Vor dem Hintergrund, dass Hennig 1996 eine umfangreiche Biografie über Dr. Ernst Biesten, der 1946 an den Vorarbeiten für die Verfassung des neuen Landes Rheinland-Pfalz beteiligt war, veröffentlicht hatte, verfasste er für das Heimat-Jahrbuch des Landkreises Neuwied 1998 den Aufsatz: „Vor 50 Jahren: Die ‚Wiege‘ der Verfassung stand in Unkel“.
Lesen Sie nachfolgend den in Heimat-Jahrbuch des Landkreises Neuwied 1998 (s. 20 – 25) erschienenen Aufsatz.
Vor 50 Jahren: Die „Wiege“ der Verfassung stand in Unkel (PDF-Datei HIER lesen)
Im Jahre 1997 ist unser Land Rheinland-Pfalz 50 Jahre alt geworden. Am 18. Mai 1947 hatten die Bürger des Landes mit einem Volksentscheid die Verfassung angenommen und am selben Tag auch den ersten rheinland-pfälzischen Landtag gewählt.
Erstaunlich ist es auf den ersten Blick schon, daß die Verfassung des Landes ihren Ausgang von Unkel genommen hat. Denn dieses Rheinstädtchen im nördlichen Teil des neu geschaffenen Landes Rheinland-Pfalz gehörte nicht zu den politischen Zentren. Politik gemacht wurde in jenen Jahren vielmehr vor allem in Koblenz - dem Sitz des Oberpräsidiums für die Provinz Rheinland/Hessen-Nassau, dem Tagungsort der Beratenden Landesversammlung und sodann dem Sitz der Landesregierung sowie des Landtages von Rheinland-Pfalz. Das Unkel die „Wiege“ der rheinland-pfälzischen Verfassung wurde, ist unabhängig von diesen politischen Kräftefeldern zu sehen und beruhte geradezu auf einer Laune der Geschichte.
Es begann alles eigentlich schon während des Zweiten Weltkrieges. Damals war der Kölner Rechtsanwalt Dr. Adolf Süsterhenn, der später der „Verfassungsvater‘ von Rheinland-Pfalz werden sollte, mit seiner Familie nach Unkel zwangsevakuiert (1) nachweisbar ist ein Aufenthalt Süsterhenns im September 1942 im Christinenstift in Unkel (2). Die letzten Kriegsjahre verbrachte Süsterhenn dann in Unkel, zuletzt in der Hindenburgstraße 7 (3). Seine Anwaltstätigkeit - Süsterhenn war beim Landgericht Köln zugelassen - war zum Erliegen gekommen. Er privatisierte, unternahm Reisen nach Holland und debattierte im Freundes- und Bekanntenkreis (4).
Süsterhenns Werdegang nahm dann eine Wende und führte zur Vorgeschichte der Verfassung von Rheinland-Pfalz, als Konrad Adenauer, der spätere erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, auf ihn bei einer CDU-Versammlung in Honnef im Frühjahr 1946 aufmerksam wurde. Damals war Adenauer gerade Vorsitzender der CDU in der britischen Zone geworden und befand sich unter den Zuhörern eines Vortrages, in dem Süsterhenn auch auf die Problematik einer künftigen deutschen Verfassung zu sprechen kam. Adenauer, der wie Süsterhenn aus Köln stammte und dort vor der sog. Machtergreifung der Nationalsozialisten viele Jahre Oberbürgermeister war, bat daraufhin Süsterhenn, für ihn eine Studienreise durch die Länder der amerikanischen Zone zu unternehmen. Er sollte sich ein Bild über die Entwicklung der CDU bzw. CSU dort verschaffen, Beziehungen zu den führenden Persönlichkeiten der CDU bzw. CSU aufnehmen und sich über die Arbeiten an den Verfassungen, die dort bereits angelaufen waren, informieren und alles dies für Adenauer nutzbar machen (5).
Es war jedoch letztlich nicht Adenauer und auch nicht der „Kölsche Klüngel“, die Süsterhenn zum „Verfassungsvater“ der rheinland-pfälzischen Verfassung und Unkel zur „Wiege“ der Landesverfassung werden ließen. Mit der Studienreise erhielt Süsterhenn lediglich wichtige Einblicke in die Verfassungsarbeiten in anderen Ländern. Vielmehr war es Süsterhenn selbst sowie ein weiterer, zufälliger Umstand, die die künftige Entwicklung ausschlaggebend beeinflußten.
Zum einen verstand es Süsterhenn ausgezeichnet, sich publizistisch ins rechte Licht zu rücken. Er verfaßte nicht nur für den Mitte März 1946 in Koblenz erstmals erschienenen Rheinischen Merkur einen Bericht über seine Studienreise, sondern war auch in der Folgezeit für diese Wochenzeitung ein wichtiger Autor und Ratgeber. Zum anderen ergab es sich, daß Unkel in Dr. Ernst Biesten einen weiteren Neubürger erhielt.
Biesten (6), in Niederlahnstein geboren, viele Jahre Beigeordneter der Stadt Koblenz und bis zu seiner Entfernung aus dem Amt durch die Nationalsozialisten erster Polizeipräsident von Koblenz, war während des Krieges mit seiner Familie nach Gengenbach bei Offenburg in Baden evakuiert worden. Ein Erbfall führte ihn nach Unkel. Cousin und Cousine vererbten ihm deren „Landhaus“ (ihr „Stadthaus“ haften sie in Essen) in Unkel in der Josephstraße 26.(7) Dorthin siedelte Biesten dann über, nachdem er im Juni 1945 von dem damaligen Regierungspräsidenten von Koblenz, Dr. Wilhelm Boden, zum Polizeipräsidenten für den Regierungsbezirk Koblenz ernannt worden war. Sicherlich hat auch Biesten, der mit Boden und Altmeier noch aus der Weimarer Zeit gut bekannt war, Süsterhenn weiterempfohlen. Auf jeden Fall wurde Süsterhenn Anfang September 1946 - wenige Tage nach der Schaffung des rhein-pfälzischen Landes am 30. August 1946 durch die Verordnung des französischen Armeegenerals Pierre Koenig - zum Vorsitzenden des bei der Gemischten Kommission gebildeten Unterausschusses für Verfassungsfragen berufen (8). Bei der Gemischten Kommission handelte es sich um ein Gremium aus Mitgliedern der damals noch bestehenden Oberpräsidien von Rheinland/Hessen-Nassau und Hessen-Pfalz, das damit beauftragt war, „die Arbeit der Beratenden (Landes-)Versammlung gemäß der Verfassung vorzubereiten und die Verwaltung der Ubergangszeit festzulegen, der das Land bis zur Billigung der Verfassung durch den Volksentscheid unterstellt bleibt“. Dazu gehörte auch die Erarbeitung eines Verfassungsentwurfs, der - das war die Vorgabe der französischen Militärregierung - bis Mitte, spätestens Ende Oktober 1946 vorliegen sollte. Zur zügigen Erfüllung ihrer Aufgaben wurden zwei Unterausschüsse der Gemischten Kommission gebildet, einer hiervon war der erwähnte Unterausschuß für Verfassungsfragen. Die Mitglieder dieses Ausschusses wurden vom französischen Militärgouverneur benannt. Dabei nahm man auf die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei ebenso Rücksicht wie auf eine gewisse regionale Verteilung. Von sechs Mitgliedern gehörten drei der CDP - wie sich die CDU zunächst noch nannte - ‚ zwei der SPD und ein Mitglied der KPD an. Einer von ihnen wurde kurzfristig dann Dr. Biesten (wie Dr. Süsterhenn CDP), nachdem er Ende August 1946 zum ersten Präsidenten des Landesverwaltungsgerichts (das später in Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz umbenannt wurde) ernannt worden war.
Damit waren zwei Bürger Unkels als Vorsitzender bzw. als Mitglied des Unterausschusses für Verfassungsfragen mit der Erarbeitung des Verfassungsentwurfs betraut.
Vor diesem Gremium lag ein Berg von Arbeit. Wie schwierig sie war, macht überdies deutlich, daß seine Mitglieder unterschiedlicher politischer Richtungen sowie verschiedenen Regionen angehörten und der Entwurf bereits Mitte, spätestens aber Ende Oktober 1946 vorliegen sollte - und dabei fand die erste Sitzung des Verfassungsausschusses erst am 21. September 1946 statt. Damit blieben dem Ausschuß allenfalls knapp sechs Wochen Zeit, um einen gemeinsamen Verfassungsentwurf zu schaffen. Es mußten schon mehrere günstige Umstände zusammenkommen, damit trotz alledem die große Aufgabe erfüllt werden konnte.
Als ein sehr günstiger Umstand erwies sich, daß Süsterhenn seit seiner Studienzeit an verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Fragen ein großes wissenschaftliches Interesse hatte und außerdem durch seine Studienreise durch die amerikanische Zone über den aktuellen Stand der Verfassungsdiskussion und -arbeit verfügte. Zudem konnte er sich mit dem ebenfalls in Unkel wohnenden Biesten schon im Vorfeld der Ausschußsitzungen gleichsam privat abstimmen.
Süsterhenn begann Anfang September 1946 mit der Niederschrift des Entwurfs für die Verfassung von Rheinland-Pfalz. Sein Kalkül war es, daß derjenige, der mit einem fertigen Entwurf in eine Vertragsverhandlung geht, immer in der Vorhand ist9. Von Anfang an war auch Biesten an den Arbeiten für den Entwurf beteiligt. Welche Rolle dieser - zumindest für die französische Militärregierung - spielte, macht etwa der Umstand deutlich, daß Biesten zusammen mit Süsterhenn von der Militärregierung noch kurz vor der ersten Sitzung des Unterausschusses für Verfassungsfragen zu einem Gespräch nach Bad Ems gebeten wurde (10).
Auf der ersten Sitzung des Verfassungsausschusses am 21. September 1946 im Oberpräsidium auf dem Oberwerth in Koblenz gab Süsterhenn einen Überblick über die anstehenden Probleme und stellte bereits eine Grundkonzeption der Verfassung vor. Man kam überein, daß jedes Mitglied Material für die weitere Arbeit sammle, Süsterhenn nach Möglichkeit bis zur Fortsetzung der Beratungen am 4. Oktober 1946 einen Rahmenentwurf vorlege.(11)
In der zweiten Sitzung des Unterausschusses für Verfassungsfragen am 4. Oktober 1946 legte Süsterhenn dann tatsächlich einen privaten Vorentwurf für die Verfassung vor. Hierbei bemerkte er, er habe diesen in eingehender Beratung mit Biesten erarbeitet, so daß er in allem Wesentlichen Biestens und seine Auffassung wiedergäbe. (12) In seinen Erinnerungen spricht Süsterhenn allerdings etwas abweichend von dieser Darstellung davon, er habe den Entwurf niederzuschreiben begonnen und diesen dann mit Biesten zusammen überarbeitet.(13) Der Entwurf war angesichts der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit noch nicht vollständig. Er wurde dann von dem Unterausschuß für Verfassungsfragen zur maßgeblichen Arbeitsgrundlage gemacht.
Dieser private Entwurf für eine Verfassung von Rheinland-Pfalz sowie die nicht sehr umfangreichen Protokolle über die Sitzungen des Ausschusses sind die sehr dürftigen Materialien, die über die frühe Entstehungsgeschichte unserer Verfassung Aufschluß geben. Insbesondere fehlen zeitnahe Aufzeichnungen oder nachträgliche Erinnerungen der Mitglieder des Unterausschusses über deren Arbeit sowie umfangreiche (Wort-)Protokolle als Nachweis einer ausgiebigen und eingehenden Erörterung der anstehenden Fragen. Von daher ist der private Entwurf und dessen Entstehungsgeschichte, soweit sie hinreichend sicher nachvollzogen werden kann, durchaus wichtig für das Zustandekommen unserer Verfassung.
Wenn wir auch nicht mit Sicherheit wissen, welchen Vorentwurf Süsterhenn dem Ausschuß vorgelegt hat, so spricht doch alles dafür, daß es sich hierbei um den uns in mehreren Durchschlägen erhalten gebliebenen, undatierten „Entwurf der Verfassung für Rheinland-Pfalz“ handelt, der aufgrund eines Ubersendungsschreibens an den späteren Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz Peter Altmeier auf den 27. September 1946 datiert werden kann.(14)
Dieser Entwurf besteht aus zwei Hauptteilen. Der erste Hauptteil enthält die Grundrechte und Grundpflichten und gliedert sich in die Abschnitte 1: „Die Einzelperson“, mit den Unterabschnitten.,, Freiheitsrechte, Gleichheitsrechte und Pflichten des Staatsbürgers“, II „Ehe und Familie“ und V „Selbstverwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände“. Der zweite Hauptteil ist bis auf die Übergangs- und Schlußbestimmungen komplett und gliedert sich in die Abschnitte 1 „Die Grundlagen des Staates“, II „Der Landtag“, III „Der Staatsrat“, IV „Staatspräsident und Staatsregierung“, V „Gesetzgebung“, VI „Das Finanzwesen“, VII „Rechtsprechung“ und VIII „Die Verwaltung“. Damit war der Entwurf noch nicht vollständig, insbesondere fehlten vom ersten Hauptteil die Abschnitte III „Schule, Bildung und Kulturpflege“, IV „Religion und Religionsgemeinschaften“ und VI „Die Wirtschafts- und Sozialordnung“.
Anhand weiterer überlieferter Detailentwürfe lassen sich die Vorstadien dieses Entwurfs in den Grundzügen feststellen.
Ausgangspunkt des Entwurfs vom 27. September 1946 war ein ebenfalls undatierter, maschinenschriftlicher Detailentwurf für den zweiten Hauptteil. (15) Er beschäftigt sich in seinem ersten Abschnitt, dem IV. Abschnitt, mit dem Staatspräsidenten und der Staatsregierung. Diese Thematik verwundert schon ein wenig, denn das Amt des Staatspräsidenten - in Anlehnung an das des Reichspräsidenten während der Weimarer Republik - erscheint für ein so kleines Land wie das künftige Rheinland-Pfalz nicht nur übertrieben, sondern - selbst mit Blick auf gewisse Modifikationen - angesichts des Scheiterns der Weimarer Republik ein nicht unproblematischer Ausgangspunkt für eine Arbeit an der neuen Verfassung. Eine Erklärung findet diese Vorgehensweise aber darin, daß der Detailentwurf zum zweiten Hauptteil weitgehend den Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung aus dem Jahre 1919 entsprach. Die einzelnen Ziffern des V. Abschnittes folgten nämlich dem Aufbau des III. Abschnittes des ersten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung (Artikel 41 ff) fast durchgängig und enthielten vielfach wörtliche Ubereinstimmungen. Der Eindruck, daß in den Vorarbeiten des Entwurfs zumindest zu Beginn weitgehend auf die Regelungen in der Weimarer Reichsverfassung zurückgegriffen wurde, wird bestätigt durch den V. Abschnitt dieses Detailentwurfs „Gesetzgebung“, der sich stark an den V. Abschnitt des ersten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung „Die Reichsgesetzgebung“ (Artikel 68 ff) anlehnt.
Die weiteren Arbeiten an dem Entwurf - wie sie anhand von Korrekturen erkennbar sind - zeigen, wie man von den Vorschriften über den Staatspräsidenten und der Staatsregierung sowie der Gesetzgebung aus sich den zweiten Hauptteil „Aufbau und Aufgaben des Staates“ erarbeitete. Vorgeschaltet wurde diesen Abschnitten der 1. Abschnitt „Die Grundlagen des Staates“, der II. Abschnitt „Der Landtag“ und der III. Abschnitt „Der Staatsrat“ (16) Auch diese Gliederung folgt der Weimarer Reichsverfassung und weist Übereinstimmungen teilweise bis in die wörtlichen Formulierungen auf. Daß sie gleichwohl erst später erstellt wurden, erklärt sich daraus, daß sie Umarbeitungen der Vorlage erforderlich machten. So wurden gewisse politische Stabilisierungsmechanismen eingebaut (,‚um ein zweites Weimar zu verhindern“). Vor allem die Abschnitte „Die Grundlagen des Staates“ und „Der Staatsrat“ machten größere Abweichungen von dem Vorbild der Weimarer Reichsverfassung und damit mehr eigenständige Arbeit nötig. Ahnliches gilt für die weiteren Abschnitte VI „Das Finanzwesen“, VII „Rechtsprechung“ und VIII „Die Verwaltung“, wobei der Zeitpunkt deren Erstellung nicht hinreichend deutlich ist.
Dem so erarbeiteten zweiten Hauptteil des Entwurfs wurde dann für die Fassung vom 27. September 1946 der erste Hauptteil vorangestellt. Dieser weicht nicht nur hinsichtlich der Voranstellung der Grundrechte von der Weimarer Reichsverfassung ab, sondern auch durch die Betonung der Freiheitsrechte des Individuums. Die Formulierung der Freiheitsrechte sowie der II. Abschnitt „Ehe und Familie“ und der V. Abschnitt „Selbstverwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände“ heben sich doch klar von der Weimarer Reichsverfassung ab. Das erklärt auch ihre erst relativ späte Erarbeitung.
Anhand dieses privaten, maschinenschriftlichen Entwurfes vom 27. September 1946 und seiner Vorstadien kann im einzelnen nicht sicher abgeschätzt werden, welchen Anteil Süsterhenn einerseits und Biesten andererseits am Zustandekommen der Verfassung in dieser frühen Phase hatten. Sicherlich lag die Hauptarbeit - schon wegen dessen Vorbildung und Interesse - bei Süsterhenn; auch konnte er sich anders als Biesten, der kurz zuvor zum Präsidenten des Landesverwaltungsgerichts in Koblenz ernannt worden war und dem des weiteren die Leitung der Rheinischen Verwaltungsschule in Cochem oblag, dieser Aufgabe umfassender widmen.
Wegen der Dominanz Süsterhenns wird der private Entwurf vom 27. September 1946 im allgemeinen als der „Entwurf Süsterhenn“ bezeichnet (17) Damit wird aber weder deutlich, daß er in Unkel entstanden ist, noch, daß auch Biesten einen Beitrag hierzu geleistet hat. Von daher kann man diesen Entwurf auch als „Unkeler Entwurf“ bezeichnen.
Der „Unkeler Entwurf“ war nicht nur sehr umfangreich, sondern sah mit dem Staatsrat, einer weiteren, neben den Landtag tretenden zweiten, nach ständischen Gesichtspunkten zusammengesetzten Kammer sowie mit dem Amt des Staatspräsidenten (neben dem Ministerpräsidenten) - nach heutigem Verständnis - zusätzliche und nicht nötige Institutionen vor. Vor allem wegen dieser Punkte und der Präambel (,‚Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott als dem Urheber des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft“) rief er die Kritik der beiden SPD-Mitglieder und des KPD-Mitgliedes hervor. Eine wesentliche Änderung des Entwurfs war damit aber nicht verbunden. (18)
Im Zuge der weiteren Sitzungen des Unterausschusses für Verfassungsfragen kamen auch noch die Abschnitte III, IV und VI des ersten Hauptteils und die Übergangs- und Schlußbestimmungen des zweiten Hauptteils zustande. Am 25. Oktober 1946 verabschiedete dann der Unterausschuß für Verfassungsfragen mit einer Reihe von Anderungen diesen „Unkeler Entwurf“. Zum Abschluß der Beratungen erhielten der Ausschuß und Süsterhenn viel Lob für das „Monumentaiwerk“ (19) Der nunmehr amtliche Verfassungsentwurf wurde alsbald von der Gemischten Kommission und der inzwischen gebildeten provisorischen Landesregierung, der mittlerweile gewählten Beratenden Landesversammlung, deren Arbeit der Unterausschuß für Verfassungsfragen vorbereiten sollte, zugeleitet.
Die Wege Süsterhenns und Biestens trennten sich dann wieder. Süsterhenn war Mitglied der Beratenden Landesversammlung und auch führender Kopf in deren Verfassungsausschuß. Biesten blieb Präsident des Landesverwaltungsgerichts. In der Beratenden Landesversammlung trat er noch gelegentlich als sachverständiger Vertreter der vorläufigen Landesregierung von Rheinland-Pfalz auf.
Nach der Annahme der Landesverfassung, die vor allem wegen der Schulartikel später dann noch zu heftigen politischen Kontroversen führte, und nach der Wahl des ersten Landtages von Rheinland-Pfalz wurde Süsterhenn erster Justiz- und Kultusminister von Rheinland- Pfalz. Biesten wurde - kraft Verfassung - zugleich auch erster Vorsitzender (heute: Präsident) des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz. Süsterhenn zog nach Koblenz um, während Biesten mit seiner Familie in Unkel wohnen blieb. Ab Sommer 1948 war Süsterhenn dann noch ein wichtiges Mitglied des Herrenchiemseer Verfassungskonvents (eines Expertengremiums zur Vorbereitung des Grundgesetzes) und des Parlamentarischen Rates. Kurz vor Verabschiedung des Grundgesetzes erlitt er auf der Fahrt zum Parlamentarischen Rat am 5.Mai 1949 einen schweren Autounfall. Dessen gesundheitliche Folgen machten Süsterhenns große politischen Ambitionen weitgehend zunichte. Er blieb in Rheinland-Pfalz und verlor
nach den Landtagswahlen des Jahres 1951 sogar sein Ministeramt. Er wurde dann Nachfolger Biestens im Amt des Präsidenten des Landesverwaltungsgerichts und des Vorsitzenden des Verfassungsgerichtshofs, als dieser im Frühjahr 1951 mit Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand trat. Damit waren die beiden Verfasser des „Unkeler Entwurfs“ die beiden ersten Präsidenten des Landesverwaltungsgerichts und Vorsitzenden des Verfassungsgerichtshofs, mithin nacheinander die ersten höchsten Richter des neugeschaffenen Landes Rheinland-Pfalz.
Anmerkungen:
(1) Zur Biographie Süsterhenns: Winfried Baumgart: Adolf Süsterhenn (1905—1974), in: Jürgen Aretz/Rudolf Morsey/Anton Rauscher (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 6, Mainz 1984, S. 189—199; Helmut Mathy: Adolf Süsterhenn (1905—1974), in: Geschichte im Westen, Jg. 3 (1988), S. 203—217; ders.: „Die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern...“ Adolf Süsterhenn (1905—1974), der „Vater“ der rheinland-pfälzischen Verfassung, in: Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch zur Archäologie, Kunst und Geschichte, Jg. 83
(1988), S. 193—232
(2) Mündliche Auskunft von Herrn Dr. Jost Hausmann vom Landeshauptarchiv Koblenz anhand des Nachlasses Süsterhenn: Landeshauptarchiv Koblenz (LHA KO) Bestand 700,177 (der Nachlaß ist grundsätzlich noch gesperrt)
(3) Diese Straßenangabe ist erstmals ausdrücklich erwähnt im September 1945; Auskunft von Herrn Dr. Hausmann (Anm. 2) 4Briefwechsel mit dem Studienrat und langjährigen Generalsekretär des Rheinischen Zentrums Wilhelm Hamacher,
Troisdorf, LHA KO Bestand 700,177, Nr. 663 BI. 21 ff
(5) Adolf Süsterhenn: CDU und Landesverfassung. Erinnerungen an die Verfassungsarbeit der Jahre 1946/47. Manuskript, LHA KO Bestand 700,177, Nr. 293, Bl. 32 ff
(6) Zur Biographie Biestens: Joachim Hennig: Dr. Ernst Bieslen (1884—1953). Demokrat in vier Epochen. Frankfurt/M u.a. 1996 - Schriftenreihe des Ministeriums der Justiz/Rheinland-Pfalz, Band 4
(7) Mündliche Mitteilung von Biestens Tochter, Frau Irmingard Hattingen, Unkel
(8) Helmut Klaas (Bearb.): Die Entstehung der Verfassung für Rheinland-Pfalz. Eine Dokumentation, Boppard 1978 - Veröffentlichungen der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, Band 1-‚5.103
(9) Adolf Süsterhenn: CDU und Landesverfassung, a.a.O.
(10) Heinrich Küppers: Staatsaufbau zwischen Bruch und Tradition. Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz 1946—1955, Mainz 1990 - Veröffentlichungen der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, Band 14 -‚ 5. 133
(11) Helmut KJaas, a.a.O., 5. 105 ff.
(12) Helmut Klaas, a.a.O., 5. 108 ff.
(13) Adolf Süsterhenn: CDU und Landesverfassung, a.a.O.
(14) Vorhanden in: LHA KO Bestand 700,169, Nr. 134 = Bestand 700,177, Nr. 721
(15) LHA KO Bestand 700,177, Nr. 722
(16) Auch dieses Entwurfstadium befindet sich im LHA KO Bestand 700, 177, Nr. 722
(17) Helmut Klaas, a.a.O., 5.82 ff.
(18) Helmut Klaas, a.a.O., S.108 ff.
(19) Helmut Klaas, a.a.O., 5.121 ff.
Ende des Jahres 1998 hatte Hennig die Recherche zu NS-Opfern aus Koblenz und Umgebung dann so weit gefördert, dass er einzelne kurze Biografien vorstellen konnte. Das war auch sehr sinnvoll, konnte der Verein doch mit diesen Lebensbildern an weitgehend unbekannte Menschen erinnern und damit zugleich für das geplante Mahnmal werben. Die NS-Opfer erhielten damit einen Namen, ein Gesicht und eine Geschichte und machten damit deutlich, für wen das geplante Mahnmal errichtet werden sollte.
So wurde eine Artikelserie in der Rhein-Zeitung mit NS-Opfern aus Koblenz und Umgebung konzipiert, die bis zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar enden und nach dem 9. November, dem Gedenktag an die Novemberpogrome 1938, beginnen sollte. Damit entstand die erste systematische und kontinuierliche Darstellung von Biografien Koblenzer NS-Opfer.
Die Artikelserie mit den Lebensbildern von acht NS-Opfern aus Koblenz und Umgebung begann in der Koblenzer Ausgabe der Rhein-Zeitung vom 28. Dezember 1998 und endete mit der Ausgabe vom 23./24. Januar 1999.
Die Serie startete mit einem einführenden Beitrag in der Rhein-Zeitung vom 28. Dezember 1998.
Ebenfalls in der Ausgabe vom 28. Dezember 1998 startete die Reihe mit einem Porträt von P. Franz Reinisch von der Schönstatt-Bewegung.
Pater Franz Reinisch: "Einem Verbrecher einen Eid leisten? -Niemals."
Während des "Dritten Reiches" wurden im Rheinland viele katholischen Priester, Ordensleute und auch Laien wegen ihres Glaubens verfolgt. Auf ihrem Rücken trugen die Nazis ihren "Weltanschauungskampf" gegen die katholische Kirche aus. Dabei blieben die Priester ohne wirkliche Unterstützung ihrer Kirche. Sie waren "Märtyrer ohne Auftrag".
Unter diesen Opfern nahm Franz Reinisch eine Sonderstellung ein. Er ließ sein Leben für seinen Glauben und war zudem ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus.
1903 in Feldkirch/Österreich geboren studierte er Rechtswissenschaften und Theologie. Er trat in den Pallotiner-Orden ein und kam in den 30er Jahren zur Schönstatt-Bewegung in Vallendar-Schönstatt. Dort gehörte er zum engsten Kreis um deren Gründer Pater Josef Kentenich.
Als Hitler im Jahre 1939 den Zweiten Weltkrieg entfesselte, stand für Pater Reinisch bald fest, bei einer Einberufung zum Kriegsdienst den Fahneneid, den Eid auf Hitler persönlich, nicht zu leisten. Schon 1939 sagte er in Schönstatt: "Den Soldateneid auf die nationalsozialistische Fahne, auf den Führer, darf man nicht leisten. Das ist sündhaft. Man würde ja einem Verbrecher einen Eid geben."
Im April 1942 erhielt er den Gestellungsbefehl und verweigerte dann, obwohl er sich immer wieder prüfte, konsequent den Eid. Deshalb machte man ihm drei Monate später vor dem höchsten deutschen Militärgericht, dem Reichskriegsgericht in Berlin, den Prozeß. Die Anklage lautete auf "Zersetzung der Wehrkraft".
Das Verfahren war wie in vielen anderen Fällen eine Farce. Es ging den Richtern - Juristen und hohen Militärs - nicht um die Wahrheitsfindung, sondern nur um ein "Verurteilen" und "Ausmerzen" eines Andersdenkenden. Als Pater Reinisch seine Beweggründe vor dem Reichskriegsgericht darlegen wollte, unterbrach ihn der Vorsitzende mit den Worten: "Halten Sie keine kirchliche Propagandarede. Wir sind kein Kirchengericht, sondern ein Kriegsgericht!"
Das von Anfang an feststehende Urteil lautete auf Todesstrafe und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit. In den Urteilsgründen hob das Gericht zu allem Überfluß auch noch hervor, daß die kirchlichen Oberen nicht zu ihm gestanden hätten. Tatsächlich hatte ihn der Orden wegen seiner Haltung aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.
Auch nach dem Urteil ließ sich Pater Reinisch durch niemanden von seiner Überzeugung abbringen, obwohl dies sicherlich sein Leben gerettet hätte. Für die Verweigerung des Eides auf Hitler persönlich starb er den Märtyrertod. In großer Glaubens- und Gewissenstreue hat er den Tod angenommen und dies in seinem selbstverfaßten Sterbelied in die Worte gefaßt: "Auch heute ruft Gott wieder nach einer Heldenschar; drum bringe mich, o Mutter, als Liebesopfer dar." Am 21. August 1942 um 5.03 Uhr wurde Pater Franz Reinisch im Zuchthaus Brandenburg durch das Fallbeil hingerichtet. In dieser Nacht wurden dort insgesamt sieben Todesurteile vollstreckt.
Seine sterblichen Überreste sind neben der Schönstätter Gnadenkapelle beigesetzt. Sein Leben ist in mehreren Büchern beschrieben über ihn beschrieben. Auch sonst ist er nicht vergessen. In Bruchsal, Bad Kissingen, Friedberg bei Augsburg und in einer Wallfahrtskirche bei Schwäbisch-Gmünd erinnern Gedenkplaketten und -tafeln sowie in einer Abteikirche bei Höxter ein Gedenkstein an ihn. Auch Vallendar hat Pater Reinisch nicht vergessen. Vor einem halben Jahr hat der Stadtrat beschlossen, eine der beiden nächsten neuen Straßen nach ihm zu benennen.
Joachim Hennig in Rhein-Zeitung vom 28.Dezember 1998