Karl Zenner (1899 - 1969)
Der im Kreis Saarlouis geborene Zenner war nach Schulzeit in Brohl und Andernach Soldat im I. Weltkrieg und im Freikorps im Baltikum. Als Diplom-Kaufmann arbeitete er als Angestellter bei der Brohltal AG in Burgbrohl. Schon früh trat er der NSDAP und der SS bei. Seit 1926 war er ein wichtiger SS-Führer in Koblenz und im ganzen Rheinland. Als Abgeordneter des Wahlkreises Koblenz-Trier war er ab 1932 Mitglied des Reichstages. 1937 wurde er Polizeipräsident von Aachen, später Generalmajor der Polizei und SS-Brigadeführer. Im Sommer 1941 ernannte man ihn zum SS- und Polizeiführer für Weißrussland in Minsk. Als solcher war er verantwortlich für die Ermordung von mehr als 6.000 Juden aus dem Ghetto in Minsk. Nach Ablösung von dem Posten wegen angeblicher Inaktivität bei der „Partisanenbekämpfung“ war er bis Kriegsende im SS-Hauptamt in Berlin tätig. 1961 verurteilte ihn das Landgericht Koblenz wegen Beihilfe zum Mord an den Minsker Juden zu 15 Jahren Zuchthaus. Als freier Mann starb er 1969 in Andernach.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich sehr, Sie heute zum zweiten Vortrag der dreiteiligen Reihe über NS-Täter aus Koblenz und Umgebung begrüßen zu können. Das letzte Mal vor zwei Wochen habe ich den Gauleiter Josef Grohé hier porträtiert. Grohé gehörte zum Führungskorps der NSDAP und war fanatischer Gefolgsmann Hitlers, ein ganz übler Agitator und Verleumder. Aber: Unmittelbar Blut hat an seinen Händen nicht geklebt. Diesmal möchte ich Ihnen den SS-Führer Karl Zenner präsentieren. Bei ihm war es anders. An seinen Händen klebte Blut – viel Blut.
Aber lassen wir hier zu Beginn Carl Zenner selbst zu Wort kommen. Im Oktober 1944 schrieb er – in einer für ihn schwierigen Situation – an den Reichsführer-SS Heinrich Himmler in abgehackt-militärischer Sprache folgendes:
Ich habe mir im Einsatz für Führer und Volk schon viel gefallen lassen müssen, und es gehört wohl schicksalsmäßig dazu, dass ein Kämpferleben, welches auf Adolf Hitler ausgerichtet ist, viel Bitteres und Verdächtigungen für seinen gerechten Einsatz erfahren muss. Traurig ist, dass ich gezwungen bin, zu meiner Verteidigung heute zur Beurteilung meiner Person folgendes zu sagen:
Ich bin Weltkriegssoldat – Mazedonien, Türkei, westlicher Kriegsschauplatz, Baltikumkämpfer – Aktivist in der Niederschlagung des Separatistenaufstandes im Rheinland, wirksamer Saboteur während der Besatzung des Rheinlandes, zweimal französisches Kriegsgericht (Koblenz und Mainz), Gründer der SA und SS im heutigen Gau Moselland bzw. auch teilweise Köln-Aachen, sehr viele Ortsgruppen gegründet, in mehreren hundert Versammlungen gesprochen, erwerbslos geworden, hunderten von Menschen das Gerechtigkeitsgefühl gestärkt durch selbstlose Hilfe, als SS-Führer meine Pflicht getan, als Polizeipräsident von Aachen gewirkt, meinen Einsatz im Osten gegeben, meine Sippe hart durch die jetzigen Kriegsereignisse schon angeschlagen, dazu ist meine Gesundheit nun auch nicht mehr die beste – alles Hinweise, die meine selbstlose, einfache und einsatzbereite Lebenshaltung zeigen.
So weit Karl Zenner im Oktober 1944. Aber auch ein „Kämpferleben, welches auf Adolf Hitler ausgerichtet ist“, fing einmal klein an. Und so wollen wir auch mit Karl Zenner, der einmal so selbstlos wurde, anfangen, als er noch ganz klein war.
Geboren wurde Karl Zenner am 11. Juni 1899 in Oberlimberg, im damaligen Kreis Saarlautern bzw. Saarlouis als Sohn von Peter Zenner und seiner Frau Barbara, geb. Fischer. Zunächst besuchte er die Volksschule in Oberlimberg. Sein Vater war Steinbruchverwalter bzw. Betriebsdirektor. Aufgrund des Berufs kamen die Eltern alsbald an den Rhein. Sie zogen nach Brohl. Dort besuchte Karl Zenner noch eine Zeitlang die Volksschule. Alsbald wechselte er auf das Gymnasium nach Andernach. Mit 18 Jahren und der sog. Primareife verließ Zenner das Gymnasium und meldete sich als Kriegsfreiwilliger. Am 20. Juni 1917 trat er in das Fußartillerie-Regiment 9 in Ehrenbreitstein ein. Den Ersten Weltkrieg erlebte er noch im türkischen Kriegsgebiet und an der Westfront. Von langer Dauer war der Kriegsdienst nicht, denn bereits am 11. November 1918 kapitulierte bekanntlich das Deutsche Reich. Aber immerhin erhielt Zenner das Eiserne Kreuz II. Klasse und das Ehrenkreuz für Frontkämpfer.
Auch nach dem Waffenstillstand war er bei der Truppe. Im Januar 1919 meldete er sich dann als Freiwilliger bei der Brigade Nordlitauen AOK Nord. Schon bald – ab Mitte April 1919 – war er zur Werbestelle Hamburg AOK abkommandiert. Dort war er zur Niederschlagung des Spartakus eingesetzt. Anschließend war er noch eine Zeitlang bei der Brigade Nordlitauen und wurde dann Ende September 1919 auf eigenen Wunsch als Gefreiter entlassen.
Zenner kehrte ins Rheinland zurück, studierte an der Handelshochschule und der Universität in Köln Volks- und Betriebswirtschaft. Ende 1921 legte er die Prüfung zum Diplom-Kaufmann ab. Anschließend war er bis Ende 1931 Angestellter und später Abteilungsleiter bei der Brohltal AG in Burgbrohl.
Seine militärische bzw. paramilitärische Art hat sich Zenner aber erhalten. Wie er später sagte, hat er im Jahr 1923 an der Niederwerfung der Separatisten im Rheinland teilgenommen. Bekanntlich marschierten französische und belgische Truppen im Januar 1923 in das Ruhrgebiet ein. Anlass dafür war, dass die Deutschen angeblich die Reparationsleistungen nicht einhielten. Der Einmarsch verursachte in der Bevölkerung große Erregung und die Reichsregierung rief auch offiziell zum passiven Widerstand auf. Als daraufhin die deutsche Wirtschaft immer zerrütteter wurde und zudem im Rheinland Separatistenunruhen begannen, verkündeten am 26. September 1923 Reichspräsident Friedrich Ebert und die Reichsregierung unter dem Reichskanzler Gustav Stresemann, das Ende des passiven Widerstands. In rechtsgerichteten Kreisen wurde dies allgemein als feige Kapitulation empfunden.
Schon sehr bald war Zenner für die NSDAP tätig. In seinem Lebenslauf gab er „Februar 1925“ an. Das war die Zeit des Neuaufbaus der NSDAP. Ich darf da noch einmal kurz erinnern: Im Dezember 1924 war das Verbot der NSDAP in Preußen aufgehoben worden, eine Woche später entließ man Hitler aus seiner Festungshaft in Landsberg und Ende Februar 1925 hatte Hitler dann die NSDAP wieder neu gegründet.
Offiziell war Zenner am 7. August 1925 in die NSDAP eingetreten. Er erhielt die niedrige Mitgliedsnummer 13.539. Er war als Politischer Leiter in dem Bezirk Koblenz-Trier-Birkenfeld tätig. Außerdem war er Ortsgruppenleiter der Ortsgruppe Koblenz der NSDAP – bis er im März 1927 vom Gauleiter Ley wegen angeblicher Unfähigkeit in dieser Funktion entlassen wurde.
Von Anfang an war Zenner Mitglied der SA. Das war eine typische Entwicklung, wie es sie immer wieder gab - wir haben sie im letzten Jahr auch in der Biografie von Robert Ley angetroffen. Anfangs rekrutierte sich die SA aus den aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrten Soldaten. Durch Krieg und Bürgerkrieg waren diese jungen Männer aufgewühlt, hatten noch den „Frontgeist“ und die „kämpferische Gesinnung“ und die Freund-Feind-Situation des Krieges in ihren Köpfen. Sie verlängerten all dies in ihre Nachkriegsbiografie hinein – etwa auch, indem sie – wie Zenner und Ley – als Mitglieder von Freikorps in paramilitärischen Organisationen weiter tätig waren und Krieg und auch Bürgerkrieg gegen die „Roten“ spielten. Entweder unmittelbar danach – oder wie bei Zenner und bei Ley – nach einer gewissen „bürgerlichen“ Phase setzten sie diesen militanten Aktivismus in der Nazi-Bewegung, insbesondere in der SA fort.
Die SA hatte damals vor allem die Aufgabe des sog. Versammlungsschutzes: Dazu gehörte sowohl die Unterdrückung jedweder Opposition in den eigenen Veranstaltungen als auch die gewaltsame Sprengung der gegnerischen Veranstaltungen. Die SA trat bei ihren Aufzügen u.a. betont militärisch und rücksichtslos im Vorgehen gegen politische Gegner auf und demonstrierte damit Stärke und Geschlossenheit des Nationalsozialismus. Die SA war damit wesentlicher Bestandteil eines unverwechselbaren politischen Agitationsstils, wie in die Nazis erstmalig in Deutschland einführten.
In dieser Truppe machte Zenner schnell Karriere. Er war es, der die SA im Rheinland aufbaute. Schon bald war er Führer, dann Oberführer und dann SA-Standartenführer (in der letztgenannten Funktion schied er dann auch 1928 aus der SA aus). Diese Funktionen darf man allerdings nicht überbewerten. Der Organisationsgrad der NSDAP und erst recht der SA war zu dieser frühen Zeit außerhalb von Bayern und zumal im Rheinland noch recht gering. Da war man schnell an der Spitze – so viele Leute gab es da nicht. Aber immerhin: Zenner war sehr früh und an führender Stelle dabei.
Die SA war aber letztlich nicht das, was Zenner suchte. Der sich mit dem politischen Gegner herumprügelnde Saalschutz war nicht seins. Schon bald fand er ein anderes Betätigungsfeld – nämlich die SS. Im November 1925 wurde die „Schutzstaffel“ (SS) als weitere Parteitruppe geschaffen. Sie stand in der Tradition Hitlers alter Leibgarde, dem „Stoßtrupp Hitler“, und war enger auf seine Person ausgerichtet als die SA. Hitler beschrieb die Entstehung der SS später einmal so:
Ich sagte mir damals, dass ich eine Leibwache brauchte, die, wenn sie auch klein war, mir bedingungslos ergeben wäre und sogar gegen ihre eigenen Brüder marschieren würde. Lieber nur zwanzig Mann aus einer Stadt – unter der Bedingung, dass man sich absolut auf sie verlassen konnte -, als eine unzuverlässige Masse.
Damals kann im Rheinland von „20 Mann“ noch keine Rede gewesen sein. Zenner war wohl der erste und zunächst der einzige SS-Mann im Rheinland. Schon kurze Zeit nach Gründung der SS war er dann im nächsten Jahr – 1926 – damit beschäftigt, aus der SA im Rheinland die SS aufzubauen. Bereits am 16. April 1926 wurde er Angehöriger der SS, seine offizielle Bestätigung erfolgte am 1. August 1926. Seine Mitgliedsnummer war 176 – also sehr niedrig. Zum Vergleich: Der spätere Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler hatte die Mitgliedsnummer 168. Zenner und Himmler waren also zur gleichen Zeit in die SS eingetreten. Noch im selben Jahr wurde Zenner stellvertretender SS-Führer des Gaues Rheinland.
Die Aufbauarbeit war mühsam. Immer wieder legte sich Zenner dabei auch mit der französischen Besatzungsmacht hier im Rheinland an. So stand er im April 1927 in Koblenz vor dem französischen Kriegsgericht, er wurde aber freigesprochen. Sechs Wochen später war er vor einem anderen französischen Kriegsgericht in Mainz angeklagt. Da wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt. Zenner war übrigens auch an dem „Schwarzen Sonntag von Nastätten“ am 6. März 1927 beteiligt, von dem ich bei dem Vortrag über Josef Grohé berichtete. Er war einer der 69 Nazis, die der Koblenzer Polizeichef Biesten an der Stadtgrenze festnehmen und in Untersuchungshaft nehmen ließ.
Schwierigkeiten hatte Zenner aber nicht nur mit der französischen Besatzungsmacht und der deutschen Polizei. Es gab auch interne Schwierigkeiten. Die Probleme lagen darin, dass in dieser Frühzeit die NSDAP hier im Rheinland noch schwach und der Gau Rheinland mit den Städten Köln, Aachen, Koblenz, Trier und Birkenfeld recht groß und von unterschiedlicher Struktur war. Da und dort gab es einzelne Leute, auch einzelne Scharen und Trupps, in der späteren Zeit sogar den einen oder anderen Sturm. Zenner wurde Führer des SS-Sturms 22 („Koblenz“). Zugleich bildete er aus diesen Gruppen und Grüppchen noch eine größere Einheit – die SS-Standarte VII „Rheinland“. Den Sturm „Koblenz“ unterstellte er der Standarte „Rheinland“. Und Anfang April 1930 wurde Zenner als frisch ernannter SS-Untersturmführer Führer des SS-Sturms 22 „Koblenz“ und dann auch Führer der SS-Standarte „Rheinland“.
Damit hatte Zenner Anfang 1930 einen wesentlichen Sprung auf der Karriereleiter gemacht und die SS im Rheinland ein gutes Stück nach vorn gebracht.
Die Entwicklung aus kleinen Gruppen und Grüppchen heraus zeigte sich etwa auch am Besuch der NSDAP-Reichsparteitage. Während Zenner am Parteitag der NSDAP im Jahr 1926 in Weimar mit 5 SS-Männern teilnahm, waren es beim nächsten Parteitag im Jahr 1927 in Nürnberg schon 27 Mann. Bei den Parteitagen ab 1929 waren es dann so viele, dass der Chronist die Zahl nicht mehr exakt nennen konnte.
Zur gleichen Zeit war Zenner auch noch Reichs- und Gauredner. Da er insbesondere bei den Wahlkämpfen aktiv war – und es damals immer wieder Wahlkämpfe gab – hatte er ganz schön zu tun. Ein großer Redner war Zenner wohl nicht. Über eine Versammlung mit ihm im Dezember 1928 in Koblenz berichtete der Koblenzer Regierungspräsident wie folgt:
Seine Ausführungen gaben im Allgemeinen das Programm der Nationalsozialisten wieder. Sie waren ohne irgendeinen Zusammenhang. Für die Nichtkenner musste es unbedingt auffallen, dass er als Neuling sprach. Interessantes oder Bemerkenswertes ist aus seiner marktschreierischen Rede nicht zu erwähnen.
Eine besondere Rednergabe hatte Zenner danach nicht. Aber damals gab es im Rheinland noch so wenige NS-Aktivisten, dass die Partei jeden Mann brauchte – zumal Hitler zunächst auch noch Rednerverbot hatte, in Preußen bis September 1928.
In den genannten Funktionen war Zenner ganz schön ausgelastet – zumal in der Endphase der Weimarer Republik die politischen Verhältnisse immer unruhiger, unüberschaubarer und hektischer wurden und immer wieder Wahlen stattfanden. Und dabei waren das noch nicht einmal Zenners sämtliche Funktionen. Außerdem war er nämlich Mitglied des Gemeinderates sowie Vertreter des Bürgermeisters und Mitglied des Kreistages von Ahrweiler.
Zudem stieg Zenner in der SS weiter auf. Im Jahr 1931 wurde er erst mit der Verwaltung und dann mit der Führung der 5. SS-Brigade beauftragt. Zugleich wurde er zum SS-Standartenführer befördert. Bedenkt man, dass er im „Zivilberuf“ immerhin den anspruchsvollen Beruf eines Abteilungsleiters bei der Brohltal AG in Burgbrohl hatte, dann kann man sich die Arbeitsbelastung ungefähr vorstellen. Da fügte es sich dann, dass Zenner ab dem 1. Januar 1932 erwerbslos wurde. In seinem Lebenslauf erklärte er das damit, dass er das freiwillig wurde, um einem Familienvater mit 12 Kindern Brot und Arbeit zu erhalten.
Die Erwerbslosigkeit war für Zenner aber wohl nicht so schlimm. Auf diese Weise konnte er sich um die Partei und die SS kümmern. Bei den vorgezogenen Wahlen zum Reichstag am 31. Juli 1932 gelang es ihm, Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis 21 (Koblenz-Trier) zu werden. Das Mandat verlor er zwar bei den nächsten Reichstagswahlen im November 1932. Aber dann war die Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 nicht mehr weit. Und bei den nächsten Reichstagswahlen, den letzten „halbwegs legalen“ Wahlen am 5. März 1933 war Zenner dann wieder Reichstagsabgeordneter – diesmal „auf Lebenszeit“ - auf Lebenszeit deshalb, weil es keine Wahlen zum Reichstag mehr gab, sie wurden einfach abgeschafft.
Die Machtübernahme der Nazis beflügelte Zenners Karriere. Er wurde nicht nur Reichstagsabgeordneter. Eine Herausforderung für ihn brachte auch die Teilung der von ihm geführten 7. SS-Standarte am 1. April 1933. Aus ihr entstanden zwei SS-Standarten: die 5. und die 58. SS-Standarte. Zenner übernahm die 5. SS-Standarte („Brohl“) und musste dann sehen, dass er diese nach der „Zellteilung“ zahlenmäßig wieder auf die Höhe brachte. Das gelang ihm ersichtlich auch. Dabei wurde auch der Reichsführer-SS Heinrich Himmler auf Zenner aufmerksam. Himmler hatte inzwischen seine Macht maßgeblich erweitert. Er war als Polizeichef von München nach Berlin gegangen und wurde am 22. April 1934 formell stellvertretender Chef und Inspekteur der Geheimen Staatspolizei in Preußen, Reinhard Heydrich wurde Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes (Gestapa) in Berlin. Genau in dieser Zeit der Umorganisation und des Machtzuwachses für Himmler wurde Zenner Ende April 1934 – mit Wirkung vom 1. April 1934 – zum Führer des SS-Abschnitts 4 in Braunschweig berufen und zum SS-Oberführer befördert.
Dann kam für den so titulierten „leidenschaftlichen Vorkämpfer der nationalsozialistischen Weltanschauung in der Westmark“ der Abschied von seiner 5. SS-Standarte. Damit das nicht so trocken würde, verlegte man die Veranstaltung in gastliche Räume. Der Pressereferent der 5. SS-Standarte berichtete darüber wie folgt:
Aus diesem Anlass gab Oberführer Zenner dem Führerkorps der 5. SS-Standarte am Samstag einen Abschiedsabend in den gastlichen Räumen der Schultheis-Brauerei in Weißenthurm, der durch das kameradschaftliche Entgegenkommen des Besitzers, des SS-Sturmmannes Schultheis, ermöglicht wurde. Die gesamten Führer waren zu diesem Abend erschienen, um zum letzten Male einige Stunden echter Kameradschaft und Verbundenheit mit ihrem alten Staf zu verleben. In seiner Ansprache gab der Adjudant der 5. SS-Standarte, SS-Sturmbannführer Jacobi, einen kurzen Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung der Standarte, sprach dem SS-Oberführer den Dank sämtlicher Angehöriger der Standarte aus und schloss mit einem begeistert aufgenommenen „Sieg Heil“ auf Oberführer Zenner.
Nach einigen flotten Marschweisen ergriff dann Oberführer Zenner das Wort. Er erinnerte an die Jahre der Kampfzeit, schilderte den Aufbau und das Wachsen der 5. SS-Standarte und dankte allen Angehörigen der Standarte für ihre Mitarbeit, insbesondere aber auch dem unbekannten SS-Mann, der getreu dem Wahlspruch der SS: „Meine Ehre heißt Treue“ seinen Dienst tut.
Inzwischen war auch der Führer des SS-Oberabschnitts „Rhein“; SS-Gruppenführer Heißmeyer mit seinem Stabsführer; SS-Sturmbannführer Greifeld, eingetroffen. Noch lange saßen die SS-Führer mit ihrem alten Staf zusammen in echter Kameradschaft und Verbundenheit. Solange die 5. SS-Standarte besteht, wird der Name ihres Staf Zenner unzertrennlich mit ihr verbunden bleiben, vom Sturmbannführer bis zum letzten SS-Mann wird er jedem als Führer und guter Kamerad stets vor Augen stehen. Die 5. SS-Standarte aber wird ihrem Staf keinen größeren Dank abstatten können, als dass sie ihm die Versicherung gibt, den alten, revolutionären Geist hochzuhalten, treue SS-Männer und Kameraden zu bleiben und dadurch Führer, Volk und Vaterland zu dienen. Seinen Geist in der Standarte hochzuhalten, ist das Gelöbnis, das die Standarte ihrem alten Führer gibt und mit dem sie die aufrichtigsten Wünsche für sein ferneres Wirken und Wohlergehen verbindet.
Es war kein Zufall, dass sich Zenner mit diesem feuchtfröhlichen Kameradschaftsabend bei der Schultheis-Brauerei in Weißenthurm Ende April 1934 aus dem Rheinland verabschiedete und SS-Oberführer des SS-Abschnitts IV in Braunschweig wurde. Zuvor war der SA-Chef Röhm bei Hitler vorstellig geworden und verlangte für sich und seine SA größeren Einfluss und echte Führerstellungen. Er beanspruchte die Landesverteidigung als „Domäne der SA“. Hitler erteilte dem eine Absage, da er die Reichswehrführung nicht verprellen wollte. Er glaubte, seine Kriegspläne nur mit der Reichswehr verwirklichen zu können. Deshalb sollte Röhm „liquidiert“ werden – und Vollstrecker sollte die SS sein. Dementsprechend gewann der Reichsführer-SS weiter an Einfluss und ging daran, seine Schutzstaffel für den Schlag gegen die SA-Kameraden bereit zu machen. Genauso kam es ja dann auch Ende Juni/Anfang Juli 1934, Vollstrecker dieser mehr als 80 Morde war dann tatsächlich auch die SS.
1935 wurde Zenner dann noch Stabsführer des SS-Oberabschnitts Süd in München. In Braunschweig ließ man Zenner nur ungern gehen. In der „Dienstbescheinigung“ des Vorgesetzten, eines SS-Obergruppenführers, heißt es dazu:
Ich bescheinige hiermit dem SS-Oberführer Zenner, dass er vom 5. April 1934 bis 21. Januar 1935 den SS-Abschnitt IV geführt hat. Der SS-Oberführer Zenner hat diese schwere Aufgabe mit eisernem Fleiß, sehr viel Geschick und großem Erfolg geleistet. Stets einsatzbereit, ausgezeichneter Kamerad zu Führern und Männern hat er sich in der Zeit seiner Tätigkeit im Bereich des SS-Abschnitts IV das volle Vertrauen von Vorgesetzten und Untergebenen erworben. In seinem persönlichen Leben war SS-Oberführer Zenner ein Vorbild für jeden SS-Angehörigen.
Zenner hatte sich als SS-Führer etabliert. Auch privat hatte sich das eine oder andere gefügt. Im November 1933 hatte er die sechs Jahre jüngere Anna Eichhoff geheiratet. Sie war ebenfalls Parteigenossin – immerhin mit der NSDAP-Mitgliedsnummer 178.257. Aktiv war sie in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV). Aus dieser Ehe gingen insgesamt drei Kinder hervor, zwei in den Jahren 1936 und 1938 geborene Söhne und nach Kriegsende – 1945 – als Nachzüglerin eine Tochter. 1936 trat Zenner aus der katholischen Kirche aus und war dann nur noch „gottgläubig“ – wie es damals so hieß.
Inzwischen hatte er stattdessen Insignien der SS erhalten: den Ehrendolch, den Totenkopfring, den Ehrendegen und zum „Julfest“ 1935 den „Julleuchter“. Diese Auszeichnungen sollten einen Korpsgeist begründen und befördern, den SS-Männern ein Elitebewusstsein vermitteln. Himmler wollte damit seine SS-Leute noch enger an sich und seine SS binden. Die SS organisierte er wie einen Orden. Den Einstieg bildete der Ehrendolch, den jedes junge SS-Mitglied erhielt. Für bewährte SS-Männer gab es einen silbernen Ring mit dem SS-eigenen Miniatur-Totenkopf. 1939 besaß den Ring fast jeder SS-Führer, der eine dreijährige Führerposition nachweisen konnte. Exquisiter war der Ehrendegen. Er wurde nur an SS-Männer ab Untersturmführer verliehen und das ausschließlich nach Himmlers Willkür und Huld. Der Degen sollte anzeigen, wen Himmler zu den oberen Tausend des Ordens zählte. Den Julleuchter gab es zum „Julfest“, zu dem die Nazis das christliche Weihnachtsfest umgestaltet hatten. Der Julleuchter sollte etwas für die Frau des SS-Manns und ihr Herz sein. Himmler meinte dazu: „Gerade die Frau will ja, wenn sie den Mythos der Kirche verliert, irgend etwas anderes haben, was ihr und das Gemüt und Herz des Kindes ausfüllt.“ Und dafür gab es eben das Julfest als Weihnachtsersatz und den Julleuchter für verdiente SS-Leute.
Zu diesem „Orden“ konnte aber nur gehören, wer auch „rasserein“ war – und zwar nicht nur in seiner Person, sondern in der der Ehefrau. Denn schließlich musste man ja auch an die Kinder und die nachfolgenden Generationen denken. Dazu hatte der Reichsführer-SS schon zur Jahreswende 1931/32 einen Heiratsbefehl herausgegeben, der allen SS-Mitgliedern die Pflicht auferlegte, „einzig und allein nach rassischen und erbgesundheitlichen Gesichtspunkten“ und nur mit Genehmigung des Rasseamtes der SS oder Himmlers zu heiraten. Dabei war Himmler natürlich klar, dass diese „Rassereinheit“ nicht sofort verwirklicht werden konnte. Schließlich hatten sich Männer der SS angeschlossen gehabt, ohne dass diese Gesichtspunkte berücksichtigt wurden. Das sieht man etwa auch an Zenner selbst – so richtig germanisch-nordisch sah er ja nicht aus. Überdies musste eine Organisation wie das Rasseamt der SS erst einmal aufgebaut werden. Das geschah dann auch und Anfang 1935 wurde es als SS-Hauptamt mit der Bezeichnung Rasse- und Siedlungshauptamt geführt. 1936 war dann auch der „Alte Kämpfer“ Zenner dran. Da verlangte das Rasse- und Siedlungshauptamt auch von ihm den „Ariernachweis“, die Ahnentafel. Während Zenner der Nachweis ohne Probleme gelang, gestaltete er sich für seine Ehefrau schwierig. Dabei spielte auch eine Rolle, dass für die Zugehörigkeit zur SS nicht der Ariernachweis bis zu den Großeltern genügte. Es genügte nicht einmal – was für die Erbhofbauern erforderlich war – der Nachweis der arischen Abstammung bis ins Jahr 1800, sondern musste – schließlich war man Elite – der Ariernachweis für die SS-Führer mindestens bis ins Jahr 1750 geführt werden. So um 1800 klemmte es bei Zenners Ehefrau. In einem Zwischengutachten des Rasse- und Siedlungshauptamtes heißt es u.a.:
In der Ahnentafel der Ehefrau des SS-Oberführers Zenner befindet sich unter Nr. 30 ein Johann Vihl, Handelsmann, geboren und wohnhaft zu Brohl. Genannter Vihl ist der Sohn eines Handelsmannes Peter Vihl und dessen Ehefrau Sibilla Reichelstein, beide verstorben zu Brohl.
Da bei dem Namen Reichelstein Judenverdacht besteht, zumal gerade in der Gegend Bonn-Brohl-Andernach starke Judenansammlungen sind, teilweise bereits Mitte des 16. Jahrhunderts, der Name Reichelstein auch auf ein Herkommen aus dem Orte Reichenstein in Hessen ableitet, teilte ich meine Bedenken der Reichsstelle für Sippenforschung mit, die sich aufgrund anliegenden Gutachtens meinen Bedenken anschloss. Die Reichsstelle für Sippenforschung wird durch den zuständigen Referenten in dieser Angelegenheit weitere Ermittlungen vornehmen.
Wie das weiter ging, wissen wir leider nicht. Das erwähnte Gutachten der Reichsstelle für Sippenforschung wurde jedenfalls im Geheimschrank beim Stabsführer in Berlin deponiert. Nicht bekannt ist auch, ob Zenner wegen dieses „Ariernachweises“ für seine Ehefrau Schwierigkeiten bekam.
Zwar wurde Zenner ab 15. Januar 1937 noch Führer im SD-Hauptamt in Berlin, aber dann erhielt seine Karriere im März 1937 einen Knick. Der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler – er war inzwischen ja beides, sowohl Spitze der SS auch Chef der deutschen Polizei – erteilte in seiner Eigenschaft als Reichsführer-SS Zenner eine Verwarnung (Missbilligung) und berief ihn als Führer im SD-Hauptamt in Berlin ab. Als Chef der deutschen Polizei sorgte Himmler weiter dafür, dass der Reichs- und Preußische Innenminister Frick Zenner unter Berufung in das Beamtenverhältnis und unter Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs zum stellvertretenden Polizeipräsidenten von Aachen ernannte. Seinem Arbeitszeugnis als Stabsführer des SS-Oberabschnitts merkt man diese Missbilligung Himmlers nicht ohne weiteres an - aber es klingt doch schon zurückhaltender und nicht so überschwänglich wie sonst. Darin heißt es u.a.:
SS-Oberführer Zenner hat nicht nur energisch und zielbewusst den Stab des Oberabschnitts geführt, sondern auch im Verkehr mit den unterstellten Dienststellen, den Parteidienststellen und staatlichen Ämtern und Behörden die erforderliche Umsicht unter Beweis gestellt.
Organisatorisch begabt war SS-Oberführer Zenner jederzeit in der Lage, den an einen Oberabschnitt gestellten Anforderungen bei Aufmärschen und im Sicherungsdienst gerecht zu werden.
Auch auf dem Gebiete der Schulung und Ausbildung in weltanschaulicher und sportlicher Hinsicht, in SS-mäßiger Haltung und die Belange der Sondereinheiten betreffend hat SS-Oberführer Zenner stets seinen Mann gestanden.
SS-Oberführer Zenner verlässt seine Dienststellung, um als Polizeipräsident von Aachen in die Dienste der Polizei über zu treten.
Ich wünsche ihm für seine zukünftige Tätigkeit das Allerbeste und bin der Erwartung gewiss, dass SS-Oberführer Zenner als alter Kämpfer der Bewegung auch sein neues Amt in der gewohnt zufrieden stellenden Weise erfüllen wird.
Gezeichnet war dieses Arbeitszeugnis vom Führer des SS-Oberabschnitts Süd, dem SS-Obergruppenführer Freiherr von Eberstein.
Was genau Zenner als stellvertretender Polizeipräsident und später als Polizeipräsident von Aachen getan hat, ist nicht bekannt. Ein Schlaglicht auf sein Verhalten während der sog. Reichspogromnacht in Aachen wird noch ein Strafprozess nach dem Krieg werfen; darauf werde ich noch zurückkommen. Ansonsten gibt einen gewissen Eindruck von Zenners Wirken in Aachen ein Dankesschreiben des Regierungspräsidenten von Aachen an Zenner. Wie es darin heißt, „drängte“ es den Regierungspräsidenten, Zenner auf diese Weise seine besondere Anerkennung und seinen besten Dank für seine geleistete eifrige Arbeit und seine stets bewiesene Einsatzfreudigkeit auszusprechen. Weiter heißt es darin:
Von Anbeginn Ihrer hiesigen Tätigkeit im Jahre 1937 bis zu Ihrer Verwendung im Osteinsatz im August 1941 hat Ihre Amtsführung unter den Zeichen der schwierigsten Verhältnissen gestanden. Durch die besonders wirtschaftliche Notlage Aachens, die verwickelten und erschwerten Grenzverhältnisse zu Holland und Belgien, vor allem auch durch die starken konfessionellen Bindungen der hiesigen Bevölkerung sind Sie vor zahlreiche schwierige Aufgaben gestellt worden, die Sie aber alle mit Umsicht und Entschlossenheit in gerechter Weise zur Lösung gebracht haben. Ergaben sich für Sie bereits vor 1939 durch die unmittelbaren Kriegsvorbereitungen, wie Westwallbau und Evakuierungsmaßnahmen, Aufgaben größter Verantwortung, so wurden diese noch übertroffen durch jene Maßnahmen, die bei dem polizeilichen Sektor seit Beginn dieses Krieges notwendig waren.
Ihrer persönlichen Tatkraft ist es zu verdanken, dass in dem Luft-schutzort I, Ordnung Aachen geradezu vorbildliche Maßnahmen auf dem Gebiete des Luftschutzes getroffen worden sind. Darüber hinaus haben Sie sich stets in engster Zusammenarbeit mit allen beteiligten Stellen die tatkräftigste Bekämpfung und Beseitigung der durch die Luftangriffe hervorgerufenen Schäden, insbesondere bei dem großen Luftangriff vom 10. zum 11. Juli 1941 angelegen sein lassen.
Von den zahlreichen anderen großen Organisationsaufgaben, die an Sie herantraten und durch Sie in mustergültiger Weise erledigt wurden, erwähne ich nur die Durchschleusung der Truppen durch die Polizei, die durch Ihren Einsatz völlig reibungslos erfolgen konnte.
Durch Ihre ständige Sorge um eine geeignete und gute Unterbringung sowie eine ausreichende Versorgung und Verpflegung der Beamten der Schutzpolizei haben Sie sich darüber hinaus hier ein besonderes Verdienst erworben.
Nicht zuletzt darf ich Ihnen, Herr Zenner, für Ihre stets bewiesene kameradschaftliche Haltung auch meinen besonderen persönlichen Dank aussprechen.
Durch ihre Arbeit und Ihren Einsatz auf dem schwierigen Platz Aachen haben Sie mit dazu beigetragen, auch hier alle Voraussetzungen für einen glückhaften Ausgang dieses Krieges für unser Volk zu schaffen.
Unterdessen war Zenner an einem anderen Kriegsschauplatz tätig – nicht mehr im Westen, sondern im Osten, im sog. Osteinsatz. Im Osten konnte er seine Karriere als SS-Führer fortsetzen. Am 21. Juni 1941 wurde er zum SS-Brigadeführer befördert. Einen Tag später – am 22. Juni 1941 - hatte Hitler den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion („Unternehmen Barbarossa“) angezettelt. Und genau da sollte es für Zenner hingehen. Unter dem 12. August 1941 wurde er vom Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei unter vorläufiger Beurlaubung von seiner Verwendung als Polizeipräsident in Aachen eingesetzt als SS- und Polizeiführer im rückwärtigen Heeresgebiet 102 mit dem Dienstsitz in Minsk. Kaum war Zenner in Minsk, wurde er dann noch zum Generalmajor der Polizei befördert. Als er ein knappes Jahr später Minsk wieder verließ, dankte ihm der Generalkommissar für Weißruthenien Wilhelm Kube für seinen Einsatz, für seine – wie er es nannte – „fast durch ein ganzes Jahr bewährte Kameradschaft der Tat in Weißruthenien“ und erinnerte sich wie folgt:
Als wir gemeinsam am 1. September 1941 unser Amt aus den Händen des Führers hier übernahmen, hatten wir auf der eine Seite eine völlig neue Aufgabe mit ungeheuerlichen Schwierigkeiten vor uns, während uns auf der anderen Seite nur ganz geringe Hilfsmittel, dafür aber der unerschütterliche nationalsozialistische Wille zur Verfügung standen, die Aufgabe zu lösen, die uns gestellt worden war. Wenn in einem kurzen Jahr diese Aufgabe nicht völlig gelöst werden konnte, weil die Entwicklung an der Front besonders im Winter eine Versteifung der Lage herbeiführte, so unterscheidet sich das Weißruthenien, das Sie jetzt verlassen, doch wesentlich von dem Weißruthenien, wie wir es vor fast 11 Monaten aus dem Händen der Verwaltung der deutschen Wehrmacht übernommen haben. Sie haben in treuestem persönlichem Einsatz in den verflossenen 11 Monaten das Land mit einem fast lückenlosen Netz von Polizeistationen überzogen. Ihrer Initiative gelang es, rund 8.000 national gesinnte Weißruthenen in den Dienst der Schutzmannschaft Ihres Polizeibereichs zu verpflichten. In unermüdlichem Eifer haben Sie für die Ihnen anvertrauten Männer und Formationen gesorgt, haben Quartiere beschafft, Polizeischulen errichtet, Waffen herangeschafft und im Rahmen der vorhandenen Kräfte in engster Kameradschaft mit der Zivilverwaltung den Kampf für die Sicherung des Landes geführt. Wenn trotzdem aus dem Osten, besonders aber aus der Luft, immer wieder neue bolschewistische Kräfte nach Weißruthenien hereinströmten, dann lag es nicht an Ihnen, das zu verhindern. Die Ostgrenze unseres Gebiets, das größer ist als Bayern und Württemberg zusammengenommen, verfügt zwar über ungeheure Waldgebiete, aber über keinen ausreichenden militärischen Schutz. Wir haben es besonders in den harten Wintermonaten immer wieder erlebt, dass aus dem rückwärtigen Heeresgebiet bolschewistische Banden in Stärke von vielen hundert Mann hineinsickerten, die dann bei den im Lande verbliebenen russischen Bolschewisten und vor allen Dingen bei den Polen und Juden starke Unterstützung fanden.
Wenn während Ihrer Amtstätigkeit besonders das uns feindliche Judentum zu 10.000en vernichtet werden konnte, dann ist auch das Ihr Verdienst.
Zum Verständnis muss ich hier noch so viel ergänzen: Das deutsche Feldheer griff die Sowjetunion in drei Heeresgruppen an. Die eine Heeresgruppe war die Heeresgruppe Nord, die zweite die Heeresgruppe Mitte und die dritte die Heeresgruppe Süd. Diesen drei Heeresgruppen folgten vier Einsatzgruppen. Für die Aufstellung der Einsatzgruppen hatte Hitler Himmler Sondervollmachten erteilt. „die sich aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier entgegen gesetzter politischer Systeme ergeben“. Diese Einsatzgruppen wurden ab Mai 1941 aufgestellt aus Angehörigen des SD, Beamten der Kriminalpolizei und der Geheimen Staatspolizei sowie Mitgliedern der Waffen-SS. Sie unterstanden dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich.
Die Einsatzgruppen waren mobile Einheiten und waren den vorrückenden Heeresgruppen zugeordnet. Der Heeresgruppe Nord folgte die Einsatzgruppe A („Baltikum“) nach, der Heeresgruppe Mitte die Einsatzgruppe B („Weißruthenien“ – so nannten die Nazis Weißrußland), der Heeresgruppe Süd die Einsatzgruppe C („Ukraine“) und schließlich die Einsatzgruppe D („Krim“), sie war der 11. Armee zugeordnet, die Aufgaben im Bereich der Halbinsel Krim hatte.
Die Einsatzgruppen sollten das rückwärtige Gebiet „säubern“ und sichern, Material sicherstellen und Saboteure und Terroristen unschädlich machen. Sie erhielten die ausdrückliche Befugnis, „in eigener Verantwortung“ Exekutivmaßnahmen gegenüber der Zivilbevölkerung zu ergreifen – und dafür waren sie dann von einer Strafverfolgung befreit. Als Operationsgebiet wurde den Einsatzkommandos das rückwärtige Heeresgebiet zugewiesen. Die wichtigste Aufgabe der Einsatzgruppen war neben der Vernichtung der Kommunisten und anderer potentieller Gegner – die Tötung der in den Ostgebieten lebenden Juden sowie später auch die Tötung der aus dem Westen in den Osten deportierten Juden.
Mit diesen Einsatzgruppen beim Überfall auf die Sowjetunion haben wir uns das letzte Mal im Zusammenhang mit der Biografie des SS-Hauptsturmführers Georg Heuser beschäftigt. Vielleicht erinnern Sie sich noch. Heuser war wie Zenner in Minsk. Er kam etwas später, dafür blieb er etwas länger und war Gestapochef von Minsk.
Zu diesen Einsatzgruppen trat in den besetzten Gebieten die Organisation der SS- und Polizeiführer. An der Spitze in dieser Hierarchie stand der Höhere SS- und Polizeiführer. Davon gab es vier, entsprechend den vier Einsatzgruppen. Sie waren Himmler direkt unterstellt und persönlicher Vertreter Himmlers vor Ort. Sie repräsentierten den gesamten Machtbereich der SS und der Polizei in den besetzten Gebieten. Die Einsatzgruppen in dem jeweiligen Gebiet waren dem Höheren SS- und Polizeiführer unterstellt. Höherer SS- und Polizeiführer in dem Gebiet, zu dem Minsk gehörte, das war Russland-Mitte, war der SS-Obergruppenführer und General der Polizei Erich von dem Bach-Zelewski.
Diesen vier Höheren SS- und Polizeiführern waren dann die SS- und Polizeiführer unterstellt. Sie waren in ihrem jeweiligen Bereich „kleine Himmler“. So war auch Zenner der „kleine Himmler“ von Weißruthenien/Weißrussland mit Sitz in Minsk. Ihm unterstand die Sicherheits- und Ordnungspolizei Weißrusslands.
Mit fortschreitender Verfestigung der Macht entstanden in den besetzten Gebieten dann Verwaltungseinheiten die sog. Reichskommissariate. In diesem Bereich gab es zwei, das Reichskommissariat Ostland und das Reichskommissariat Ukraine. Reichskommissar Ostland war der Gauleiter Hinrich Lohse. Die Reichskommissariate waren weiter aufgegliedert in Generalkommissariate. Diese wurden geführt von Generalkommissaren. Generalkommissar von Weißruthenien war der Gauleiter Heinrich Kube. Kube war also im zivilen Bereich in Weißruthenien auf derselben Ebene wie der SS- und Polizeiführer Zenner. Von Kube stammten die lobenden Worte, die ich Ihnen soeben vorgelesen habe und der Dank dafür, dass während Zenners Amtstätigkeit in Weißruthenien „das Judentum zu 10.000en vernichtet werden konnte“.
Von diesen Massenerschießungen unschuldiger Juden aus Minsk und Umgebung wissen wir nicht viel. Gut dokumentiert ist aber die Beteiligung Zenners an der Massenerschießung von 6.624 Juden in der Zeit vom 7. bis 11. November 1941 in Minsk. Dazu kam es wie folgt:
Ein gewisser Hans-Hermann Remmers wurde im Oktober 1941 zur Einsatzgruppe A abkommandiert. Der Chef der Einsatzgruppe A, ein gewisser SS-Brigadeführer Dr. Stahlecker in Riga, schickte ihn nach Minsk. Dort sollte er einen „Haufen Leute“ übernehmen, die mit sicherheitspolizeilichen Aufgaben befasst seien. Ende Oktober 1941 erhielt er einen Telefonanruf aus dem Stab Stahleckers in Riga. Dieser teilte ihm mit, dass in Kürze ein Transport von etwa 1.000 reichsdeutschen Juden in Minsk eintreffe und weitere Transporte zu erwarten seien. Um für sie im Minsker Ghetto Platz zu schaffen, müsse er, Remmers, unverzüglich mit der Exekution russischer Juden beginnen. Remmers wandte ein, dass er aus menschlichen Gründen dazu nicht in der Lage sei und er das auch nicht seinen Männern zumuten könne. Unter Hinweis darauf, dass das ein „Führerbefehl“ sei, machte der Anrufer Remmers klar, dass er das zu erledigen habe. Man gab ihm noch den guten Rat, sich wegen der Absperrung der Exekutionsstätte, vielleicht auch wegen des Transports der Juden, an den SS- und Polizeiführer Zenner zu wenden. Remmers suchte Zenner auf, unterrichtete ihn über den Befehl, den er von seiner Einsatzgruppe in Riga erhalten hatte, und schilderte ihm seine Gewissensnot. Zenner zeigte Verständnis und erklärte, dass er eine ukrainische Einheit mit der Erschießung beauftragen werde. Remmers ging dann erleichtert zu seinen Leuten und sagte: „Gott sei Dank, wir haben mit der Erschießung nichts mehr zu tun, die Ukrainer machen es!“
Einige Tage später, am 7. November 1941, begann morgens zwischen 5 und 6 Uhr die geplante Aktion. Remmers begab sich um diese Zeit zum Ghetto, und kurz nach ihm fand sich auch Zenner dort ein. Ein Polizeibeamter meldete diesem, deutsche Ordnungspolizei- und SD-Leute seien gerade dabei, alle Juden – Männer, Frauen und Kinder – aus einem Wohnviertel des Ghettos heraus zu treiben. Remmers und Zenner entfernten sich alsbald wieder. Die Juden wurden außerhalb von Minsk zunächst in einer Baracke einer ehemaligen Möbelfabrik getrieben. Dort nahm man ihnen alle Wertsachen ab. Sie wurden in dieser Baracke in solchen Massen eingepfercht, dass sie die Fenster einschlugen, um nicht zu ersticken. Ihre Notdurft konnten sie nur in Handtaschen verrichten. Einige Frauen und Greise sind in dieser Baracke auch gestorben. Von dort aus transportierten Lkws im Pendelverkehr die Juden zur Exekutionsstätte. Dort waren zwei Gruben von ca. 30 Meter Länge, vier Meter Breite und einigen Metern Tiefe ausgehoben. An einer der Gruben war ein Erschießungskommando von etwa 10 – 15 sog. fremdvölkischen Schützen postiert. Das waren Hilfswillige, die zumindest versorgungsmäßig dem Kommando Schutzpolizei in Minsk unterstanden. Die Absperrung, auch die an der Baracke, nahmen deutsche Beamte dieser Dienststelle vor.
Die Juden wurden nach dem Ausladen der Lkws durch eine doppelte Postenkette hindurch bis etwa 10 Meter an die Gruben herangetrieben zu einer Stelle, an der sie sich alle, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, völlig entkleiden mussten. Wer zögerte oder sich weigerte, dem wurde „in grober Weise nachgeholfen“. Bei den abgelegten Kleidern war ein SD-Mann aus dem Kommando Remmers aufgestellt. Er hatte den Auftrag, die Opfer zu zählen.
Von hier aus trieb man mit lautem Gebrüll die Juden, vollkommen nackt, in Gruppen von etwa zehn Personen, die letzten Schritte bis zur Grube. Dort mussten sie sich mal mit dem Gesicht zur Grube, mal auf den in der Grube liegenden Leichen mit dem Gesicht zum Peloton aufstellen. Sie wurden so durch Salvenfeuer auf Kommando erschossen. Ob Zenner an der Exekutionsstätte war, ließ sich nicht feststellen.
Diese Erschießungen dauerten bis zum 11. November 1941. Die Zahl der Opfer belief sich mindestens auf 4.000 bis 6.000. Remmers meldete den Vollzug des Hinrichtungsbefehls und die Zahl der Getöteten – entsprechend den Angaben des von ihm abgestellten Zählers - telefonisch der Einsatzgruppe A in Riga.
In der Ereignismeldung UdSSR Nr. 140 vom 1. Dezember 1941 teilte der Chef der Sipo und des SD mit:
Vom Sonderkommando 1b wurden in Minsk in der Zeit vom 7. bis 11. November 1941 insgesamt 6.624 Juden erschossen.
Wenige Tage nach der Beendigung dieser Massenerschießungen russischer Juden – und zwar spätestens am 14. November 1941 - traf ein erster Transport von ca. 1.000 reichsdeutschen Juden aus Hamburg in Minsk ein. Es folgten in Abständen von nur wenigen Tagen weitere Transporte in der Größenordnung von 1.000 Personen ein – aus Düsseldorf, Frankfurt am Main und aus Berlin, später auch aus Wien und Brünn. Sie bezogen das im Ghetto freigewordene Wohnviertel.
Nicht nur – wie zuvor erwähnt - der Generalkommissar Kube, sondern auch Zenner selbst war mit seiner Arbeit in Weißrussland ganz zufrieden. Noch im Mai 1942 schrieb Zenner:
In Weißruthenien gibt es viel Arbeit. Zurzeit sogar rege Partisanentätigkeit, aber mit altem Nazischwung und rheinischem Humor wird der Laden doch geschafft.
In dem bereits erwähnten Dankesschreiben des Generalkommissars Kube heißt es dann weiter:
Einen besonderen Dank aber schulde ich Ihnen, mein lieber Brigadeführer Zenner, für die stets bewiesene (…) nationalsozialistische Kameradschaft, die uns beiden die gemeinsame Arbeit für den Führer und für das Großdeutsche Reich erleichtert hat. Ich habe stets bei Ihnen volles Verständnis für die mir gesetzten wirtschaftlichen, politischen und verwaltungsmäßigen Aufgaben gefunden. Mein Ziel, das weißruthenische Volk von seinen natürlichen Feinden, den Russen, den Polen und den Juden abzusetzen, ist von Ihnen stets unterstützt worden. Darüber hinaus haben Sie durch steten Einsatz der Ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte die Aufgaben der Zivilverwaltung auch draußen bei den Gebietskommissaren erleichtert und unterstützt. Wenn Sie nun, dem Befehl des Reichsführers-SS folgend Weißruthenien verlassen, dann wünsche ich und meine Mitarbeiter Ihnen, mein lieber Parteigenosse Zenner, von Herzen guten Erfolg. In Weißruthenien werden Sie als erster Polizeichef und höhere SS-Führer in der Zivilverwaltung stets ein dankbares Andenken hinterlassen. Wir scheiden ungern von Ihnen, wissen aber, als Soldaten des Führers, dass über allen anderen Erwägungen der Gehorsam und die soldatische Pflichterfüllung der alten Nationalsozialisten stehen.
Hintergrund dieses Befehls Himmlers und Zenners Ablösung als SS- und Polizeiführer war der Vorwurf von Zenners Chef, des Höheren SS- und Polizeiführers, des SS-Gruppenführers Erich von dem Bach-Zelewski. Dessen Meinung nach hatte Zenner in der Partisanenbekämpfung zu wenig Aktivität gezeigt.
Zenner wurde daraufhin als Chef des Erfassungsamtes (Amt B II) im SS-Hauptamt nach Berlin versetzt. Dort war man aber gar nicht über sein Kommen begeistert. Der Chef des SS-Hauptamtes sah „schwarz“ bei Zenner, der seiner Meinung nach vollkommen undurchsichtig war und sich durch keine besonderen Leistungen bis jetzt ausgezeichnet hatte. Aber – so der Chef des SS-Hauptamtes weiter – er wolle es einmal versuchen. Notfalls müsse man Zenner aus einem vollkommen überflüssigen Urlaub zurückholen. Denn er habe sich in Minsk keinesfalls angestrengt, sondern ein faules Leben geführt; daher auch seine Ablösung.
Als Zenner schon wieder in Berlin war, gab es für ihn noch ein Nachspiel zu einem Vorfall, der sich Anfang Juli 1942 in dem Ort Kossow im Generalkommissariat Weißruthenien zugetragen hatte. Zu dieser Zeit wurde nämlich der Ort von der Verwaltung und von der Gendarmeriestation geräumt und ein Stück zurückverlegt. Chef der Gendarmeriestation war ein gewisser Lange. Er hatte – wie sich dabei herausstellte – ein Verhältnis mit einer Russin; diese wohnte auch bei ihm im Dienstgebäude. Auch andere Gendarme hatten mit Russinnen ein Verhältnis. Die SS-Spitze vermutete, dass die Russinnen durch ihre Kontakte zur Gendarmerie einiges ausspioniert und dann an Widerstandsgruppen weitergegeben hätten. Auch nahm man an, dass Lange aus Feigheit vor dem Feind die Gendarmeriestation geräumt hatte. Wie auch immer. Zenner machte man jedenfalls zum Vorwurf, seine Aufsichtspflichten über diese Gendarmeriestation Kossow und sein Personal verletzt zu haben. Noch im September 1942 initiierte Himmler gegen Zenner ein SS-Gerichtsverfahren ein.
Dieses Verfahren zog sich dann mehr als ein Jahr hin. Es wurde dann aber gegen Zenner mit der Begründung eingestellt, dass ihm eine Verletzung seiner Aufsichtspflicht über die Gendarmen nicht nachgewiesen werden könne. Grundlage hierfür war ein Bericht. Danach habe dieser sein Amt mit feinem Fingerspitzengefühl für die politischen Notwendigkeiten Weißrutheniens geführt und durch seine Maßnahmen, wie auch der Wehrmachtsbefehlshaber „Ostland“ hervorgehoben habe, die Voraussetzungen für die Befriedung Weißrutheniens geschaffen.
Unerwähnt blieb bisher, dass Zenner neben all diesen Tätigkeiten seit Juli 1937 auch Mitglied des Obersten Parteigerichts der NSDAP in München und ehrenamtlicher Richter am Volksgerichtshof in Berlin war. Über seine langjährige Tätigkeit dort ist nicht viel bekannt. Wohl wissen wir, dass mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges neue und schärfere Strafvorschriften in Kraft traten, für die schwersten dieser Straftaten wurde der Volksgerichtshof zuständig. Der Umfang der Tätigkeit des Volksgerichtshofs wie auch seine Brutalität nahmen zu. Vor allem unter dem Präsidenten Roland Freisler, dem nach dem Krieg so genannten „Mörder in roter Robe“, wurden die Urteile maßlos. Es wurde kein irgendwie geartetes Unrecht, nicht einmal Unrecht nach Nazi-Maßstäben „gesühnt“, sondern derjenige, der sich mit seinem Verhalten außerhalb der Volksgemeinschaft stellte und unangepasst war, wurden mithilfe von Paragrafen liquidiert.
Der Volksgerichtshof bestand aus mehreren Senaten. Die Senate tagten in der Hauptverhandlung mit fünf Mitgliedern. Den Vorsitz in einem Senat hatte der Präsident – also Freisler -, der Vizepräsident war Vorsitzender eines anderen Senats und die übrigen Senate wurden jeweils von Vorsitzenden Richtern geleitet. Weiterhin war jeder Senat besetzt mit einem beisitzenden Richter, das war ein Berufsrichter. Vielleicht erinnern sich die Älteren von Ihnen noch an den Fall des Richters Hans-Joachim Rehse – der letzte und erfolglose Versuch der Nachkriegsjustiz, einen Richter für seine Mitwirkung an der NS-Justiz, vor allem an Todesurteilen, doch noch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Neben diesen beiden Berufsrichtern wirkten in der Hauptverhandlung des Volksgerichtshofs noch drei ehrenamtliche Richter mit. Theoretisch hatten sie die Mehrheit in diesem Gremium. Aber faktisch hatten sie nichts zu sagen. Sie waren auch handverlesen und nur Staffage für die Verhandlungen des Volksgerichtshofs.
Ein solcher ehrenamtlicher Richter war auch der SS-Brigadeführer Zenner. Es sind einige Verfahren bekannt, bei denen er als ehrenamtlicher Richter mitgewirkt hat – auch solche mit Todesurteilen. So systematisch hat man nach Urteilen von ihm aber auch noch nicht geforscht. Zufällig sind mir zwei Strafverfahren unter Beteiligung von Zenner bekannt geworden.
Das eine betraf den Koblenzer Medizinalrat Dr. Paul Kolf. Gegenstand dieses Strafverfahrens war ein Plausch unter Nachbarn im Sommer 1943 – zu einer Zeit, als die italienische Regierung unter Badoglio drauf und dran war, mit den Alliierten einen Waffenstillstand zu schließen. In den Worten des Strafurteils spielte sich das Geschehen hier in Koblenz wie folgt ab:
Am 6. August 1943 kamen auf einer Straße in Koblenz zwei Nachbarn ins Gespräch. Der eine war der Medizinalrat Dr. Paul Kolf und der andere der Friseurmeister Hans St. Dr. Kolf sagte zu St., er – Kolf – habe einen Brief bekommen, dass er schlecht verdunkle. St. bestätigte das. Daraufhin meinte Kolf: „Ach was, das ist ja alles Unsinn, in vier Wochen ist der Krieg doch aus.“ St. erwiderte: „Nun mal langsam, Herr Doktor, so schnell schießen die Preußen nicht.“ Kolf entgegnete: „Italien fällt ab, und wir können uns dann auch nicht mehr halten. Es kann bei uns genauso kommen wie in Italien. Wenn die Partei nicht mehr besteht, wird eben das Militär die Sache in die Hand nehmen. Brauchitsch ist schon wieder da!“ St. meinte darauf: „So einfach ist es doch nicht.“ Und Kolf erwiderte: „Passen Sie auf, in vier Wochen sprechen wir uns wieder.“
Das war alles. Der Medizinalrat Kolf wurde denunziert --- von wem wohl? Und man machte ihm den Prozess vor dem Volksgerichtshof. – Was warf man ihm vor? Der Vorwurf lautete auf Verstoß gegen § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung. Hierin ging es um die berüchtigte „Zersetzung der Wehrkraft“. Diese Vorschrift lautete:
(1) Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird mit dem Tode bestraft:
1. wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder einer verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zu wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht…
(2) In minder schweren Fällen kann auf Zuchthaus oder Gefängnis erkannt werden.
…….
Der Volksgerichtshof saß dann in der Hauptverhandlung vom 18. Oktober 1943 über Kolf zu Gericht. Das war der 1. Senat unter Vorsitz des Präsidenten Freisler und als einer der ehrenamtlichen Richter fungierte Zenner. Wegen dieser Meinungsäußerung im engsten Kreis – gerade im vertrauten Gespräch mit einem Nachbarn – verurteilte das Gericht Kolf wegen Zersetzung der Wehrkraft zum Tode. Die Gründe für dieses Todesurteil sind genau eine Seite lang.
Ein Nachsatz noch: Nach der Verurteilung hat Dr. Kolf an den Reichsjustizminister Thierack ein Gnadengesuch gerichtet. Damit hatte er- was nach meinen Erfahrungen sehr selten ist – doch tatsächlich Erfolg. Im Gnadenweg wurde das Todesurteil des Volksgerichtshofs in eine 6- oder 8-jährige Zuchthausstrafe – so genau weiß ich das nicht mehr - umgewandelt. Selbst Thierack war die Todesstrafe ersichtlich zu hart. Dr. Kolf hat dann die Strafe im Zuchthaus in Regensburg verbüßt. So weit ich weiß, ist Dr. Kolf kann kurz nach der Befreiung infolge der Bedingungen seiner Strafhaft verstorben.
Noch ein weiterer Fall beleuchtet die Tätigkeit Zenners als ehrenamtlicher Richter beim Volksgerichtshof. Das ist das Verfahren gegen den alten Parteigenossen Robert Busch aus Boppard/Rhein. Busch bat Zenner um Hilfe, weil ein anderer Bopparder, ein gewisser SA-Obersturmführer Emil Fätsch, Busch angezeigt hatte, beleidigende Äußerungen über Staat und Partei gemacht zu machen. Zenner verwandte sich für Busch, weil er der Auffassung war, Fätsch habe unwahre Behauptungen aufgestellt, um Busch zu schaden und daraus einen wirtschaftlichen Vorteil ziehen zu wollen. Jedenfalls saß Zenner als ehrenamtlicher Richter beim Volksgerichtshof auch bei diesem Fall zu Gericht. In der Hauptverhandlung konnte Fätsch die von ihm aufgestellten Behauptungen nicht beweisen und Busch wurde freigesprochen. Irgendwie kam dieses Verhalten Himmler zu Ohren – zumal Zenner nach dem Freispruch Buschs den Anzeigenerstatter Fätsch beim Kreisleiter in Boppard und beim HJ-Führer des Gaues Moselland, wo Fätsch beschäftigt war, anschwärzte. Auf Zenners Erklärungsschreiben hin antwortete ihm Himmler unter dem 2. November 1944 wie folgt:
Lieber Zenner!
(…) Aus Ihren Zeilen entnehme ich, dass Ihre Gesinnung so untadelig war, wie ich es erhofft habe, ersehe aber gleichzeitig, dass Sie keinerlei Verständnis für meine Frage haben.
Es ist unmöglich, dass man sich zu gleicher Zeit für einen Angeklagten einsetzt, um dann später über ihn Richter zu sein! Entweder mussten Sie als alter SS-Mann und Parteigenosse sich für den anderen alten Parteigenossen einsetzen und bei Behörden für ihn Zeugnis ablegen, oder Sie mussten sich da heraushalten, um als Richter an der Sitzung teilzunehmen und Ihr Votum gemäß Ihrer Erkenntnis über Recht oder Unrecht des Falles abzugeben. (…) Undenkbar ist, wenn man saubere und klare Verhältnisse im Rechtswesen haben will, - bei aller Lauterkeit Ihres Wollens – Ihr Verhalten gewesen!
Ich ersuche Sie, in Zukunft nach dem aufgezeigten Grundsatz zu handeln und sich nicht von Ihrem mir bekannten und anständigen Gemüt im besten Wollen zu Handlungen verleiten zu lassen, die anfechtbar und stärkster Kritik ausgesetzt sind.
Da sieht man doch, dass es auch bei der SS mit der Rechtspflege „anständig“ zuging. Im Übrigen war das mit der „Zukunft“ nicht mehr so weit her, als Zenner Mitte November 1944 diesen Brief Himmlers von der Feld-Kommandostelle erhielt.
Inzwischen war Frau Zenner mit ihren beiden Kindern in der Wohnung in Aachen ausgebombt worden und Zenner hatte sie „kriegsmäßig“ in Brohl untergebracht. Im Übrigen war Aachen die erste deutsche Stadt, die von den Alliierten am 21. Oktober 1944 befreit wurde. Auch für seine Mitwirkung beim Volksgerichtshof blieb Zenner nicht mehr viel Zeit. Denn am 3. Februar 1945 wurde das Gebäude des Volksgerichtshofs bei einem alliierten Bombenangriff zerstört und Freisler von einem niederstürzenden Balken im Keller des Gebäudes getötet. Dabei wurden viele Akten zerstört und vernichtet. Die Nazis machten zwar weiter, aber es war sehr beschwerlich, die Akten wieder zu rekonstruieren. Es gab bis Anfang April 1945 noch weitere Prozesse, aber zahlreiche Angeklagte konnten doch noch überleben.
Nach Kriegsende hat Zenner – nach seinen eigenen Angaben – im Alpengebiet nahe der deutsch-österreichischen Grenze bis zum 29. Mai 1945 „noch gekämpft“. Dann geriet er in französische Gefangenschaft. Alsbald wurde er an die britische Besatzung ausgeliefert. Hintergrund war, dass die Briten, in deren Zone Aachen lag, Zenner für seine Mitwirkung an der „Reichspogromnacht“ in Aachen strafrechtlich zur Verantwortung ziehen wollten. – Das ist der Prozess, den ich Ihnen vorher schon angekündigt hatte. - Tatsächlich kam es dann im Frühjahr 1947 vor dem britischen oberen Militärgericht zu einem Verfahren. Angeklagt waren neben Zenner – als ehemaligem Polizeipräsidenten - der frühere Kreisleiter, der ehemalige Oberbürgermeister, drei Polizeibeamte und zwei Feuerwehrleute. Ihnen wurde vorgeworfen, die Zerstörung der Aachener Synagoge geplant und ausgeführt zu haben. Nach den Feststellungen im Urteil hatte Zenner den Pogrom in Aachen tatkräftig gefördert. Er war dabei, als in der Nacht vom 9. auf den 10. November am frühen Morgen Feuerwehrleute die Synagoge in Brand setzten. Er erteilte den Beamten des nahe gelegenen Polizeireviers den Befehl, das Gelände abzusperren. Der ebenfalls anwesende Oberbürgermeister hatte Mühe, Zenner zu veranlassen, Feuerwehrleute einzusetzen, um ein Übergreifen des Feuers auf angrenzende Gebäude zu verhindern. Anschließend schickte Zenner SS-Leute los, in der Stadt die jüdischen Geschäfte zu demolieren. Einem Polizisten machte er Vorwürfe, weil dieser angeordnet hatte, Plünderungen zu verhindern. Dabei wurde Zenner beschuldigt – was aber nicht bewiesen wurde -, dass er wertvolle Bücher aus der Bibliothek der Synagoge an sich genommen habe.
Zenner verteidigte sich damit, nur auf Befehl gehandelt zu haben. Danach sei nur deutsches Leben und Eigentum zu schützen gewesen - und „Juden sind nach dem Gesetz keine Deutschen“. Zenner muss sich im Strafverfahren auch im Übrigen „unmöglich“ aufgeführt haben. In dem Urteil hieß es dann, der Angeklagte zeigte sich „rücksichtslos und unverschämt (…) machte den Eindruck einer kühnen und rücksichtslosen Person (…) und gab dem Gericht klar zu erkennen, dass er, welche Schritte er auch unternommen haben mag, um bestimmte Leute und bestimmte Vermögen zu schützen, gemäß den Befehlen in gleicher Weise energisch vorgegangen ist zur Ausführung eines Plans zur Zerstörung der Synagoge“. Daraufhin wurde Zenner vom britischen Oberen Militärgericht zu fünf Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe zugunsten der jüdischen Gemeinde verurteilt. Von der Gefängnisstrafe verbüßte er drei Jahre und wurde dann aufgrund einer Gnadenentscheidung im Juni 1950 entlassen.
Zenner kehrte nach Brohl zurück und arbeitete wieder als Angestellter dort. Seine Kühnheit wurde ihm dann aber doch noch zum Verhängnis. Er war nämlich so kühn, nach alle dem als ehemaliger Polizeipräsident und Polizeigeneral Ansprüche auf Versorgung nach dem Gesetz zu Art. 131 des Grundgesetzes geltend zu machen. Da sein letzter Dienstsitz Berlin war, stellte er auch dort den Antrag. Dieser wurde abgelehnt, daraufhin klagte er vor dem Verwaltungsgericht in Berlin. Auch da blieb er ohne Erfolg. Die Klage wurde im Oktober 1956 abgewiesen, weil er seine Ernennungen zum Beamten, also zum Polizeipräsidenten von Aachen und zum Generalmajor der Polizei ausschließlich seiner engen Verbindung zum Nationalsozialismus, insbesondere der Zugehörigkeit zur SS, zu verdanken gehabt habe. Dieses Urteil enthielt auch Feststellungen zu Zenners Tätigkeit in Minsk.
Das Urteil wurde der Staatsanwaltschaft Koblenz mitgeteilt. Man nahm Ermittlungen auf, das Verfahren zog sich aber sehr in die Länge. Erst 3 ½ Jahre später, am 1. März 1960 wurde Zenner in Untersuchungshaft genommen. Nach weiteren 1 ¼ Jahren kam es dann zur Hauptverhandlung. Angeklagt war Zenner wegen der Ermordung von 6.624 Juden in Minsk in der Zeit vom 7. bis 11. November 1941. Mitangeklagt war der bereits erwähnte Remmers. Dieser belastete Zenner schwer. Nach Zeugenaussagen sei Zenner ein „ständig von Härte redender, ständig Rotwein trinkender SS-Satrap gewesen, der von seiner Datscha aus regierte, aber zu feige war, selbst ins Partisanengebiet zu gehen“; Zenner sei ein „freiwilliger Anhänger Hitlers (gewesen), wie geschaffen für die hinterhältige Ermordung der Juden“.
Ein israelischer Journalist berichtete über die Verkündung des Urteils gegen den „Satrapen von Minsk“ wie folgt: Zenner, „ein bebrilltes Bulldoggengesicht, sank wie ein Toter auf die Anklagebank“. Im seinem Schlusswort hatte Zenner noch gesagt: „Ich glaubte an den Nationalsozialismus, und mein Glaube zerbrach mit dem Dritten Reich. Ich war ein ehrlicher Idealist wie Millionen anderer Männer und Frauen.“
Das Schwurgericht beim Landgericht Koblenz erklärte in seinem Urteil alle Einlassungen Zenners für unglaubhaft und fand ihn schuldig, an der Ermordung von mindestens 4.000 bis 6.000 Juden verantwortlich mitgewirkt zu haben. Dabei wurde nicht ausgeschlossen, dass die gemeldete Zahl von 6.624 Opfern zu hoch gegriffen gewesen sei. Seine Tathandlungen sah man lediglich als Beihilfe zum Mord an und verurteilte ihn zu der dann höchstmöglichen Freiheitsstrafe von 15 Jahren Zuchthaus. Schon wenige Wochen später wurde er wegen seines Gesundheitszustandes für haftunfähig erklärt und nach Hause entlassen. Erst 1 ½ Jahre später erreichte die Staatsanwaltschaft, dass er erneut verhaftet und in ein Gefängnislazarett verbracht wurde. Mehrere Gnadengesuche hatten keinen Erfolg. Sie wurden u.a. vom rheinland-pfälzischen Justizminister mit der Begründung abgelehnt, Zenner habe „von seiner Machtfülle in unmenschlicher Weise Gebrauch gemacht“.
1967 erreichte er doch noch seine Haftentlassung wegen dauernder Haftunfähigkeit. Zuletzt lebte er als Pflegefall im Brohl und starb am 16. Juni 1969. Beerdigt ist Zenner auf dem Brohler Friedhof. Auf seinem Grabstein sind sein Geburts- und Todesdatum nicht wie üblich mit Stern und Kreuz gekennzeichnet, sondern vielmehr nach dem Brauch der SS mit der aufrechten und umgekehrten Lebensrune in Form eines Y.
Zahl der Todesurteile des Volksgerichtshofs
Jahr Todesurteile
1934 -
1935 23
1936 -
1937 32 (bei 618 Angeklagten)
1938 17
1939 36
1940 53
1941 102
1942 1192
1943 1662
1944 2097 (bei 4379 Angeklagten)
Wilhelm Kircher (1898 - 1968)
Ein ganz anderer Täter war der in Frankfurt/Main geborene Wilhelm Kircher. Nach der Teilnahme am I. Weltkrieg wurde er Volksschullehrer an einer Dorfschule bei Altenkirchen/Westerwald. Bald gehörte er zu den bekanntesten und engagiertesten Schulreformern in der Weimarer Zeit; gleichzeitig war er ein Pionier des Schulfunks. Inzwischen Mitglied der NSDAP und Kreisfachschaftsleiter für Lehrer an Volksschulen kam er Ende 1934 nach Winningen. Seine Schüler erzog er in der Ideologie der Nazis, förderte ihre Wehrtüchtigkeit und ihren Wehrwillen und machte mit ihnen Großfahrten zu den „Weihestädten Deutschlands“. Noch während der Winninger Zeit wurde er ideologischer Funktionär in der Lehrerfortbildung, war dann Reichsfachschaftsleiter und „Reichsbeauftragter für die weltanschauliche Schulung der deutschen Erzieher“. Nach dem Krieg hatte Kircher einige Jahre – bis 1950 – Schwierigkeiten, wieder im Schuldienst tätig zu werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich sehr, Sie heute zum dritten und letzten Vortrag der dreiteiligen Reihe über NS-Täter aus Koblenz und Umgebung begrüßen zu können. Der erste Vortrag vor vier Wochen beschäftigte sich mit dem Gauleiter Josef Grohé. Im zweiten Vortrag vor zwei Wochen porträtierte ich den SS-Führer Carl Zenner. Und heute werde ich Ihnen von Wilhelm Kircher erzählen – einem Lehrer. Das letzte Mal ging es um den Massenmord an Juden im weißrussischen Minsk. Das war ein abscheuliches Verbrechen – es war vieltausendfacher Mord bzw. – wie es das Schwurgericht Koblenz später sah – Beihilfe zum Mord. Dieses Verbrechen Carl Zenners und anderer ist so das, was man typischerweise vor Augen hat, wenn man an NS-Täter denkt. Es sind die SS und der Holocaust, die das Bild der NS-Täter im Allgemeinen prägen. Wer diese Vortragsreihe verfolgt, weiß, dass ich als NS-Täter nicht nur Helfer Hitlers und Himmlers porträtiere, die unmittelbar Blut an ihren Händen kleben hatten. Mir geht es mit dieser Reihe auch darum, „Schreibtischtäter“ und ideologische Wegbereiter und – begleiter der Nazis und Repräsentanten des NS-Systems zu porträtieren. In diesem Zusammenhang darf ich nur an die verschiedenen von mir porträtierten Gauleiter, den Regierungspräsidenten Harald Turner und die Richter und Staatsanwälte erinnern, deren Biografie ich an dieser Stelle beschrieben habe. Mir geht es mit dieser Sichtweise darum, uns den Blick zu öffnen – und nicht nur zu beschränken auf Hitler und Himmler und die SS, sondern darum, die breite Palette der willigen Helfer vor Ihnen auszubreiten. Diese Schwarz-Weiß-Malerei – hier die Bösen, dort die Guten – hilft nicht. Die Übergänge waren fließend. Viele „normale“ Bürger und Beamte konnten zu Massenmördern werden – denken Sie nur an die Arbeit von Christopher Browning: „Ganz normale Männer – Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung’ in Polen“. Auch sonst konnte man – wenn man nicht aufpasste – beruflich schnell ein Zahnrad in der NS-Ausgrenzungs- und Terrorhierarchie werden – denken Sie nur an die so genannten „Furchtbaren Juristen“.
Es gibt keinen einheitlichen Typ des NS-Täters. Sicherlich gab es gewisse Dispositionen dazu, ein solcher zu werden, auch gab es gewisse typische Milieus und auch verschiedene Typen von NS-Tätern. Aber den typischen NS-Täter gab es nicht. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass Menschen zu NS-Tätern aufgrund ihrer beruflichen Stellung wurden. Sie waren und wurden nicht Gauleiter oder SS-Führer, sondern blieben, das was sie waren: Juristen, Ärzte, Polizisten u.a. Sie stellten ihre Fähigkeiten und Kenntnisse „nur“ in den Dienst der NS-Ideologie und des NS-Terrors. Manchmal drängten sie sich auch danach – wollten Karriere machen -, aber sie blieben doch immer auch das, was sie waren und gelernt hatten: Juristen, Ärzte, Polizisten u.a.
Aus diesem Blickwinkel heraus habe ich Ihnen in den letzten Jahren immer auch einen „furchtbaren Juristen“ vorgestellt. Dieses Mal möchte ich von dieser Übung einmal abgehen und Ihnen heute einen Lehrer porträtieren, den Hauptlehrer Wilhelm Kircher. – Es muss ja nicht immer ein Jurist sein, es gab ja auch andere…
Die Biografie Wilhelms Kircher habe ich nicht – wie viele andere – mir aus den Akten selbst zusammengesucht oder anhand von Kurzbiografien und weiterer Originalunterlagen erarbeitet. Dieser Vortrag fußt vielmehr auf der sehr gründlichen Arbeit von Jörg-W. Link: „Reformpädagogik zwischen Weimar, Weltkrieg und Wirtschaftswunder“. Dieses Buch aus der Promotion Links hervorgegangen. In der Dissertation wie im Buch hat er das Thema an der Biografie Wilhelm Kirchers festgemacht und damit vor nunmehr 10 Jahren auch eine Biografie über Wilhelm Kircher geschrieben. Dem Buch hat der Herausgeber ein Vorwort vorangestellt, aus dem ich nachfolgend zitiere:
(Hier) steht die kontrastreiche und widersprüchliche Biografie von Wilhelm Kircher (1898 – 1968) im Mittelpunkt. Kircher gehörte während der Weimarer Zeit zu den bekanntesten, engagiertesten und kreativsten Protagonisten einer reformpädagogischen orientierten Landschulreform und war gleichzeitig ein Pionier des Schulfunks. In der Zeit des Nationalsozialismus entwickelte er sich zum exponierten Funktionär im Nationalsozialistischen Lehrerbund und beteiligte sich als „pädagogischer Überzeugungstäter“ auch an der Mikrostruktur des Terrors in den Lehrer-Schulungslagern. Schließlich gewann Kircher nach einer krisenhaften Phase der Selbstreflexion nochmals in der Bundesrepublik Deutschland als Landschulreformer und nunmehr auch als Erwachsenenbildner Bedeutung. Er hat insgesamt 591 Bücher und Aufsätze (und Artikel) verfasst. Gleichwohl war der Name von Wilhelm Kircher in der Forschung bislang völlig unbekannt.
Beschäftigen wir uns nun mit diesem Pädagogen, der sowohl engagierter Reformpädagoge war als auch überzeugter Nationalsozialist. Lassen wir uns auf diese Ambivalenz ein – und lassen wir am Ende auch die Frage zu: War das denn überhaupt ein Täter? Und geben wir darauf dann eine abgewogene, aber wohl richtige Antwort.
Geboren wurde Wilhelm Kircher am 18. April 1898 als erstes Kind und einziger Sohn des Kellermeisters David Gottlieb Kircher und seiner Frau Elisabeth in Frankfurt am Main. Die Eltern waren aus dem Württembergischen 20 Jahre zuvor nach Frankfurt gezogen. Kircher war in ein aufstrebendes Sozialmilieu hineingeboren. In dieser Zeit erlebte Frankfurt einen deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Kirchers Eltern und er selbst waren bildungsbeflissen. Sie schickten das Kind auf eine Mittelschule und zahlten dafür auch Schulgeld. Zu Ostern 1913 verließ der knapp 15-jährige Wilhelm das Elternhaus und ging nach Wetzlar in das dortige Lehrerseminar. Zunächst musste er als Mittelschüler die Präparandenanstalt besuchen und nach dem Bestehen der Abschlussprüfung wechselte er Ostern 1915 auf das Lehrerseminar.
Ostern 1915 – das war ein halbes Jahr nach Beginn des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914. Der Erste Weltkrieg sollte für Wilhelm Kircher wie für Millionen junger Männer seiner Generation zu einem Trauma werden. Jahre später, im Jahre 1931, schildert Kircher unter dem Titel „P.o.W. 496“ („P.o.W. bedeutet „Prisoner of War“) die Erlebnisse des Gefreiten Liehr an der Westfront ab März 1918 bis zur Rückkehr aus englischer Gefangenschaft im Herbst/Winter 1919/20. Bis ins kleinste Detail decken sich die biografischen Informationen zu Liehr mit den persönlichen Daten Kirchers, so dass der Roman ohne Zweifel eine Art Autobiografie Kirchers ist.
Danach wurde Kircher Anfang September 1917 zum Kriegsdienst einberufen. Bald stand er an der Westfront und erlebte die vernichtenden „Materialschlachten“. Ende Oktober erlitt er eine Gasvergiftung, die er mit viel Glück in französischen Lazaretten und Lagern überlebte. Aus dieser Zeit stammt auch die Taubheit eines Ohres, an der Kircher sein leben lang litt. Im Gefangenenlager engagierte er sich für die Kulturarbeit und war u.a. an der Gründung einer Theater- und Varietégruppe beteiligt. In dem Roman schilderte Kircher auch die Gefühle der Landser angesichts des bevorstehenden Gefangenenaustauschs und der Nachrichten von der „Novemberrevolution 1918 in Deutschland. Es heißt:
Die frisch umgepflügten Schollen vor dem Camp duften nach Freiheit. (…) Wir sind die geprüfte Generation, die Generation mit der Dornenkrone. Hier aus dem Stacheldraht hat man sie gewunden. Die Narben bleiben. (…) Wehr Dir, deutsches Volk, wenn Du das Vermächtnis Deiner Toten mit Füßen trittst! (…) Ja, ich glaube an Dich, mein Deutschland! Magst Du die Farben wechseln, wie immer Du willst, mögen sie Dich im Rat der Völker bespötteln und verachten; ich glaube an das heimliche Deutschland, das seine Trommelwirbel vor den Haufen der Menschen herträgt, das seinen Anspruch macht, erkannt zu werden, das aber da ist wie eine große Bruderschaft des Geistes.
Im Spätsommer 1919 kam Kircher dann nach Frankfurt zurück. Wegen seiner Kriegsverletzungen und der allgemeinen Schwächung unterzieht er sich erst einmal einer Kur. Da er noch vor seiner Einberufung zum Kriegsdienst vorzeitig seine erste Lehrerprüfung bestanden hatte, begann Kircher Anfang 1920 mit der praktischen Ausbildung als Lehrer. Dabei wurde er schulartübergreifend an insgesamt neun Schulen in Frankfurt eingesetzt – bis er dann im März 1923 die zweite Prüfung zur endgültigen Anstellung als Lehrer an Volksschulen mit der Note „sehr gut“ bestand.
Danach wurde Kircher der Koblenzer Schulverwaltung überwiesen. Diese versetzte ihn nach Isert bei Altenkirchen im Westerwald, an die dortige einklassige Dorfschule. Dies war sicherlich ein „Kulturschock“ für den jungen Kircher. Denn von dem großstädtischen Milieu in Frankfurt und den dadurch geprägten Schulverhältnissen und Lebensumständen kam er unvermittelt in das ländliche Milieu des Westerwaldes und eine einklassige Dorfschule.
Das Dorf Isert hatte mit Kircher nicht nur einen neuen Lehrer erhalten, sondern zugleich eine neue Schule. Die Eltern waren zunächst skeptisch, weil Kircher gar nicht so in das Bild passte, was man damals im Westerwald von einem jungen Lehrer hatte. Aber Kircher wollte nicht nur die Kinder für sich und seine Pädagogik gewinnen, sondern auch die Eltern. Kaum hatte das Schuljahr begonnen, veranstaltete er einen Elternabend, auf dem er über „Wesen und Ziel der Arbeitsschule“ sowie den „Sinn der Erziehung“ informierte. Damit und vor allem mit seinen Erfolgen bei seinen Schülern konnte er nach und nach ….. die Eltern für seine Schularbeit gewinnen.
Seine Reformpädagogik und sein Schulversuch hatten einen Namen, seinen Schüler und er nannten dies „Haus in der Sonne“. Dabei war der Schulversuch im „Haus in der Sonne“ eine rollende Reform, die offen war für pädagogische und gesellschaftliche Entwicklungen und Ansätze. Um Ihnen einen Eindruck von diesem reformpädagogischen Schulversuch zu vermitteln, zitiere ich aus der Schulchronik für das Jahr 1928:
Das Jahr 1928 war für die innere Umbildung der Versuchsschule Isert von größter Bedeutung. Alle Wohnräume, früher Lehrerwohnung, sind zu Arbeitsräumen geworden: Raum der Kleinen, Lesezimmer, Weiheraum, Erdkundezimmer, Geschichtszimmer. Die Bankordnung ist so verändert, dass alle Kinder bei der Arbeit sich gegenseitig sehen. Das arbeitsgemeinschaftliche Verhältnis zu Handwerkern und Eltern ist systematisch ausgebaut und ein recht enges geworden. Leitgedanke wird ein Volksunterricht vom Kindergartenalter bis zur Erwachsenenbildung, Leitbild die dänische Volkshochschule. Die Schülerselbstverwaltung ist organisiert, der Gesamtunterricht wird auf den Schild erhoben, die Schüler haben Anteil an der Plangestaltung. (…) Die Kinder haben mehrere Male vier Tage hintereinander Schule gehalten ohne Lehrer.
Bereits der Name „Haus in der Sonne“ sollte symbolisieren, dass die Schule vom leben durchflutet wird, dass die Kraft der Sonne den jungen „Pflänzlingen“ in der Schule immer neue Kraft zur Entfaltung gibt. Es sollte eine Arbeits- und Gemeinschaftsschule sein, die lebens- und gegenwartsnahes, praktisches und soziales Lernen mit theoretischer Verarbeitung der Erfahrungen und besinnender Rückschau verbinden sollte. „Wir müssen uns in der Landschule frei machen von lehrhaftem Drill, von der Angst vor einem scheinbaren Zeitmangel und das Leben hereinlassen“, lautete eine von Kirchers Maximen. Neben dem „Haus in der Sonne“ gab es bald ein selbstgebautes Blockhaus im nahe gelegenen Wald, das als „Sommerschule“ und als „Nest“ der Jugend diente. In diesen Räumen waren die Arbeitsmaterialien jedem Schüler jederzeit frei zugänglich.
Kircher setzte sich konsequent für die Integration der Schule in das Leben des Dorfes, für die Dorfeigene“, jedoch nicht „dorfenge“ Schule ein: die Schule als ein Zentrum und eine Transformatorenstelle binnendörflichen Lebens mit dem Blick ins Weite“. Regelmäßig veranstaltete er Elternabende und auch Volkshochschulabende.
Auch das schulische Bildungsangebot wurde erweitert: Ab 1931 gab es in Isert ein freiwilliges neuntes Schuljahr. Das ist umso bemerkenswerter, als es im „Haus in der Sonne“ keine ausgesuchte Eltern- und Schülerschaft gab. Selbstverständlich war auch, dass der Unterricht von Fachleuten aus dem Dorf oder der benachbarten Stadt Altenkirchen, sog. Laienlehrkräften – oder, wie die Kinder sie nannten, „Privatdozenten“ – unterstützt wurde. Aber nicht nur, dass das Leben in die Schule hineingeholt wurde, auch trugen die Kinder ihr Schulleben ins Dorf und in die Welt hinaus: Sie arbeiteten in Werkstätten, forschten in der Natur, spielten Theater im Nachbarort oder in der Kreisstadt Altenkirchen, unterhielten Briefwechsel mit vielen Schulen Deutschlands und des Auslands.
Auch verfassten sie Artikel für die Schülerzeitung „Neues aus dem Scheunenviertel“, die regelmäßig in der Altenkirchener Kreiszeitung abgedruckt wurde. Über die Aufnahme der Artikel entschied die ganze Klasse, der der Autor seine Arbeit zur allgemeinen Kritik vorlegen musste. Diese Zusammenarbeit mit der Zeitung war sehr erfolgreich. Hierzu stellte Kircher fest:
Der Gedanke einer Kinderbeilage findet immer mehr Beachtung. Andere Kreisblätter versuchen nach unserem Vorbild eine ähnliche Spalte zu schaffen. Sogar in pädagogischen Fachzeitschriften, die bisher ausschließlich für Lehrer bestimmt waren, erscheint eine Kinderzeitung.
Und zum Ziel der Schülerzeitung heißt es:
Unser „Scheunenviertel“ soll kein Tummelfeld kindlicher Eitelkeiten sein, sondern ein Fenster, in das Vorübergehende hineingucken, durch das sie die „neue Schule“ an der Arbeit sehen. Wenn diese „neue Schule“ so häufig Gegenstand des Zweifels, des Spotts, der Verleumdung ist, so muss sie Recht und Mut haben, ihren Alltag unaufdringlich in die Debatte zu bringen.
Eine weitere Institution des „Hauses in der Sonne“ – wie auch generell vieler Reformschulen in der Weimarer Zeit – war das Schultheater. Schon im ersten Jahr von Kirchers Wirken in Isert – 1923 – gab es eine Theateraufführung. Prinzip war, dass die Theaterarbeit stets aus einem konkreten Anlass entstand. Das waren Schulfeiern, Gedenkfeiern oder eine Projektarbeit. Die Aufführungen blieben nie auf die Schule und die Schüler beschränkt, sondern suchten die Einbindung in das Gemeindeleben. Dabei führte man die Stücke nicht nur für die Gemeinde auf. Vielmehr wirkten auch der Posaunenchor, der Gesangverein oder auch die Frauen des Dorfes mit.
Aufgeführt wurden etwa Kasperle-Stücke, aber auch ein selbstgeschriebenes Stück, ein Volksschauspiel in drei Aufzügen mit dem Titel „Eselsberg“. Später berichtete ein Schüler über die Entstehungsgeschichte des Stücks:
In der Nähe meines Heimatortes liegt ein zerfallenes Silberbergwerk, vom Volksmund „Eselsberg“ genannt. (…) Wir machten zunächst eine Lehrwanderung zu dem alten Stollen. Dort hörten wir die Sage an Ort und Stelle. Es geschah zu einer Zeit, als in Deutschland der Tanz ums Goldene Kalb allgemein wurde und auch auf einsame Dörfer übergriff. Ein zeit- und heimatnaher Stoff also. Stegreifartig wurde der Stoff behandelt. Wir brachten ihn zuerst in Mundart ohne jeden szenischen Aufbau. Auch keine Spieler wurden ernannt. Sie gingen von selbst aus der Klassengemeinschaft hervor. Die Klasse entschied, ob sich jemand für die Rolle eignete oder nicht. So erstanden Spieler und Gegenspieler. Allmählich nahmen die einzelnen Bilder immer mehr Gestalt an. Nun erst begann die schriftliche Festlegung. Die Klasse wurde in Gruppen aufgeteilt. Jede bearbeitete ein Bild. In einer Gemeinschaftsarbeit wurden die Bilder zu einem Ganzen gefügt. Unser Lehrer, Wilhelm Kircher, dramatisierte später diesen Stoff nach dem von der Oberstufe aufgestellten Plane. Das Werk wurde dann von uns Schülern mehrfach öffentlich aufgeführt.
Der „Eselsberg“ entwickelte sich zu einem wahren Kassenschlager und spielte 500 Mark ein! Das Geld steckten sie in ein neues Projekt: in das Blockhaus im nahegelegenen Wald, in die Sommerschule und „Nest“ der Jugend. Bei der Einweihungsfeier des Blockhauses gab es dann ein weiteres Theaterstück: „Das Spiel ums Blockhaus“. Der Vorplatz des Blockhauses wurde dann bald zur Freilichtbühne und das Schultheater wurde zum Laienspiel erweitert. Aus der Schule Entlassene und ältere Gemeindemitglieder gründeten eine Laienspielgruppe. Unter Leitung und Mitwirkung Kirchers führte sie im Jahr 1932 „Wilhelm Tell“ auf und begeisterte über mehrere Wochen hinweg mehrere Tausend Besucher.
Das imponierendste Projekt Kirchers und seiner „Schule in der Sonne“ war der Schulfunk. Das war damals noch eine ganz neue Sache. Im Jahre 1923 hatte es die erste Rundfunksendung in Deutschland gegeben. Am 25. April 1928 hatte der Westdeutsche Rundfunk mit regelmäßigen Schulfunksendungen begonnen. Von Anfang an dabei war Wilhelm Kircher. Am ersten Sendetag des Schulfunks hielt er seinen ersten Rundfunkvortrag über pädagogische Fragen. Schon früh hatte das „Haus in der Sonne“ einen eigenen Rundfunkempfänger und man wählte Sendungen aus und besprach sie im Unterricht. Vor allem gestalteten die Schüler auch Funkstunden selbst. So war Kircher an vier Tagen im Mai und Juni 1928 mit „allen Jahrgängen“ seinem „Haus in der Sonne“ beim Westdeutschen Rundfunk in Köln – weil eine Übertragung aus der Schule an technischen Schwierigkeiten gescheitert war. Dort gestalteten sie dann selbst Schulfunksendungen live.
Im Frühjahr 1930 erhielt das „Haus in der Sonne“ vom Westdeutschen Rundfunk als erste Schule in der Geschichte des Schulfunks die Möglichkeit, sich in einer zwölfteiligen Sendereihe selbst einer pädagogisch interessierten Öffentlichkeit vorzustellen. Das Jahresthema des Schulfunks lautete „Das Dorf und die weite Welt“ und die Sendereihe griff dieses Thema auf. Wie es in diesen Sendungen zuging, illustriert ein Brief, den die Schüler in Isert an ihre Partnerschule in Amerika schrieben.
Habt Ihr in Amerika schon einmal vor dem Lautsprecher gesessen und Musik oder Vorträge gehört? Wenn Ihr dann den deutschen Sender Langenberg eingestellt hättet, so würdet Ihr uns deutsche Kinder vom Haus in der Sonne gehört haben. Denn wir haben im Sommer öfters Schulstunden vor dem Mikrophon gehalten. Das Mikrophon ist ein wahres Wunderkästchen, es fängt jeden einzelnen Ton auf, der Ton geht dann durch die Drähte und Maschinen hinaus in alle Welt, er kommt sogar zu Euch nach Amerika. Wir konnten dies zuerst nicht von unserer Schule aus machen, wir mussten in einem großen Omnibus nach dem Sender fahren, und dort hielten wir in einem mit Teppichen behangenen Zimmer Unterricht. Jetzt haben wir es einfacher, es kommt jeden Mittwoch ein Auto zu uns mit dem Mikrophon und den sonstigen Apparaten zum Senden. Der Ton geht nun von der Schule durch eine Leitung, die extra gelegt wurde, zum Sender, von dort aus wird er wie sonst in alle Welt geschickt. Nun wollen wir Euch auch schreiben, wie und was wir gearbeitet haben. (…) In der nächsten Stunde hatten wir Erdkunde. Die Kleinen ließen den Gulliver durch ein Dorf schreiten, welches sie im Sandkasten angefertigt hatten, und lernten dabei den verkleinerten Maßstab. Die Größeren wurden in Gruppen eingeteilt und forschten in Atlanten und Büchern, woher die einzelnen Lebensmittel kämen, die wir zu unserem täglichen Gebrauch haben müssen. Auf einem Brett stellten wir die Lebensmittel der Reihe nach auf, darüber hingen wir eine Erdkarte und zogen Fäden von den einzelnen Lebensmitteln zu den Ländern auf der Karte, wo sie herkamen. (…) Die sechste Stunde war eine Rechenstunde. Wir hatten den ganzen Schulsaal in eine Ladenstraße eingerichtet. Rechts und links waren Geschäfte. Wir hatten uns alle in Gruppen eingeteilt und folgende Geschäfte gebildet: Als erstes Geschäft eine Tabakstube, die hieß „Zum blauen Qualm“. Ein Gemüsegeschäft: „Zur ausgerechneten Banane“. Ein Kaffee- und Schokoladengeschäft: „Brasilius“. Eine Kolonialwarenhandlung: „Rosina Leckermaul“. Eine Wechselstube: „Zur Dollarprinzessin“. Als Letztes eine Großhandlung mit Namen „Proz-Entrich““. Sie hatte ihren Namen dadurch, weil sie mit Prozenten rechnete. Damit nun alle Geschäfte tüchtig verlaufen konnten. Bildeten wir eine 12-köpfige Familie. Die Kinder waren aus den einzelnen Schuljahren; sie kauften also nach ihrem Können ein.
An diesen kleinen Ausschnitten dürfte deutlich geworden sein, dass für Kircher im Mittelpunkt der Erziehung das einzelne Kind stand. Einer seiner Grundsätze war:
Jede wahre Erziehung geht aus der „Individuallage“ des zu Erziehenden hervor. Die Erziehungsintention will jedes Kind um seiner selbst willen in seiner Wertigkeit sichern und fördern; sie will Dauerbeständigkeit der dem Kinde erreichbaren höchsten Wertigkeit.
Ziel waren dabei individuelle Persönlichkeiten, „die die Gesetze der Materie meistern lernen durch Denken und nicht durch Herkommen und Gewohnheit“.
Dieser Unterricht Kirchners hatte natürlich kein starres Stundenplan- und Fächersystem. Ebenso existierten keine ziffernmäßigen Zensuren. Den Abschluss eines Projekts bildeten Sammel- und Protokollbücher, Rechenschaftsberichte, Ausstellungen, Aufführungen oder andere öffentliche Präsentationsformen. Rechtlich abgesichert waren diese Unterrichtsformen durch den Versuchsschulstatus der Schule und die persönliche Fürsorge des Koblenzer Schulrats sowie eines Ministerialdirektors im Preußischen Kultusministerium. Kircher arbeitete mit diesen exponierten Vertretern der Schulverwaltung bald sehr eng zusammen und begann, im Auftrag des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht seine Erfahrungen auf Tagungen, Vortragsreisen, die ihn auch ins Ausland führten und durch Rundfunkvorträge anderen Kollegen mitzuteilen und sich für eine breit angelegte internationale Landschulreform einzusetzen. Durch diese weit ausgreifende Arbeit Kirchers wurde der Besucherkreis des „Hauses in der Sonne“ immer größer und größer: Es kamen pädagogisch interessierte Gäste und Hospitanten aus Dänemark, Holland, Estland, Österreich, der Schweiz, der Tschechoslowakei, England und sogar aus Amerika nach Isert.
Tja, meine Damen und Herren. Das war Pädagogik „at its best“. Da würden sich heute noch manche Lehrer und Schulen die Finger danach lecken, wenn sie so etwas hinbekämen – und das nicht nur einmal im Jahr bei einem Projekttag – sondern als durchgängiges Unterrichtsprinzip. Und das gab es schon vor 80 Jahren – und nicht irgendwo, sondern hier bei uns. In einem Dorf in der Nähe von Altenkirchen und gefördert durch einen Schulrat aus Koblenz und einen Ministerialdirigenten im Preußischen Kultusministerium. Und entwickelt, praktiziert und gelebt von einem jungen Lehrer, den es mit seiner ersten planmäßigen Anstellung in ein „Kaff“ im Oberwesterwald verschlagen und der sich zum Ziel gesetzt hatte: „Erziehung des Bauernbuben zur Weltläufigkeit“.
In unserer Schilderung sind wir inzwischen zeitlich am Ende der Weimarer Republik angekommen. Von Politik haben wir bis jetzt nicht viel mitbekommen. Das ist auch von der Darstellung her richtig. Denn für Wilhelm Kircher hatte die Politik nur eine untergeordnete Bedeutung. Im Mittelpunkt seiner Lebenswelt stand die pädagogische Arbeit in der Schule und im Dorf. Auch war er sehr anpassungsfähig. Als Jugendlicher und Kriegsteilnehmer war er „kaisertreu“. In der jungen Weimarer Republik war er – wie man es so schön nannte – „Vernunftsrepublikaner“ – und nicht „Herzensrepublikaner“, letzteres waren ohnehin die wenigsten.
Und dann kam die sog. Machtergreifung der Nazis, der 30. Januar 1933 und der Anfang der Nazizeit. Im Nachhinein schrieb Kircher in der offiziellen Schulchronik über diese Zeit:
Das Jahr beginnt mit lebhaftem politischen Interesse der Gemeinde. (…) Der 30. Januar wird in der ganzen Gemeinde gefeiert. An dem Tag, an dem Hitler Reichskanzler wurde, herrscht allenthalben eitel Freude. Dieses Bekenntnis zur nationalen Erhebung bekundet sich auch durch die Feiern am 21. März, der erste Reichstagseröffnung, an der Schulentlassungsfeier am 31. März, an Hitlers Geburtstag am 20. April, am Tag der Arbeit am 1. Mai und am Johannistag beim Sonnenwendfeuer. An allen Tagen werden in der Schule die entsprechenden Rundfunkfeierstunden übertragen.
Erst ein Jahr später, Anfang August 1934 nach dem Tod des greisen Reichspräsidenten von Hindenburg, setzte Kircher seine Schulchronik fort. Am „Tag der Beisetzung des Generalfeldmarschalls v. Hindenburg“, des „Einen Unvergesslichen, des Vater(s) des Vaterlandes“ schrieb Kircher für das letzte Jahr sieben Seiten, die höchst euphorisch beginnen: „Die neue Zeit hat alle Herzen erhoben! Wir sehen nur Schönes und sind alle begeistert.“ Begeistert ist er auch vom „hohen Gedanken deutscher Einheit und Kraft“. Auch notierte er zwei Fahrten der Kinder ins Siebengebirge (zu Erinnerung an die Separatistenabwehr 1923) sowie nach Rüdesheim und Koblenz. Weiterhin verzeichnete er die hundertprozentige Zustimmung der Gemeinde zum Austritt aus dem Völkerbund und interpretierte sie als „Forderung nach Gleichberechtigung“.
Das sind schon deutliche Worte eines zuvor „unpolitischen“ Menschen. Doch bei den Worten ist es nicht geblieben. Am 1. April 1933 trat Kircher in die NSDAP ein. Er gehörte damit zu den sog. „Märzgefallenen“, das waren vor allem Beamte, die in dem „neuen Staat“ nicht abseits stehen wollten. Sie traten generell aus Opportunitätsgründen in die NSDAP ein, um mit dabei zu sein, nicht als Außenseiter aufzufallen und sich die Karrierechancen zu erhalten bzw. zu befördern. Bald darauf wurde Kircher auch Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbundes. Hier trat er nicht ausdrücklich ein. Vielmehr wurde er gleichsam als Mitglied des Deutschen Lehrerbundes in den Nationalsozialistischen Lehrerbund übergeleitet, als sich der Deutsche Lehrerbund selbst gleichschaltete und korporatives Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbundes wurde.
Dieses erkennbare Wohlverhalten sollte sich für Kircher schnell auszahlen. Denn noch im Dezember desselben Jahres – also 1933 – wurde er zum Kreisfachschaftsleiter für Lehrer an Volksschulen ernannt worden. Ein Jahr später erfolgte seine „Beförderung“ zum Gaufachschaftsleiter der Fachschaft IV: Lehrer an Volksschulen im Nationalsozialistischen Lehrerbund. Mit dieser fachspezifischen Karriere ging auch eine beamtenrechtliche Karriere einher. Denn zur gleichen Zeit wurde er zum Hauptlehrer befördert und nach Winningen an der Mosel versetzt.
In Winningen war die Situation schon etwas anders als in Isert. Winningen war damals schon ein größeres Dorf mit ca. 2.000 Einwohnern. Auch gab es dort keine einklassige Dorfschule. Vielmehr war die Schule größer. An ihr unterrichteten fünf (eine zeitlang auch nur vier) Lehrer. Er konnte nicht mehr die Kinder vom ersten Tag an erziehen, sondern war „nur“ Klassenlehrer in den Oberklassen – in der 7. und 8. Klasse. Als Hauptlehrer war er Vorgesetzter der anderen Lehrer und er musste sich mit ihnen arrangieren und ggf. sehen, dass er sie für sein Unterrichtskonzept gewinnen konnte. Im Übrigen war in der Schule der Nazis weder Platz für das Rundfunkengagement noch für die internationalen Beziehungen.
In den Äußerlichkeiten bemühte sich Kircher aber, seine reformpädagogische Arbeit, die er im „Haus in der Sonne“ begonnen hatte, fortzusetzen. Auch die Winninger Schule sollte andere Schulen zur Umstellung der Arbeitsweise anregen. Auch entstanden – wie in Isert – mehrere Räume für Werk- und Gruppenarbeit und die Räume wurden mit Schülerarbeiten atmosphärisch angenehmer gestaltet; auch wurden Lehr- und Lernmittel selbst gestaltet. Ebenso wurden die Eltern in die Schularbeit eingebunden und Laienlehrer eingesetzt. Wie in Isert wurde eine Waldschule errichtet. In ihr verbrachte Kircher mit seinen Schülern manchmal mehrere Tage, um besonders intensiv ein Gemeinschaftsleben entfalten zu können. Auch blieb sein Verständnis von Schule maßgeblich reformpädagogisch geprägt. Er blieb seinen pädagogischen Wurzeln treu. Die Schule war für ihn kein Kasernenhof. Aber schon mit der Schülerselbstverwaltung – wie er sie in Isert gepflegt hatte – war in der Schule der Nazis nicht weit her. Gleichwohl hielt Kircher an einer Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Schülers fest.
Die Methoden und Elemente waren ganz ähnlich. Wichtig waren Feste und Feiern, Wanderungen und Großfahrten sowie Theateraufführungen. Aber alles – oder sehr vieles – hatte die Inhalte der NS-Ideologie. So kam es, dass Kircher, der seiner Reformpädagogik weitgehend treu blieb, mit dieser eindeutig nationalsozialistische Inhalte transportierte.
Das fing schon bei den Festen an. Die Anlässe hierfür waren natürlich die nationalsozialistischen Feiertage. Dabei war auf dem Land das Erntedankfest besonders wichtig. Mit diesem Fest ging einher die Glorifizierung des Bauerntums. Einen Eindruck vermittelt das nachfolgende Zitat, das aus Kirchers 1934 erschienenen Aufsatz „Aufbruch des Bauerntums“ stammt: „Die biologische Aufgabe des Bauerntums ist die erbhochwertige Hege deutschen Blutes, geistig wollen wir weg von aller Fremdtümelei zu den seelischen Grundwerten unserer Rasse: Führertum, Gemeinschaft, Arbeit, Wehr. Religiös fordern wir ein ‚arteigenes’ Christentum. Familie, Beruf (als Bauer), Jugend- und Männerbund und Kirche sind die Stätten dieser an den Grundwerten der Rasse orientierten Erziehung.“
Besonders wichtig für Kirchers pädagogisches Konzept waren Wanderungen und Großfahrten, die er im Sommer mit der Abschlussklasse durchführte. Sie sollten neben den feiern Schule und Leben miteinander verbinden.
Schon die Wanderungen hatten ein ganz spezielles Gepräge:
Zu einer guten Fahrt gehören körperliche Ertüchtigung, Charakterschule und Wissensvermittlung, Frühsport, Flaggenehrung, Marsch und Führungen durch Ortschaften, gemeinsame Mahlzeiten, Mannschaftsspiele gegen die Jugend der besuchten Gegend, Appelle, wenn nötig einmal ein Gewaltmarsch mit Verzicht auf warmes Mittagessen, Heimabende machen eine richtige Fahrt zu dem, was sie heute sein soll: zu einem Mittel politischer Erziehung.
Wenn für Kircher bereits die Wanderungen ein Mittel politischer Erziehung waren, so waren es die Großfahrten erst recht:
Weil wir den totalen Menschen schulen und erziehen wollen, aus der totalen Erziehung und Schulung aber nicht irgendein Stück willkürlich herausgebrochen werden kann, brauchen wir auch die Großfahrt. Die Erzieher, die von der Jugendbewegung her die Großfahrt kennen, können sie aus ihrem Erziehungsplan für die schulpflichtige Jugend nicht
Gleich im ersten Winninger Jahr – im Jahr 1935 – unternahm Kircher eine viertägige Mittelmoselfahrt mit dem Ziel, dass „ein Bild in der Seele (der Schüler) entsteht, von dem Schicksal dieses Grenzgaus, der durch Jahrhunderte im Kampf gegen Frankreich schwerste Opfer zahlen musste.“ Höhepunkt der Wanderung war die Begegnung mit Werner Beumelburg in dessen Geburtsort Traben-Trarbach. Beumelburg, Sohn eines Pfarrers und Superintendenten, war damals ein wegen seiner historischen und Kriegsromane sehr bekannter Schriftsteller. Den Schülern las er aus eigenen Arbeiten vor, u.a. aus seinem Buch „Mont Royal“, das die Geschichte der bei Traben-Trarbach gelegenen gleichnamigen Burg erzählt. So eingestimmt, besuchte man die inzwischen zur Burgruine gewordene Mont Royal. Einige Jungen, die zum Winninger Jungvolkfähnlein „Stoßtrupp Gneisenau“ gehörten, waren von der Stimmung so beeindruckt, dass sie spontan ein Gedicht verfassten. Es begann mit den Zeilen:
Wir sind der Stoßtrupp Gneisenau,
des Mosellandes jüngste Soldaten,
das Banner schwarz, die Augen blau,
und treu die Kameraden.
Das Lied endete dann mit:
Marienburg und Mont Royal,
der Schönheit, des Trotzes Symbole.
Wer dich begehrt, oh mein Moselland,
den soll der Teufel holen.
Die Begegnung mit Beumelburg war offenbar sehr inspirierend. Denn sie veranlasste einen 14-jährigen Schüler, Beumelsburgs Roman „Gruppe Bosemüller“ in ein Theaterstück umzuschreiben. Dies wurde als „Schülerdrama“ am 1. April 1936 im Gasthaus „Krone“ in Winningen aufgeführt und war ein großer Erfolg. Der Roman – wie auch das Stück – verherrlichte den Krieg und korrespondierte wohl auch mit Kirchers eigenen Erlebnissen während des Ersten Weltkrieges. Im Vordergrund stand der Mythos von der „Frontkameradschaft“.
Mit dem Geld aus dieser Aufführung vor Eltern und auch vielen interessierten Winningern konnten die Schüler ihre Reisekasse auffüllen, so dass sie im gleichen Jahr auf Großfahrt nach Potsdam gehen konnten. Das Ziel war bewusst gewählt, denn Potsdam gehörte zu den wichtigsten Winninger (Wein-)Patenstädten. Auf dem Weg dorthin sollten die Schüler „Größe“, Geschichte und „Errungenschaften“ ihres „Vaterlandes“ als Leistungen des Deutschen Reiches im allgemeinen und des NS-Staates im besonderen kennen und schätzen lernen, damit sie im Anschluss daran ihre Alltagspflichten für diesen Staat „um so freudiger“ erfüllten. Stationen auf der Reise nach Potsdam waren folgende Wallfahrtsorte“ deutscher Geschichte und der NSDAP: der Römer in Frankfurt/Main, die Wartburg, die Schlosskirche zu Wittenberg, die Leunawerke, Naumburg, die Garnisonskirche in Potsdam, die Reichskanzlei in Berlin, das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, das „erste Lokal“ der HJ in Plauen, das Bayreuther Festspielhaus, das Haus der deutschen Erziehung in Nürnberg, das Nürnberger Parteitagsgelände, die Grabstätten Schillers, Goethes, Friedrich Wilhelms I., Friedrich des Großen, Richard Wagner und Walters von der Vogelweide. In Potsdam wurde man nicht nur vom Oberbürgermeister begrüßt, sondern es kam auch wieder zu einer Begegnung mit dem Schriftsteller Beumelburg.
Bei so viel Kontakt und „geistiger Verwandtschaft“ mit Beumelburg war es nur folgerichtig, die Winninger Volksschule am 19. Februar 1937, dem 38. Geburtstag ihres „Dichterpaten“, in „Werner-Beumelburg-Schule“ zu benennen und ihm mit Beschluss des Gemeinderates vom 12. November 1939 zum Ehrenbürger von Winningen zu ernennen. In Dankbarkeit und in Verehrung für ihren „Dichterpaten“ und sicherlich auch in Erinnerung an die Mittelmoselfahrt im Jahr 1937 führten die Schüler später dessen Roman „Mont Royal“, der ebenfalls dramatisiert worden war, auf. Wie es damals hieß zeigte das Stück in der schlimmsten Tyrannei durch den Franzosenkönig Ludwig XIV. das Moselvolk in seinem echten Heldentum und in seinem Glauben an das Reich. Es war so richtig nach dem Geschmack der Zuschauer. Denn es kam offensichtlich so gut bei den zahlreichen erschienenen Eltern und Freunden der Schule an, dass „reicher Beifall die wackere Spielschar (belohnte)“.
Die Großfahrt im Sommer 1937 führte in die zweite Weinpatenstadt Winningens, nach Kiel. Auf dieser „Lehrfahrt“ machte die Gruppe auch wieder Station an den „Weihestätten“ deutscher Geschichte. Zudem legte sie einen Zwischenstopp in einem Landjahr-Lager ein, in dem auch ehemalige Winninger Schüler waren. Dort gab es ein herzliches Wiedersehen auch mit ihrem früheren Lehrer Kircher.
Die letzte Großfahrt ging 1938 nach Süddeutschland und in die Alpen. Der „tiefste Sinn“ der Fahrt – so Kircher in seinem Antrag an die Schulbehörde – sei es, „die Jugend mit der Hauptstadt der Bewegung, mit dem befreiten Österreich in engste Berührung zu bringen.“ In München, der „Hauptstadt der Bewegung“, waren die Schüler Gäste von „Blutordensträgern“, die im Jahr zuvor in Winningen zu Besuch waren; zu Mittag aßen die Winninger im „Braunen Haus“.
Zu Hause waren die Laienspiele, die „nationalen Weihespiele“ ein Höhepunkt. Bekannt ist die Aufführung von vier solcher Laienspiele. Neben den Dramen „Gruppe Bosemüller“ und „Mont Royal“ – jeweils nach Romanen des Dichterpaten Beumelburg dramatisiert – waren das „Die schwarze Wiege“ (ein Spiel aus dem Bauernkrieg nach Beumelburgs „Reich und Rom“) und als viertes Stück „Schwert im Wappen, Treue im Herzen“ (ein Winninger Heimatspiel).
Alle diese Laienspiele dienten der politischen Erbauung und der Wehrerziehung. Dabei war Wehrerziehung für Kircher keine Aufgabe, der er sich erst mit dem Kriegsbeginn stellte. Nach seiner Auffassung nach war die „gesunde nationalsozialistische Erziehung ihrem innersten Wesen nach wehrpolitisch“ – anders gesagt: „Bei uns (sind) Wehrerziehung und allgemeine Erziehung eins“. Wie das so ablief, schilderte Kircher einmal so:
Am 29. Juni 1939 jährte sich zum 20. Male die Wiederkehr des Tages der Unterzeichnung des Versailler Schandvertrages. An diesem tag mache ich mit meinen Buben eine Frühwanderung, nachts um 2 ½ Uhr brechen wir auf. Zunächst beobachten wir das Erwachen der Vogelwelt. Kurz vor Sonnenaufgang sind wir auf einer Anhöhe über Winningen zu einer Feierstunde angetreten. Um 4.32 Uhr taucht der Sonnenball aus dem Frühnebel auf. Jetzt beginnt die Feier. Wir gedenken der Not, die durch Versailles über Deutschland gekommen ist, wir hören die Worte des Führers.
Wir singen. Trutzig klingt es in der frühen Morgenstunde auf: „Nur der Freiheit gehört unser Leben!“ Und wir wissen: der Führer führt Deutschland der Sonne entgegen.
Nach der Feier gehen wir mit einem kundigen Jungbauern durch die Gemarkung und achten auf die sichtbaren Spuren der Erzeugungsschlacht. (…)
Der Führer verlangt von uns jungen Bauernsöhnen höchste Berufsleistung in Einsatz für die Erzeugungssteigerung. Er verlangt von uns Härte, Gesundheit, Wehrwillen und Wehrfähigkeit. Er verlangt von uns ein dreifaches Soldatentum: Wir müssen werden Soldaten der Scholle, politische Soldaten und Soldaten der Wehrmacht. Die totale deutsche Erziehung will das erreichen.
Radikalisiert durch den totalen Krieg formulierte Kircher unmissverständlich:
Die nationalsozialistische Schule (ist) (…) keine Gelehrten- und keine Bildungsschule, (auch) nicht Vorstufe des Berufes (…), nicht Stätte der Jugendgemeinde (…), nicht Atelier des kindlichen Genius, (nein, sie ist) eine Waffengefährtin der politischen Volksführung, sie ist Weltanschauungsschule.
Problemlos gelang es Kircher, seine reformpädagogische Didaktik, die doch an sich einen emanzipatorischen Erziehungsauftrag verfolgte, mit nationalsozialistischer Ideologie zu füllen und sie in den Dienst des von Hitlers entfesselten Weltkrieges zu stellen.
Während Kircher Hauptlehrer in Winningen war, war er zugleich Funktionär im Nationalsozialistischen Lehrerbund. Zwei Wochen vor seiner Versetzung und Beförderung nach Winningen war er ja Gaufachschaftsleiter für die Lehrer an Volksschulen geworden. Als solcher hatte er vor allem die Lehrer auf den Nationalsozialismus ideologisch auszurichten. Das geschah vor allem durch Schulungen und da insbesondere durch Schulungslager. Die Funktion dieser Lagerschulung beschrieb der Koblenzer Gauwalter und Chef der Schulverwaltung wie folgt:
Vielen unserer Erzieher fehlt das Erlebnis der Frontgeneration. (…) Darum gehören sie für einige Wochen ins Lager, worinnen durch Kameradschaft und lebendige Gemeinschaft ein erprobter Weg vom ich zum Wir und zum Volke führt. In solchen Lagern findet die planmäßige Überholung und Schulung statt. Gerade für die Schulung im engeren Sinne, für das Eindringen in das Gedankengut des Nationalsozialismus ist hier der rechte Ort. (…) Dieser nationalsozialistischen Ausrichtung der Erzieherschaft dienen Vorträge, Volks-, gelände- und Wehrsport, Turnen und Wandern, Singen und Spielen am Feierabend sowie die Verbindung mit der Bevölkerung und mit der Schule am Ort des Lagers. Für das Lagerleben besteht das Wichtigste in der Pflege der Kameradschaft, die in Lehren und Lernen, in Spiel, Arbeit und Feier zum Vorschein kommen muss. (…) Durch Wort und Tat sollen die Lager in die nationalsozialistische Weltanschauung einführen. In den Vorträgen werden darum die Geschichte und das Gedankengut der nationalsozialistischen Bewegung dargelegt, die wichtigsten Maßnahmen des Staates seit der Machtübernahme werden besprochen. Dann werden die neuen Stoffgebiete, Rassenkunde und Vorgeschichte einführend behandelt.
Diese Schulungslager dauerten mehrere Wochen und dafür steckte man die Lehrer in Uniformen. Die zentrale Lehrer-Schulungsstätte des Gaues Koblenz-Trier lag in dem Westerwalddorf Friedewald. Dort gab es ein Renaissanceschloss, der der Nationalsozialistische Lehrerbund gemietet hatte. Der erste Lehrgang fand im Herbst 1935 statt. Insgesamt sind 41 Lehrgänge bekannt. An 28 von ihnen war Kircher beteiligt, meist als Referent, bei sechs Lagern auch als Lehrgangsleiter. Der Tagesablauf dieser Lehrgänge war im Lager immer gleich. Neben rituellen Handlungen wie Flaggenhissung und Flaggeneinholen stand Sport auf dem Tagesplan. Schwerpunkt waren dann weltanschauliche und fachliche Vorträge. Kirchers Standardvortrag hieß „Organisches Weltbild“ bzw. „Organische Pädagogik“. Darin schilderte er auch, wie er dieses Weltbild und die Pädagogik in seiner Werner-Beumelberg-Schule in Winningen umsetzte.
Für diese Zwecke wurde Kircher vereinnahmt und er ließ sich auch vereinnahmen. Und er tat es offensichtlich – wie sehr vieles in seinem Leben – mit Begeisterung. Dazu schrieb er:
Im Lager aber können die Lehrer die Wirkung der Fahnenfeier an sich selbst erleben. Das ist namentlich wichtig und nötig für ältere Lehrer, die bisher nicht wie ihre jüngeren Kollegen in einer Lagergemeinschaft gestanden haben. Wenn sie ins Lager eingetreten sind und sozusagen alle privaten Reservate auf Kammer abgegeben haben, wenn sie in gleicher Uniform antreten, in normierten Betten schlafen, am gleichen und für alle verbindlichen Tagesablauf vom Frühsport über Schulung und Arbeitsdienst bis zur Abendrunde teilnehmen, dann erfahren sie an sich: Wer auf die Fahne der Mannschaft schwört, hat nichts, was ihm noch selbst gehört!
Das war Kern und Ziel der nationalsozialistischen Lagerpädagogik: die Auflösung der Persönlichkeit. Die Wirkung eines solchen Lagerlebens hat einmal sehr treffend der Publizist Sebastian Haffner beschrieben. Er war in keinem Lehrer-Schulungslager, wohl aber – als angehender Jurist – im Herbst 1933 in einem ganz ähnlichen Lager, dem Hanns-Kerll-Lager für Rechtsreferendare in Jüterbog. Dazu stellte Sebastian Haffner folgendes fest:
(Es war der 13. Oktober 1933 und im Radio kam die Meldung, dass Deutschland die Abrüstungskonferenz und den Völkerbund verlassen habe.) Als (der Sprecher) ausgeredet hatte, kam das Schlimmste. Die Musik signalisierte: Deutschland über alles, und alles hob die Arme. Ein paar mochten, gleich mir, zögern. Es hatte so etwas scheußlich Entwürdigendes. Aber wollten wir unser Examen machen oder nicht? Ich hatte zum ersten Mal, plötzlich ein Gefühl so stark wie ein Geschmack im Munde – das Gefühl: „Es zählt ja nicht. Ich bin es ja gar nicht, es gilt nicht.“ Und mit diesem Gefühl hob auch ich den Arm und hielt ihn ausgestreckt in der Luft, ungefähr drei Minuten lang. So lange dauern das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied. (…)
(Und dann zum zentralen Begriff und Wert der „Kameradschaft“): (Ich) behaupte mit aller Schärfe, dass (…) diese Kameradschaft eins der furcht-barsten Mittel der Entmenschung werden kann – und in der Hand der Nazis geworden ist. Es ist das große Lockmittel, der große Köder der Nazis. (…) Sie haben die Deutschen überall zu Kameraden gemacht und sie vom widerstandslosesten Alter an an dieses Rauschmittel gewöhnt: in der Hitler-Jugend, der SA, der Reichswehr, in tausend Lagern und Bünden (…) Kameradschaft gehört zum Krieg. (…) Die Kameradschaft, um das Zentralste voranzustellen, beseitigt völlig das Gefühl der Selbstverantwortung, so im bürgerlichen Sinne, und, schlimmer, im religiösen. (…) Viel schlimmer ist, dass Kameradschaft dem Menschen auch die Verantwortung für sich selbst und vor Gott und seinem Gewissen abnimmt. Er tut, was alle tun. Er hat keine Wahl. Er hat keine Zeit. (…) Wenn wir – Referendare immerhin, Akademiker mit intellektueller Schulung, angehende Richter und gewiss nicht durch die Bank Schwächlinge ohne Überzeugungen und ohne Charakter – in Jüterbog binnen weniger Wochen zu einer minderwertigen, gedankenlos-leichtfertigen Masse geworden waren, … dann waren wir dies durch Kameradschaft geworden.
Soweit Sebastian Haffner über seine Zeit im Gemeinschaftslager Hanns Kerrl für Rechtsreferendare in Jüterbog und das „Gift der Kameradschaft“. Nicht viel anders war es im Lehrer-Schulungslager in Friedewald. - Und Wilhelm Kircher, der mit seiner Reformpädagogik die Individualität der Kinder fördern und fortentwickeln wollte, war da mitten dabei.
Und er machte weiter Karriere. Während seiner Zeit als Hauptlehrer in Winningen und noch vor dem Krieg wurde er Reichsreferent für Landschulfragen. Zum 1. Januar 1941 ernannte man ihn schließlich zum Reichsfachschaftsleiter der Fachschaft IV: Lehrer an Volksschulen. Während er Reichsreferent noch neben seiner Tätigkeit als Hauptlehrer in Winningen sein konnte, war das als Reichsfachschaftsleiter nicht mehr möglich. Das war eine hauptamtliche Tätigkeit mit Dienstsitz im „Haus der Deutschen Erziehung“ in Bayreuth. Kircher zog mit seiner Familie – mit seiner Frau und den inzwischen vier Kindern – von Winningen nach Bayreuth. Kirchers Aufgaben lagen vor allem in der Ausarbeitung und Neugestaltung von Lehrplänen und in der Ausrichtung der Lehrerschaft. Im Lehrer sah Kircher dabei auch den „Künder“ der nationalsozialistischen Weltanschauung:
Das Richtbild des Führers als des größten Volkserziehers aller Zeiten wird ungeahnte Energien aus denen herausholen, die sich mit heißem Glauben der Aufgabe verschreiben, die Schuljugend in die bedingungslose Gefolgschaft Adolf Hitlers zu stellen. Kämpfer und Künder, Kämpfer auf Schlachtfeldern und im Ringen um die innere Größe des Reiches, Künder heldischer Art, selbstlosen Opfers, reichster Innerlichkeit: das ist der Lehrer und Erzieher von heute.
Immer weiter entfernte sich Kircher von der früher gerade auch von ihm propagierten Individualbildung der Kinder.
Aus der Systemzeit stammt das Wort von Bertrand Russell: „Der ideale Lehrer sollte seine Kinder mehr als ein Vaterland lieben!“ Das bezeichnet typisch die weltanschauliche Hilflosigkeit der damaligen Epoche und ihren radikalen Schuloptimismus, der die Nation nicht sah, in der Leere der Abstraktion dem einzelnen Kind nachging und es in einem weltabgeschiedenen Wertreich ansiedelte. Es geht heute nicht um das Reich der Werte, es geht um das politische Reich der Deutschen. Der Lehrer sieht in dem Kinde nicht so sehr den werdenden Menschen, als er in der Jugend das kommende Volk liebt und so seinen Auftrag darin sieht, Jungvolk zu Volk empor zu bilden. Von der Nation her liebt der Erzieher und Lehrer die Jugend und das Kind.
Anfang 1943 – nach der verlorenen Schlacht um Stalingrad – waren Lehrplangestaltung und Lehrerbildung für den Nationalsozialismus kein relevante Themen und Aufgaben mehr. Die Dienststelle Kirchers wurde deshalb für die Dauer des Krieges „stillgelegt“ und Kircher wurde in die NSDAP-Gauleitung in Bayreuth übernommen. Seine Hauptaufgabe bestand offenbar in der Betreuung der pädagogischen Presse. Er selbst rief immer mehr zu einer „pädagogischen Mobilmachung“ auf. Die Titel seiner ab 1943 veröffentlichten Aufsätze sprechen eine deutliche Sprache: „Totaler Krieg – Totaler Einsatz“ – „Alleinarbeit in der Schule während des totalen Krieges“ – „Der volkstumspolitische Imperativ“ – „Germanische Renaissance“ – „Das Reich und die Schule“ – „Die Schule und der Sieg“ – „Das Reich und Europa“ – „Rassische Zucht, nordisches Lebensgefühl und politische Erziehung“.
Mit diesen und anderen Propagandaartikeln schaffte Kircher dann noch einen weiteren Sprung auf der Karriereleiter: Zum 1. März 1944 wurde er außerplanmäßiger „Reichsbeauftragter für die weltanschauliche Schulung der deutschen Erzieher“ im Hauptschulungsamt der NSDAP in München. Die NSDAP hatte jetzt für die Dauer des Krieges die weltanschauliche Betreuung und Ausrichtung der Erzieher selbst übernommen und Kircher half bei der weltanschaulichen Ausrichtung.
Den Krieg bezeichnete Kircher nun als „Rassenkrieg gigantischen Ausmaßes zwischen arischer Menschheit und Judentum“. Dieser zwinge zu einer „ausweglose(n) Unerbittlichkeit“, die besonders nach den Ereignissen des 20. Juli eines neuen Bekenntnisses zum Glauben an den Führer bedürfe. Nur ein solcher „unbezwingbarer Glaube“ sichere den Einsatz bis zum letzten. Hier galt dann weder das eigene noch das andere Leben etwas:
Mit dem Glauben wächst unsere Härte! An den Strang, wer in diesem Kampf die Schmuggelware der Friedenssehnsucht in die Front der starken Herzen tragen will, wer Feindesliebe predigt angesichts der bestialischen Mordsorgien unserer Gegner, wer Gefangenen gegenüber in Humanitätsduselei erstickt.
Das Kriegsende und die frühe Nachkriegszeit erlebte Kircher in Bayern. Dort wurde er dann auch als „Mitläufer“ (Gruppe IV) entnazifiziert. Einige Zeit später folgte er seiner Frau und seinen Kindern in den Westerwald und kehrte in das Elternhaus seiner Frau nach Isert zurück, wo diese zunächst wieder Unterkunft gefunden hatten.
Schon bald bemühte sich Kircher um die Wiedereinstellung in den Schuldienst, aus dem er ja seinerzeit mit der Übernahme von hauptamtlichen Aufgaben ausgeschieden war. Die Wiedereinstellung zog sich hin, erfolgte dann aber im Frühjahr 1950. Insbesondere die Schulverwaltungsbeamten sprachen sich für Kircher aus. Nach einigen Vorträgen, die Kircher vor Lehrern gehalten hatte, hieß es dazu:
Wenn auch einerseits in einem gewissen Umfange die politische Belastung des Herrn Kircher hier bekannt ist, so ist auch andererseits Kircher als ein Reformer der einklassigen Landschule allgemein bekannt. Es steht auch zweifelsfrei fest, dass sein Vortrag einwandfrei war und in Mayen gut aufgenommen wurde. Wenn auch in keiner Weise beabsichtigt ist, den Lehrer Kircher aus Hardert in besonderer Weise zu fördern oder hervorzuheben oder ihn ins Rampenlicht zu bringen, so glauben wir doch, bei unseren Vorschlägen keinen Missgriff bei der Rednerauswahl für die Tagung gemacht zu haben (…) und geben unserer Meinung Ausdruck, dass Herr Kircher ein seit drei Jahrzehnten bekannter idealistischer Reformer der Landschule ist, der über den westdeutschen Raum der Bundesrepublik bekannt ist.
Seine erste Stelle hatte Kircher in dem Dorf Hardert im Landkreis Neuwied. Das soziale und schulische Umfeld war ähnlich dem von Isert. Es war ein kleines Dorf mit einer einklassigen Dorfschule – allerdings gab es in Hardert etwas Kurbetrieb und auch die Modernisierung hatte eingesetzt. Kircher setzte auf Kontinuität – Kontinuität zu seinen früheren Schulversuchen in Isert und in Winningen. Er veranstaltete sogleich eine Elternversammlung, auf dem er seine pädagogischen Grundsätze erläuterte, unternahm mit seinen Kindern eine Fahrt nach Köln und Bonn, initiierte Stegreifspiele und Feiern. Ließ Theaterstücke aufführen und begann in der Schule mit Volksbildungsabenden. Bezeichnenderweise erhielt die Schule in Hardert ebenfalls den Namen „Haus in der Sonne“ und es gab auch wieder eine Waldschule, die im Sommer oft wochenlang genutzt wurde. Zudem brachte er auch pädagogische Elemente ein, die er vor allem in Winningen ausgebildet hatte – wie Leistungswettkämpfe, nur mit dem Unterschied, dass sie mehr (wehr-)sportlich ausgerichtet waren.
Eigentlich hatte Kircher – wenn schon Lehrer – einen Anspruch darauf, auch wieder als Hauptlehrer eingesetzt zu werden. Denn zuletzt war er ja Hauptlehrer in Winningen gewesen und er war durch die Entnazifizierung nicht degradiert worden. In Erkenntnis dessen bemühte sich die Schulverwaltung in Koblenz, ihn wieder als Hauptlehrer einzusetzen. Kircher verzichtete aber zunächst darauf und begründete das ausdrücklich mit seiner Vergangenheit in der NS-Zeit und auch mit dem Willen, den Schulversuch in Hardert fortsetzen zu wollen.
Im Jahr 1960 wurde er dann doch wieder Hauptlehrer, und zwar an der dreiklassigen evangelischen Volksschule in Boppard am Rhein. Dort blieb er bis zu seinem 65. Lebensjahr und blieb auch danach noch zwei Jahre im Angestelltenverhältnis im Dienst. Sein Beruf als Lehrer war ihm offenbar eine innere Berufung, die für ihn nicht an eine bestimmte Altersgrenze geknüpft war.
Als Kircher dann im Jahr 1968 starb, hatte er allein nach dem Krieg noch über 300 Veröffentlichungen gemacht. Seine letzten Vorträge bei der Volkshochschule u.a. hatten die Titel: „Die Zukunftsbedeutung der Hoffnung bei Ernst Bloch“ – „Der Mensch zwischen Angst und Hoffnung“ – „Die Bedeutung der Kunst und ob nach einem Wort von Adorno nach Auschwitz Dichtung noch möglich ist“. Sein letzter Vortrag befasste sich mit Teilhard de Chardin.