben im Ghetto im Bild festzuhalten. Diese Aquarelle sehen Sie hier im zweiten Teil der Ausstellung. Es sind Szenen aus dem Ghetto – wie: „Umzug ins Ghetto“ – „Razzia auf den Straßen des Ghettos“ „Mutter“, „Kinder“, „Hungertod“, „Rikscha-Leichen-wagen“ und andere mehr.
Am 22. Juli 1942 kam es zu dem, was Marcel Reich-Ranicki in seiner Autobiografie in dem Kapitel „Todesurteile mit Wiener Walzern“ beschrieb. Er war inzwischen als Übersetzer und Dolmetscher beim „Judenrat“ beschäftigt und erlebte die Ereignisse aus nächster Nähe mit. An diesem Tag erschien ein wohlbeleibter, glatzköpfiger SS-Offizier beim „Judenrat“. Die Sitzung eröffnete er mit den Worten: „Am heutigen Tag beginnt die Umsiedlung der Juden aus Warschau. Es ist euch ja bekannt, dass es hier zu viele Juden gibt. Euch, den „Judenrat“, beauftrage ich mit dieser Aktion. Wird sie genau durchgeführt, dann werden auch die (zuvor festgenommenen) Geiseln freigelassen, andernfalls werdet ihr alle aufgeknüpft, dort drüben.“ Dabei zeigte er zum Kinderspielplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die „Umsiedlung“ war das Todesurteil, das die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte. Sie brachte die Menschen – wie man später erfuhr – in das Vernichtungslager Treblinka, wo sie noch am Tage ihrer Ankunft mit Giftgas ermordet wurden.
Ausgenommen werden sollten von dieser „Aktion“ nur „nützliche Juden“, zu denen die SS vorläufig auch die Mitarbeiter des „Juden-rates“ und ihre Angehörigen zählte. Das war Anlass für Marcel Reich-Ranicki, noch am selben Tag seine Tosia nach religiösem Ritus zu heiraten. Tatsächlich überlebten die beiden diese erste Deportationswelle von Juden nach Treblinka, die vom 22. Juli bis zum 13. September 1942 dauerte. Aus dieser Zeit stammen weitere Arbeiten von Frau Reich-Ranicki, die Sie hier sehen können: So z. B.: „Umschlagplatz“ – Warten auf den Abtransport nach Treblinka sowie „Selektion nach Treblinka“. Ihre eigene Mutter fiel einer solchen Selektion zum Opfer wie auch später die Eltern und der Bruder von Marcel Reich-Ranicki. Die letzten Worte, die Tosia von seiner Mutter hörte, waren: „Kümmere dich um Marcel.“
Im Herbst 1942 kam Frau Reich-Ranicki selbst, ohne zu wissen wie ihr geschah, unvermittelt auf den „Umschlagplatz“. Ihr Mann erfuhr davon und konnte ihre Freilassung erreichen und sie damit vor dem sicheren Tod bewahren. Die Heirat der beiden bot schon längst keine Sicherheit mehr, von den „Selektionen“ verschont zu bleiben. Tatsächlich gerieten die beiden am 18. Januar 1943 in eine weitere „Aktion“. Mit tausenden anderen Juden mussten sie sich in eine Marschkolonne einreihen. Der Weg führte zum „Umschlagplatz“ und in die drohende Vernichtung. Die Kolonne wurde von Posten mit schussbereiter Waffe bewacht. Auf die, die ausscherten, wurde sofort geschossen – nicht wenige blieben auf dem Straßendamm liegen. Den sicheren Tod vor Augen, scherten die beiden aus der Kolonne aus und konnten sich in die Toreinfahrt eines zerstörten Hauses retten. Sie versteckten sich in Kellern und konnten überleben. Das war nur möglich, weil diese zweite „Aktion“ bereits nach vier Tagen von der SS abgebrochen wurde. Die Juden führten dies auf ein Ereignis zurück, mit dem die Deutschen nicht gerechnet hatten: auf den unvermuteten Widerstand von Juden. Auf dem Weg zum Umschlagplatz hatten nämlich einige Juden ihre Pistolen gezogen und auf die begleitende SS-Mannschaft geschossen. Die Gruppe konnte dann noch untertauchen, ehe die Deutschen sich von ihrer Verwirrung erholt hatten. Damit war offenbar, dass es die überlebenden Bewohner des Ghettos verstanden hatten, sich Waffen zu beschaffen und dass sie sich nicht mehr willenlos zur Schlachtbank führen lassen würden. Gleichwohl war Marcel und Teofila Reich-Ranicki klar war, dass die Vernichtung nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben war. Deshalb suchten sie eine Möglichkeit, um aus dem Ghetto zu fliehen. Durch Zufall kamen sie zu etwas Geld, mit dem sie einen jüdischen Milizionär bestechen und mit seiner Hilfe am 3. Februar 1943 aus dem Ghetto fliehen konnten. Außerhalb des Ghettos mussten die beiden sich mit einer weiteren Bestechung zweier polnischer Polizisten dann das Betreten des anderen, des so genannten arischen Teils der Stadt Warschau erkaufen. Von da an lebten sie versteckt im Untergrund in Polen, bis sie im September 1944 von der Roten Armee befreit wurden.
Durch ihre Flucht Anfang Februar 1943 aus dem Ghetto erlebten die beiden nicht mehr den Aufstand dort. Er begann am 19. April 1943, als der in Partisanenbekämpfung erfahrene SS- und Polizei-general Jürgen Stroop mit drei Geschützen und drei Panzerwagen in das verbliebene verkleinerte Ghetto einrückte. Da schlug ihm erbitterter Widerstand entgegen, so dass er sich wieder zurückziehen musste. Damit begann der heroische Aufstand des Warschauer Ghettos. Er dauerte bis zum 16. Mai 1943, also fast einen Monat lang. In diesen vier Wochen mussten die Deutschen Straße um Straße, Haus um Haus des Ghettos erobern. Sie mussten Geschütze, Panzerfahrzeuge, Flammenwerfer, über 2.000 Männer der Waffen-SS, deutsche Polizeiangehörige, Wehrmachtssoldaten und polnische und litauische Hilfskräfte einsetzen, um die jüdischen Verteidiger zu überwältigen. Schließlich sprengten die Deutschen die Häuser oder setzten sie in Brand. Vier Wochen lang lag über dem Ghettobezirk am Tag eine schwarze Rauchwolke und nachts der dunkelrote Schein der Brände. Am 25. April meldete Stroop seiner vorgesetzten Dienststelle: „Wenn gestern Nacht das ehemalige Ghetto von einem Feuerschein überzogen war, so ist heute Abend ein riesiges Feuermeer zu sehen.“ Gleichwohl gaben die jüdischen Verteidiger nicht auf. Stroop musste auch melden: „Immer wieder konnte man beobachten, dass trotz der großen Feuersnot Juden und Banditen es vorzogen, lieber wieder ins Feuer zurückzugehen, als in unsere Hände zu fallen.“ Am 16. Mai war der Kampf zu Ende. Als Zeichen der Vernichtung wurde die außerhalb des Ghettos gelegene Große Synagoge gesprengt. Im Übrigen gab Himmler den Befehl, die Reste des Ghettos dem Erdboden gleichzumachen. Wer von den Kämpfern noch lebte und ausfindig gemacht werden konnte, wurde erschossen, der Rest der Bevölkerung, etwa 20.000, wurde nach Treblinka deportiert. An diesem 16. Mai 1943 konnte Stroop voller Stolz melden: „Das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschau besteht nicht mehr… (Die) Gesamtzahl der erfassten und nachweislich vernichteten Juden beträgt insgesamt 56.065.“
Der stellvertretende Anführer des Aufstandes, Marek Edelman, überlebte und sagte nach dem Krieg über den Warschauer Ghetto-Aufstand: „Es ging darum, sich nicht abschlachten zu lassen, wenn die Reihe an uns kam. Es ging nur darum, die Art des Sterbens zu wählen…“ Die letzten beiden der hier gezeigten 16 Aquarelle zeigen Szenen vom Aufstand im Warschauer Ghetto. Diese hat Frau Reich-Ranicki nach der Flucht aus dem Ghetto gemalt.
Wozu malte Frau Reich-Ranicki ihre Aquarelle? – Für Marcel? Oder für die Menschen, die einmal etwas würden wissen wollen? Oder vielleicht für sich selbst: um dem eigenen Leben einen Sinn zu geben – in einer Welt, die in Sinnlosigkeit versank? – Wir wissen es nicht. Sicher ist, dass sie mit einem Schulpinsel den Alltag im Warschauer Ghetto festhielt, so wie er war. Nur soviel konnte sie tun, aber sie tat es. Frau Reich-Ranicki glaubte übrigens nicht daran, den Krieg zu überleben, war aber sicher, dass ihre Bilder erhalten blieben. Dafür hatte sie gesorgt. Als eine Tante von ihr, die auf der „arischen“ Seite von Warschau lebte, sie eines Tages im Ghetto besuchte und ihr anbot, sie mit einem gefälschten Taufschein hinauszuschmuggeln, lehnte sie ab, weil ihr Mann nicht mitkommen sollte. Daraufhin richtete Frau Reich-Ranicki eine Bitte an ihre Tante. „Nimm das hier mit. Statt Marcel und mich.“ Mit diesen Worten reichte sie ihr die Bilder aus dem Ghetto. Die Tante schmuggelte sie hinaus und brachte sie zu einer polnischen Bekannten. Diese bewahrte sie den ganzen Krieg über auf. Nach der Befreiung gab sie sie Frau Reich-Ranicki zurück. Nun sind die Bilder hier im Oberlandesgericht. Sie hier bei uns die Geschichte des Warschauer Ghettos. Und mit ihren Bildern ist Frau Reich-Ranicki zu uns gekommen und heute unter uns.
Meine Damen und Herren! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche uns allen einen nachhaltigen und bewegenden Besuch der Ausstellung.
Ohne dass es geplant war, ergriff Marcel Reich-Ranicki zur Ausstellungseröffnung das Wort und schilderte als Zeitzeuge sehr wortgewandt und eindrücklich die Ereignisse im Oktober 1938 in Berlin, seinen Abtransport und den seiner Eltern an die deutsch-polnische Grenze
und seine Rückkehr nach Warschau und das Leben und Überleben im Warschauer Ghetto und die Zeit des Untertauchens.
Ende einer beeindruckenden Veranstaltung.
Marcel Reich-Ranicki und Dr. Heinz-Georg Bamberger auf dem Weg zur Ausstellung
im Dienstgebäude I des Oberlandesgerichts Koblenz.
Frau Gunhild Schulte-Wissermann, Schirmherrin unserer Dauerausstellung sorgt für den Eintrag in unserem Gästebuch.
Beim Rundgang durch die Ausstellung (v.l.n.r.): Dr. Heinz Kahn, Frau Teofila Reich-Ranicki, Marcel Reich-Ranicki,
Dr. Heinz Georg Bamberger.
Beim Rundgang durch die Ausstellung (v.l.n.r.): OLG-Präsident Ralf Bartz, Marcel Reich-Ranicki, Dr. Heinz Kahn.