Massenmord an „lebensunwertem Leben“
RZ-Artikel von Joachim Hennig vom 29. November 2001:
Der Epileptiker Edmund Z. aus Koblenz
Unter dem beschönigenden Wort „Euthanasie“ (griech. „schöner Tod“) begingen die Nazis und ihre zahlreichen Helfer den Mord an über 200.000 Menschen. Weil sie behindert, alt, krank und sozial unangepasst waren, wurden diese Mitmenschen zu „unnützen Essern“, zu „Ballastexistenzen“, sie waren „lebensunwertes Leben“.
Die „Ausmerze“ - wie die Nazis das nannten - geschah in verschiedenen Phasen. Es begann 1934 mit der Zwangssterilisation psychisch Kranker. Im Zuge des II. Weltkrieges kam es zur systematischen Vergasung von mehr als 70.000 Kranken im Rahmen der Aktion „T4“ (benannt nach dem Sitz der Zentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin). Dazu beauftragte Hitler „Bevollmächtigte“ in einem privaten Schreiben mit einem einzigen Satz. Auf zahlreiche Proteste hin und weil die Aktion ihr vorgegebenes Ziel erreicht hatte, wurde sie im August 1941 gestoppt. In der Folgezeit, in der „zweiten Phase“, der sog. wilden Euthanasie, starben noch einmal mehr als 140.000 Menschen durch Gift oder durch gezieltes Verhungernlassen.
Das Reich war überzogen mit einem Netz von sechs Tötungsanstalten und zahlreichen „Zwischenanstalten“, in die die Kranken zur Tarnung und Organisation des Mordens zuvor „verlegt“ wurden.
Ein Opfer der Aktion T4 war der 1920 in Koblenz geborene Edmund Z. Seine Kindheit und Jugendzeit in Koblenz verliefen in geordneten Bahnen und „normal“. Edmund Z. besuchte die Volksschule, ohne sitzen zu bleiben, und absolvierte eine kaufmännische Lehre.
Dann trat er freiwillig in den Reichsarbeitsdienst ein. Nach vier Wochen bekam er seinen ersten Gehirnkrampf und wurde entlassen. Daraufhin bemühten sich seine Eltern um die Behandlung des Leidens. Zunächst wurde er in Koblenz fachärztlich betreut, später - als dies keine Besserung brachte - kam er in die Heil- und Pflegeanstalt Bonn. Auch dort besserte sich sein Zustand nicht. Die Krämpfe traten sogar häufiger auf, drei- bis fünfmal am Tag. Gleichwohl behielt er seinen Verstand und machte sich in der Anstalt durch vielerlei Arbeiten für Schwerkranke nützlich.
Im Mai 1940 passiert es dann: Edmund Z. gerät in die Aktion T4. Offenbar mit dem Transport vom 20. Mai 1941 wird er mit 25 Männern und 25 Frauen von Bonn in die Heil- und Pflegeanstalt Andernach „verlegt“. Anfang Juni schreibt er seiner Familie, sie hätten einen Ausflug nach Andernach gemacht, dort solle er bleiben. Daraufhin besucht ihn die besorgte Mutter in Andernach. Als drei Tage später seine Patin ihn ebenfalls besuchen will, ist er schon nicht mehr da. Der sofortige Anruf seiner Schwester bleibt ebenfalls erfolglos: Viermal wird sie von einer Stelle zur anderen weiter verbunden, dann hängt die Anstalt einfach ein. Am nächsten Tag ist sie in Andernach. Man verweigert jede Auskunft über den Verbleib des Bruders, gibt ihr aber die Adresse der Gesellschaft, die ihn abtransportiert hat. Auf ihren heftigen Protest hin bekunden die versammelten drei Herren der Anstalt ihre Unschuld an allem. In großer Sorge verlässt sie Andernach.
Tage später erhält die Familie aus Berlin Bescheid, Edmund sei nach Hadamar bei Limburg verlegt worden und sei in gutem Gesundheitszustand dort angekommen. Wegen ansteckender Krankheiten seien aber Besuche, Briefe und Pakete verboten. Wenige Tage später kommt die Nachricht: Tod am 3. Juli 1941 in Hadamar durch Pneumonie (Lungenentzüdung).
Die Wahrheit ist aber eine andere: Edmund Z. wurde noch am Tag seiner Ankunft in Hadamar vergast.
"Ostarbeiter" ausgebeutet
RZ-Artikel von Joachim Hennig vom 5. Dezember 2001:
Die ukrainische Zwangsarbeiterin Sofia M. im Kemperhof
Der nationalsozialistische „Ausländereinsatz“ zwischen 1939 und 1945 ist wie der Völkermord an den Juden in der Geschichte ohne Beispiel. In jenen Jahren waren mehr als 13 Millionen Kriegsgefangene und „Zivilarbeiter“, Männer, Frauen und Kinder, im „Großdeutschen Reich“ beschäftigt. Die meisten von ihnen, mit Sicherheit 80 %, eher noch 90 %, mussten Zwangsarbeit leisten. In der nationalen Hierarchie standen die Polen und vor allem die „Ostarbeiter“ (Russen, Ukrainer u.a.) als „slawische Untermenschen“ ganz unten. Millionen Menschen aus dem Osten entwurzelten die Nazis und ihre zahlreichen Helfer und verschoben sie wie Vieh hierher, um sie auszubeuten. Ihr Elend und die an ihnen begangenen Verbrechen sind weitgehend unaufgeklärt und namenlos.
In Koblenz lässt sich der Schleier der Unwissenheit und des Vergessenwollens nur an ganz wenigen Stellen und auch nur ein bisschen heben. Ein solcher Ort ist vor allem das Städtische Krankenhaus Kemperhof. Von ihm ist bekannt, dass dort hunderte von Zwangsarbeiterinnen ihre Leibesfrucht haben abtreiben lassen müssen. Aus den Akten wissen wir auch ein wenig von den dort beschäftigt gewesenen Hilfskräften.
Eine von ihnen war die Ukrainerin Sofia M. Sie musste zunächst in einer Urmitzer Schwemmsteinfabrik arbeiten. Bald erkrankte sie an einem Gallenleiden und kam deswegen im April 1943 in den Kemperhof. Da sie - wie es hieß - infolge ihrer Krankheit anderwärts nicht mehr leistungsfähig war und ständiger ärztlicher Aufsicht bedurfte, behielt man sie als Hausgehilfin und Dolmetscherin dort, da sich die Stationsärzte ansonsten „mit dem Ostarbeitervolk“ nicht verständigen konnten. Auch entsprach man damit einem Anliegen der Gestapo, die keine Beschäftigung deutscher Hausgehilfinnen in der Ostarbeiterstation wünschte.
Der Kemperhof war mit Sofia M. offensichtlich zufrieden. Sie galt „als ruhig und gesittet, was sie für den Krankenhausbetrieb besonders geeignet macht(e)“. So gehörte sie zu denjenigen, die schon einmal ein wenig Bekleidung und ein Paar Straßenschuhe erhielten. Im Februar 1944 wurde ihr gar das Privileg einer „Raucherkarte“ zuteil.
Anfang Juni 1944 kommt es dann zu einem Vorfall im Kemperhof. Dieser wird von der Leitung des Krankemhauses nicht weiter gemeldet. Durch Denunziation erfährt der Betriebsobmann der Deutschen Arbeitsfront (DAF) doch davon. In seinem Bericht liest es sich so: „Die NS-Schwester Agnes St. fuhr vor 14 Tagen mit dem Essenwagen über den Flur der Frauenstation II. Dort war die Ostarbeiterin Sofia M. am Putzen. Der Wagen läuft etwas schief und fuhr so über das Geputzte. M. warf den Wagen zur Wand und zugleich bespuckte sie die NS-Schwester St. Ich möchte noch dazu bemerken, dass die M. eine ganz rohe Person ist und sie auch für fähig halte, dass sie andere Ostarbeiterinnen aufhetzt.“
Dieser Bericht bringt dann die bürokratische Maschinerie gegen Sofia M. in Bewegung. Schon zwei Tage später reicht der Kriegskreisobmann der DAF den Bericht an den Stadtrat Fuhlroth weiter mit dem Bemerken: „Eine Bestrafung der Ostarbeiterin durch die Gestapo ist scheinbar nicht erfolgt, da das Krankenhaus für die Zeit der Haft offenbar auf die Arbeitskraft nicht verzichten wollte.“ Wenige Tage später, am 29. Juni 1944, wird Sofia M. in Gestapohaft genommen. Man kann sich ausmalen, was mit ihr, die als Zwangsarbeiterin ohnehin vogelfrei ist, in den Kellerräumen des „Hausgefängnisses“ der Gestapo „Im Vogelsang“ geschieht. Am 11. Juli 1944 wird sie entlassen. Dann verliert sich auch diese flüchtige Spur.