Ein nachträglicher Glückwunsch zum Geburtstag: Der Arbeiterpriester Clemens Alzer wurde 80!
Spät, aber nicht zu spät wollen wir dem Koblenzer Arbeiterpriester Clemens Alzer ganz herzlich zum Geburtstag gratulieren! Am 25. September wurde er 80 Jahre alt. Clemens Alzer hat sich zeit seines Lebens für die Schwachen und Armen eingesetzt und hat den Stummen eine Stimme gegeben. Getreu dem Wort aus den Sprüchen Salomon Kap. 31 Vers 8: "Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind." Das hat Clemens Alzer, dem der "Mann aus Nazareth" ein Leitbild ist, Jahrzehnte lang getan: zunächst als Kaplan in Bendorf, dann als Kollege bei Rasselstein in Andernach und später als Betriebsrat, als "Raschai" (Priester) für die Sinti, der jahrelang ihr Leben im Schönbornslusterweg teilte, und dann bis heute als Seelsorger, "ehrenamtlicher" Sozialarbeiter (und mehr) und unbequemer Mahner. Unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig hat ihm in seiner Reihe "Erinnerung an NS-Opfer" im "Schängel" zu diesem Anlass gratuliert. Der Förderverein Mahnmal Koblenz schließt sich diesen Wünschen an und wünscht ihm für das neue Lebensjahrzehnt alles Gute!
Lesen Sie HIER den Artikel über den Arbeiterpriester Clemens Alzer im "Schängel" Nr. 40 vom 2. Oktober 2018.
Vortrag über die Bestrafung von NS-Juristen
Auf Einladung des Bündnisses gegen Naziaufmärsche und des DGB-Stadtvorstands referierte unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig im Rathaus in Worms über das Thema „Die Bestrafung von NS-Juristen einschließlich der Personalpolitik in Rheinland-Pfalz“. Der Vortrag war eine Begleitveranstaltung im Rahmen der dort vier Wochen lang gezeigten Wanderausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“.
Vortrag über die Deportation von jüdischen Menschen aus Koblenz und Umgebung 1942-1945.
Auf Einladung der Dr. Zimmermannschen Wirtschaftsschule in Koblenz war unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig wieder Gast in der Schule. Im Rahmen der Vortragsreihe „Ethik in der Wirtschaftsschule“ hielt er in diesem Jahr einen Vortrag mit dem Thema „Die Deportationen von Juden aus Koblenz und Umgebung 1942 – 1945 anhand von Einzelschicksalen“.
Lesen Sie nachfolgend den von ihm am 17. Oktober 2018 in der Wirtschaftsschule gehaltenen Vortrag:
Joachim Hennig: Die Deportationen von Juden aus Koblenz und Umgebung 1942 – 1945 anhand von Einzelschicksalen.
Liebe Schülerinnen und Schüler,
ich freue mich, heute hier bei Ihnen in der Schule sein zu können, um Ihnen ein Stück jüngerer Geschichte von Koblenz zu erzählen - und Sie zum Nachdenken anzuregen. Sicherlich haben Sie schon allerhand in der Schule und auch außerhalb davon über die NS-Zeit, über Verfolgung und Widerstand und über den Holocaust und die Shoa gehört und gelesen. Das ist auch gut so und das gehört unbedingt dazu, das ist heute auch allgemeine Meinung. Landtagspräsident Hendrik Hering hob in der Sondersitzung des Landtages am 27. Januar 2018 hier im Neuen Justizzentrum Koblenz die Verantwortung für unsere Geschichte hervor. Die Erinnerungskultur – so Hering – sei heute eine Errungenschaft unseres Landes, denn sie habe entscheidend zum Erfolg der Demokratie in Deutsch-land beigetragen. Ausdrücklich stellte er fest: „Die Erinnerung des Holocaust ist Teil der deutschen Identität“. Die Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Zeit lehre, die Demokratie nicht als etwas Selbstverständliches zu betrachten sowie die Rechte und die Würde jedes einzelnen Menschen zu achten.
In den nächsten 1 ½ Stunden möchte ich Ihnen das zeigen, und zwar an Einzelschicksalen. Und das nicht irgendwo, sondern hier bei uns. Denn „Auschwitz“ hat auch hier in Koblenz begonnen und hat eine Vorgeschichte, die vor der NS-Zeit begonnen hatte. Dazu möchte ich Ihnen zunächst eine gute Stunde lang etwas erzählen und dann können und sollten wir noch darüber sprechen.
Zum nötigen Hintergrund unseres Themas gehört die Erkenntnis, dass es Juden hier am Rhein seit 2000 Jahren gibt. Damals kamen sie als römische Legionäre und auch als Kaufleute, später – nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 nach Christus – als Flüchtlinge. Damals waren die Juden längst ein Volk, die Deutschen waren da noch lange nicht so weit, ein Volk zu sein. Das dauerte dann fast noch tausend Jahre. Allein der Name „deutsch“ tauchte erst im 9. Jahrhundert auf.
Das Verhältnis zwischen „den Christen“ und „den Juden“ war in den Jahrhunderten immer wieder spannungsgeladen. Belegt ist das seit tausend Jahren. Ende des 11. Jahrhunderts begannen nicht nur die Kreuzzüge zur „Befreiung der Stätten der Christenheit im Heiligen Land“, sondern zugleich auch die Verfolgung der Juden hier bei uns. Die Parole lautete, man müsse mit dem Kampf gegen die Ungläubigen bereits im eigenen Land beginnen. Die Juden wurden als „Feinde der Christen“ verfolgt. Das begann mit dem sog. Kreuzzugspogrom von 1096. Neben religiösen Motiven spielten auch wirtschaftliche eine Rolle. Christliche Chronisten begründeten den Pogrom mit dem Satz: „Gott hat die Juden reich werden lassen, damit die Armen sich ihren Reichtum aneignen können.“
Die Judenfeindschaft war ein mehr oder minder durchgängiges Prinzip des Mittelalters. Sie hatte ihre Gründe auch im Christentum. So hatte etwa der Papst 1205 die „ewige Knechtschaft“ der Juden erklärt, die sie den Christen sozial und rechtlich unterstellte. Konzile um 1200 verlangten, den Juden den Zugang zu öffentlichen Ämtern zu verwehren die Juden durch ihre Kleidung als Juden erkennbar zu machen. Tatsächlich gab es dann für die Juden auch besondere Kleiderordnungen. Die Männer mussten einen spitzen Hut tragen, mancherorts – wie in Trier - etwa auch einen gelben Ring – einen „Judenfleck“ – am Gewand und die Frauen einen blau gestreiften Schleier.
Mehr oder minder unterschwellig glaubte man an die „Schuld“ der Juden, die mit der Verurteilung Jesu sein Blut auf sich und ihre Kinder herabgerufen hätten. Sie galten deshalb als die Mörder Jesu Christi.
Noch gravierender war die Anschuldigung des Ritualmordes. Die Schauermärchen lauteten dahin, dass die Juden christliche Knaben aus Feindschaft zu Christus ermordeten bzw. – später – diese Knaben deshalb schlachteten, um ihr Blut für ihre rituellen Zwecke oder zu Heilpraktiken zu verwenden. Eine solche „Ritualmord“-Legende entstand beispielsweise im Jahre 1287 um einen Jungen namens Werner von Womrath, der angeblich am Karfreitag des Jahres 1287 in Oberwesel am Mittelrhein von Juden gemartert und ermordet worden war. Diese Erzählung mit ihrer Blutmystik verbreitete sich im ganzen Rheintal und war dann Anlass für weitere Verfolgungen der Juden. Die ganze Geschichte war zwar nach den jüdischen Religionsgesetzen völlig unsinnig und der deutsche Kaiser ließ auch ein Gutachten anfertigen, das diese Vorwürfe widerlegte - es half aber alles nichts.
Eine Zäsur in der Judenfeindschaft brachte die Pogromwelle der Jahre 1348 – 50. Als sich 1348 die Pest, der „Schwarze Tod“ ausbreitete, kam das Gerücht auf, dass eine Vergiftung der Brunnen daran Schuld trage. Auf der Suche nach den Tätern stempelte man die Juden zu Sündenböcken – sie hätten die Brunnen und Quellen vergiftet.
Hier finden wir ein Argumentationsmuster, das die weitere Geschichte durchzieht und ein Grundproblem der Auseinandersetzung mit Minderheiten darstellt: Nicht durchschaute Handlungen und Ereignisse werden fremdartigen Personen zur Last gelegt, die ideologisch verdächtig und durch ihre Tätigkeit unbeliebt sind. Nutznießer dieser Maßnahmen waren die Schuldner der jüdischen Kaufleute und Geldhändler sowie deren ökonomische Konkurrenten.
Eine Wende brachte dann endlich die Aufklärung und in deren Folge die Französische Revolution. Es dauerte aber in Deutschland noch bis zum Jahr 1871, bis die Juden für gleichberechtigte Bürger erklärt wurden. Nach der Gründung des Deutschen Reiches wurde im selben Jahr das folgende Reichsgesetz beschlossen:
Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hiermit aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein.
So wurde mit einem Federstrich des Gesetzgebers - in zwei Sätzen die Judenemanzipation in Deutschland von Gesetzes wegen verwirklicht.
Keine 10 Jahre später entstand das, was wir heute „Antisemitismus“ nennen. Im Jahr 1878 gründete der protestantische Hof-prediger Adolf Stoecker die „Christlich-soziale Arbeiterpartei“. Schon bald griff er die „Judenfrage“ auf und schürte antijüdische Stimmungen. Und es wurde ein neuer Begriff für Judenfeindlich-keit geprägt: Antisemitismus. Neu war an dem Antisemitismus der 1870er Jahre, dass er gegen das emanzipierte und assimilierte Judentum Front machte, während sich die ältere Judenfeindschaft gegen nicht integrierte und nicht assimilierte Juden wandte. Neu war auch, dass die ethnische Zugehörigkeit, die „Abstammung“, jetzt wichtiger als die Religionszugehörigkeit erschien. Die „Judenfrage“ wurde als „Rassenfrage“ definiert. Der einzelne Jude konnte diese Probleme für sich nicht mehr mit der Taufe lösen oder umgehen.
Schließlich entwickelte sich eine antisemitische „Weltanschauung“. Sie meinte, in den Juden den Schlüssel zum Verständnis und zur Lösung allgemeiner gesellschaftlicher Probleme gefunden zu haben. Das war eine diffuse Protestbewegung. Sie war eine Reaktion auf den siegreichen Liberalismus, der die Judenemanzipation durchgesetzt hatte. Er war eingebettet in einen größeren Zusammenhang von Anti-Haltungen: Er war antiliberal, antisozialistisch, antikapitalistisch, anti-emanzipatorisch und antimodern.
Überall gab es nationalistisch-völkische Tendenzen und Gruppierungen, die solche Vorurteile bedienten und verfestigten. – Eine solche Tendenz gab es zum Beispiel bei dem allseits bekannten und geschätzten Wilhelm Busch.
Wilhelm Busch – na ja, das klingt noch ein bisschen lustig. Anders sah es schon bei völkisch-nationalistischen Gruppierungen aus. Wie etwa bei dem deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund. Hier zeige ich Ihnen ein Plakat der Ortsgruppe München aus dem Jahr 1921. Da ging es um „Deutsches Recht“, um die Zurückdrängung des „vordrängenden Judentums“ und um die „Versklavung des deutschen Volkes“ durch das jüdische Bank- und Börsenkapitals. Zu dieser Veranstaltung hatten Juden keinen Zutritt. Dieser Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund hatte übrigens in seiner Satzung einen „Arierparagrafen“. Kein Jude – was auch immer darunter zu verstehen war – durfte Mitglied in diesem „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“ werden.
Manche von Ihnen, liebe Schülerinnen und Schüler, werden sich in den letzten Minuten gefragt haben, was diese Geschichte mit unserem Thema der Deportationen von Juden aus Koblenz und Umgebung 1942 bis 1945 zu tun hat. Die Antwort darauf lautet: viel, jedenfalls mehr als Sie sich bisher gedacht haben.
Der Antisemitismus der Nationalsozialisten war – wie vieles – keine Erfindung von ihnen. Die Nazis und ihre Helfer griffen „nur“ Themen und Ängste auf, die ohnehin im Schwange waren. Sie verstärkten sie, verbreiteten Hass und Gewalt und machten sie zur Ideologie ihrer verbrecherischen Motive und Taten. Das ist eine Methode, die man immer wieder, auch heute, beobachten kann.
Die Nazis nahmen diesen Antisemitismus, der im damaligen Deutschland im Schwange war, auf und machten ihn zu ihrem Programm. Im ersten Parteiprogramm, bei der Gründung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP) hieß es schon in den Punkten 4 und 5:
Punkt 4 des Parteiprogramms
Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.
Punkt 5 des Parteiprogramms
Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muss unter Fremdengesetzgebung stehen.
Das schlimmste Hetzblatt der Nazis war „Der Stürmer“. Diese sog. Zeitung erschien schon mit ihrer 1. Ausgabe im Jahr 1923 mit der Unterschrift: „Die Juden sind unser Unglück!“ Fortan hatte jede Ausgabe des „Stürmers“ diese Unterzeile – bis zur letzten Ausgabe im Jahr 1945.
Kaum hatten Hitler und seine Leute die Macht im Deutschen Reich am 30. Januar 1933 an sich genommen, begannen die Ausgrenzungen, Diskriminierungen und Verfolgungen des jüdischen Teils der deutschen Bevölkerung.
Eine erste Wegmarke war der Boykott jüdischer Geschäfte, Waren, Ärzte und Rechtsanwälte am 1. April 1933. Das war die erste antisemitische Großaktion seit dem Gleichberechtigungsgesetz von 1871. Diese Aktion gab es im ganzen Deutschen Reich – aber auch in Koblenz. Sehen Sie hier einen Aufruf dazu in dem Koblenzer Nationalblatt, dem Parteiorgan der NSDAP, vom 1. April 1933: „Nieder mit Juda! Strafgericht über den Weltfeind bricht herein – Zur Abwehr“.
Vor den jüdischen Geschäften bauten sich SA- und SS-Leute auf. Sie hatten Plakate dort angebracht und hinderten die Kunden, in diesen Geschäften einzukaufen. Sie sehen hier eine Szene aus Berlin. Das gab es aber auch hier in Koblenz. Am nächsten Tag titelte die Presse, dass der Boykott ein großer Erfolg war. Sehen Sie dazu die Titelseite des Koblenzer Nationalblatts „Der Boykott – Ein Sieg Hitler-Deutschlands über das Weltjudentum“
Schon wenige Tage später setzte sich die Entrechtung der Juden durch Gesetze und Verordnungen fort. Grundlegend war das Gesetz mit dem zynischen Titel „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933. Mit ihm ging es nicht etwa um die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, sondern genau um das Gegenteil: um die Vertreibung der den Nazis missliebigen Staatsdiener aus ihrem Beruf. Das Gesetz richtete sich zum einen in § 4 gegen politische Gegner des NS-Regimes, das traf vor allem Sozialdemokraten und exponierte Anhänger der parlamentarisch-demokratischen Reichsverfassung. Und zum anderen bestimmte es in § 3, dass Beamte „nicht-arischer Abstammung“ in den Ruhestand zu versetzen sind. Dieser § 3 war der sog. Arierparagraf. Mit einem weiteren Gesetz vom selben Tag entfernte man politisch missliebige und jüdische Rechtsanwälte aus ihrem Beruf.
Von einem auf den anderen Tag entzog man ihnen ihren Status, ihre wohl erworbene und ausgeübte Rechtsposition – und das allein deshalb, weil sie in das Bild der Nazis von dem Beamten, dem Richter und dem Rechtsanwalt nicht passten.
Die nächste Wegmarke waren die „Nürnberger Gesetze“ vom 15. September 1935. Mit dem sog. Reichsbürgergesetz erfanden die Nazis den Status des „Reichsbürgers“. Das war der „Vollbürger“, eine bessere Variante des Staatsbürgers. Mit diesem Gesetz und mit einem Schlag nahm man den Juden Rechte weg. Sie wurden zu bloßen Staatsbürgern und damit zu Bürgern zweiter Klasse deklassiert. Die wichtigste Bestimmung lautete:
§ 2 Reichsbürgergesetz
(1) Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen.
(2) Das Reichsbürgerrecht wird durch Verleihung des Reichs-bürgerbriefs erworben.
(3) Der Reichsbürger ist der alleinige Träger der vollen politischen Rechte nach Maßgabe der Gesetze.
Damit setzten die Nazis das um, was sie schon 1920 in ihr krudes Parteiprogramm unter den Punkten 4 und 5 geschrieben hatten.
Ein weiteres Nürnberger Gesetz war das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Es erfand die sog. Rassenschande. Es verbot die Eheschließung zwischen einen Juden und einem Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes, also eines sog. Ariers. Verboten waren nicht nur die Eheschließung, sondern auch schon der Geschlechtsverkehr und sogar schon sog. beischlafähnliche Handlungen. Ins Gefängnis kam man bereits, wenn die Gestapo ein Pärchen auch dem Sofa sitzend in der Unter-wäsche angetroffen hatte. Damit war natürlich der Denunziation und der Schnüffelei Tor und Tür geöffnet. Und der „Stürmer“ hetzte auf die fieseste Weise. Interessant ist vielleicht noch zu wissen, dass immer nur der Mann bestraft wurde, nie die Frau, selbst wenn sie Jüdin war. Frage: Warum wohl? Na ja, man brauchte oft einen Zeugen, und dazu nahm man den einen der beiden bzw. andersherum die eine der beiden.
Unterdessen ging der Boykott gegen jüdische Geschäfte, Waren, Ärzte weiter. Man wollte die Juden aus dem Wirtschaftsleben herausdrängen. Das geschah durch allerlei staatliche Schikanen. Aber beispielsweise auch durch Anprangern in der Presse, hier im Koblenzer Nationalblatt.
„Natürlich“ hetzte man weiter gegen „die“ Juden. Der „Stürmer“ – aber nicht nur der, wärmte eine alte „Fakenews“ auf: die „Weltverschwörung“ der Juden - wie sie so um 1900 nach einer gefälschten Hetzschrift mit dem Titel „Die Weisen von Sion“ entstanden war. Der „Stürmer“ war sich auch nicht zu blöd, die alte Ritualmordgeschichte aus dem Mittelalter wieder aufzuwärmen. Sie sehen also: Diese „Fake News“ setzen sich durch die Jahrhunderte fort. Die Lügengeschichten über „die“ Juden begannen also nicht erst mit den Nazis, sondern viel früher. Sie haben sich Jahrhunderte lang festgesetzt und können immer wieder zur Diffamierung „benutzt“ werden. Auch heute.
Der „Stürmer“ war übrigens weit verbreitet. Die Auflage war nicht so riesengroß. Es gab aber überall im öffentlichen Raum sog. Stürmerkästen. Das waren die Kästen, die man heute noch so von Sportvereinen und anderen Vereinen auf dem Dorf kennt. Und da hing dann die ganze Ausgabe des „Stürmer“. Diese Stürmerkästen hingen überall in Deutschland – auch in Koblenz und Umgebung, etwa in Koblenz-Arzheim und dann auch sonst wo in Koblenz.
Man wollte die Juden einfach loswerden. Sie sollten verschwinden. Das machte man denen auch im Straßenbild deutlich. Hier sehen Sie ein Bild aus dem Koblenzer Nationalblatt aus Rheinbrohl. Ein großes Transparent: „Juden sind in diesem Orte unerwünscht.“ – Ein Stimmungsbild aus Rheinbrohl“ – Was war das für eine Stimmung!
Eine weitere Wegmarke des Unrechtsstaates war der Novemberpogrom von 1938. Die Nazis nannten es „Reichskristallnacht“, heute hat sich nicht viel besser der Begriff „Reichspogromnacht eingebürgert. In der hier angedeuteten Stimmung gegen die Juden hatte ein 17-jähriger, in Deutschland lebender Jude namens Herschel Grünspahn tödliche Schüsse auf den Legationsrat vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris abgegeben. Das war am 7. November 1938 – vor ziemlich genau 80 Jahren. Daraufhin rief der Reichspropagandaminister Goebbels mit Einverständnis Hitlers zu „spontanen Vergeltungsaktionen“ gegen „die Juden“ auf. SA, SS und die Gestapo wurden in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 mobilisiert. Überall im Deutschen Reich brannten die Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden demoliert, jüdische Männer verhaftet und verschleppt.
Am 11. November lag das offizielle Zwischenergebnis vor: 815 zerstörte Geschäfte, 20 in Brand gesetzte oder zerstörte Warenhäuser, 171 in Brand gesetzte oder zerstörte Wohnungen, 191 Synagogen in Brand gesteckt, 76 weitere vollständig demoliert. Dazu kamen Gemeindehäuser, Friedhofskapellen und andere zerstörte jüdische Einrichtungen. Fast 100 Juden waren ermordet worden, noch deutlich mehr hatten Verletzungen erlitten. Weit mehr als 20.000 Männer verschleppte man in die Konzentrations-lager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen.
Auch in Koblenz wüteten die Nazis. Zerstört wurden 19 Geschäfte und 41 Wohnungen, jüdische Mitbürger wurden misshandelt. Trupps zerstörten die Synagoge am Florinsmarkt. In Brand gesteckt wurde sie aus Rücksichtnahme – für die Nachbarhäuser - allerdings nicht – die Nachbarhäuser sollten nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Aber der Friedhof im Rauental wurde geschändet und die Leichenhalle verwüstet. Etwa 100 Männer wurden in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald verschleppt.
Um Ihnen einen gewissen Eindruck von diesem Novemberpogrom zu vermitteln, möchte ich Ihnen schildern, was mir vor einigen Jahren Frau Dr. Marianne Pincus erzählt hat. Sie ist die Enkelin des früheren Koblenzer Rechtsanwalts und Justizrats Dr. Isidor Brasch und dessen Frau Emma. Die Familie wohnte hier in der Rizza-straße. Für 6 ihrer Angehörigen sind heute „Stolpersteine“ am Hauptgebäude der Sparkasse, Ecke Bahnhofstraße/Rizzastraße, verlegt. Damals. Im November 1938 lebte hier nur noch ihre verwitwete Großmutter Emma, in einer - wie es hieß - wunderschönen Villa.
In der „Reichspogromnacht“ vor 80 Jahren fiel eine ganze Horde Nazis fiel in das Haus ein und demolierte es. Bereits im Eingangsbereich rissen die Männer die Kacheln von den Wänden und beschädigten das Treppenhaus. Ihre Verwüstung setzten sie in der Wohnung fort, in der sie die 71-jährige Frau allein antrafen. Die Nazis zerhackten einen großen Teil der Möbel, und plünderten den Inhalt von Schränken. Die entsetzte alte Dame zerrten sie aus der Wohnung, schleppten sie in den Garten, sperrten sie dort ein und machten von ihr, im Nachthemd, ein Foto – um es später im Hetzblatt „Der Stürmer“ zu veröffentlichen und damit die Juden insgesamt lächerlich zu machen.
Die Familie von Emma Braschs älterem Sohn Ernst lebte damals schon in Frankfurt am Main. Auch sie mussten dort die Reichspogromnacht erleiden. Die Enkelin von Emma und die Tochter von Ernst Brasch schilderte mir von den Ereignissen in Frankfurt folgendes:
Am 9. November 1938 bin ich wie immer mit dem Fahrrad zum Philantropin, dem jüdischen Gymnasium in Frankfurt/Main, gefahren. Noch bevor der Unterricht begonnen hatte, wurden unsere männlichen Lehrkräfte vor den Augen der Schüler verhaftet. Wir wurden nach Hause geschickt, ohne zu wissen, dass dies unser allerletzter Schultag sein sollte. Auf meinem Nachhauseweg sah ich den Qualm brennender Synagogen aufsteigen.
Meine Mutter empfing mich mit sehr besorgter Mine und sagte, dass schon mehrmals uniformierte Männer geklingelt hätten, dass sie nach dem Vater gefragt hatten, der aber nicht zu Hause sei. Als der Vater zurückkam, verschwand er im Badezimmer, und ich vernahm kurz darauf ein ziemliches Geschrei. Wie ich später erfuhr, hatten meine Mutter und meine ältere Schwester versucht, ihn daran zu hindern, sich die Pulsadern aufzuschneiden.
Fast zur selben Zeit klingelte es Sturm an unserer Haustür. Mein Vater wurde abgeholt, und ich sah, wie er von zwei Uniformierten wie ein Verbrecher abgeholt wurde. Da sie eine lange, noch unbebaute Straße langliefen, konnten viele Nachbarn von ihren Fenstern aus das Schauspiel beobachten. Plötzlich fiel meiner Mutter ein, dass mein Vater noch nichts gegessen hatte. Sie schmierte schnell ein paar Stullen, meine Schwester schwang sich aufs Fahrrad und brachte sie ihm.
Am späteren Nachmittag kam unsere jüdische Nachbarin mit ihrer Tochter. Ihr Mann war ebenfalls abgeholt worden, und sie war völlig fassungslos und weinte ununterbrochen. Bereits wenige Wochen danach erhielt sie die Nachricht, dass ihr Mann gestorben sei. Er war etwa 40 Jahre alt und sei, wie sie beteuerte, nie krank gewesen.
So weit der Bericht von Marianne Pincus, geborene Brasch. Ihr Vater Ernst Brasch und sein Nachbar in Frankfurt waren zwei von weit mehr als 20.000 jüdischen Männern in ganz Deutschland, die beim Novemberpogrom festgenommen wurden, um dann in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt zu werden. Ganz bewusst wurden besser situierte Männer verhaftet. Diese zeitlich begrenzte „Aktion“ diente (noch) nicht der physischen Vernichtung, sondern „nur“ der Einschüchterung und Pression zur Auswanderung. Mit vielen anderen Männern brachte man Ernst Brasch ins Konzentrationslager Buchenwald. Nach einigen Wochen und der Erklärung, auswandern zu wollen, kam er schließlich wieder frei.
Auch noch eine gewisse Zeit nach dem Novemberpogrom setzten die Nazis und ihre Helfer alle Hebel in Bewegung, um die Juden aus Deutschland zu vertreiben – ihr Vermögen aber hier zu behalten. Es war keineswegs so, dass die Nationalsozialisten von Anfang an den Holocaust vorhatten oder diesen mit der Reichspogromnacht in Angriff nahmen. Nein, auch jetzt noch wollte man die Juden „nur“ herausekeln und sie loswerden.
Auch noch nach dem von Hitler-Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg am 1. September 1939 ging es – ausschließlich - um die Vertreibung. Dazu gab es auch einen Plan, den sog. Madagaskar-Plan. Die Idee war, vier Millionen europäische Juden auf die vor der Ostküste von Afrika gelegene Insel Madagaskar, damals eine französische Kolonie, zu vertreiben. Wegen des Seekrieges mit England wurde dieser Plan aber bald verworfen. Er war auch undurchführbar. Wie sollte man binnen kurzer Zeit vier Millionen Menschen auf Schiffen bei einer wochenlangen Überfahrt nach Afrika bringen?
Das Ziel blieb aber gleich, man wollte die Juden loswerden, ihnen vorher aber ihr Vermögen rauben. Im Spätsommer/Herbst 1941 entschied man sich dann für die Vernichtung der europäischen Juden. – Holocaust, Shoa. Einen ausdrücklichen Befehl darüber hat man bisher nicht aufgefunden. Einen schriftlichen Befehl dazu hat es dazu wohl auch nie gegeben. Es ist aber ganz sicher, dass eine solche wichtige Entscheidung von Hitler persönlich getroffen wurde – ggf. in einem streng geheimen mündlichen Befehl.
In „Ergänzung“ und „Ausfüllung“ dieses Befehls zum Holocaust fand dann am 20. Januar 1942 die sog. Wannsee-Konferenz statt, in einer Villa am Großen Wannsee in Berlin. Dort wurde der Völkermord an den europäischen Juden organisatorisch auf den Weg gebracht. In dem vom „Judenreferenten“ des Reichssicherheits-hauptamtes Adolf Eichmann erstatteten Protokoll heißt es u.a.:
Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten. Diese Aktionen sind jedoch lediglich als Ausweichmöglichkeiten anzusprechen, doch werden hier bereits jene praktischen Erfahrungen gesammelt, die im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage von wichtiger Bedeutung sind.
Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Juden kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht. (…)
Unter entsprechender Leitung sollen im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeits-fähigen Juden Straßen bauend in diese Gebiete (die besetzten Ostgebiete) geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei der Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaus anzusprechen ist. (Siehe die Erfahrung der Geschichte.)
Im Zuge der praktischen Durchführung der Endlösung wird Europa von Westen nach Osten durchkämmt. (…)
Die evakuierten Juden werden zunächst Zug um Zug in so genannte Durchgangsghettos verbracht, um von dort weiter nach dem Osten transportiert zu werden. (…)
Es ist beabsichtigt, Juden im Alter von über 65 Jahren nicht zu evakuieren, sondern sie einem Altersghetto – vorgesehen ist Theresienstadt – zu überstellen.
Neben diesen Altersklassen (…) finden in den jüdischen Altersghettos weiterhin die schwer kriegsbeschädigten Juden und Juden mit Kriegsauszeichnungen (EK I) Aufnahme. Mit dieser zweckmäßigen Lösung werden mit einem Schlage die vielen Interventionen ausgeschaltet.“
Zwei Monate später kam es dann zur 1. Deportation von Juden aus Koblenz und Umgebung. Weitere folgten, insgesamt gab es 7.
Die erste Deportation fand am 22. März 1942 statt. Mit ihr wurden 338 Juden aus Koblenz und Umgebung – wie es hieß – „nach dem Osten“ verschleppt. Betroffen davon waren vor allem Familien. Diese hatte die Koblenzer Gestapo am Tag zuvor in die Turnhalle der Steinschule im Rauental hinbestellt. Von da ließ man sie am frühen Nachmittag des 22. März 1942 durch die Stadt zum Güterbahnhof Lützel marschieren. Dort wurden sie in einen Personenzug der 4. Klasse eines Sonderzugs „verladen“. Das Ziel war das Durchgangsghetto Izbica bei Lublin im damaligen Generalgouvernement.
Von dieser Deportation gibt es eine Liste der Gestapo Koblenz. Dort sind alle verschleppten aufgeführt mit Namen, Vornamen, Geburtsdatum, Geburtsort und letzten Wohnsitz.
Eine von ihnen war die Schülerin Hannelore Hermann. Sie wurde mit ihren Eltern Leopold und Johanna Hermann deportiert. Hier zeige ich Ihnen ein Foto von der Familie. Da sehen Sie die Eltern, die beiden Brüder Hannelores und Hannelore. Hannelore war das „Nesthäkchen“ der Familie. Sie wurde 1928 geboren. Zunächst verlief das Leben der Familie in ganz geordneten Bahnen. Im Jahr 1934 wurde Hannelore eingeschult. Hier sehen Sie sie mit der obligaten Schultüte, das Schuljahr begann damals zu Ostern. Die Eltern merkten aber schon bald den Boykott. Die Mutter hatte ein kleines Geschäft hier, das dann nicht mehr viel. Der Vater war Vertreter, ihm wurde bald gekündigt. Die älteren Brüder Kurt und Hans wanderten aus.
Hannelore und ihre Eltern machten dann auch die Reichspogromnacht hier in Koblenz mit. Sie waren hin- und her gerissen zwischen Bleiben und Gehen. Mal lernten sie alle Englisch, um in die USA auswandern zu können. Dann lernten Sie Iwrith, Neuhebräisch, für eine Emigration in das damalige Palästina. Letztlich scheiterten eine Auswanderung bzw. Flucht an verschiedenen Bedingungen. Und schließlich war im Zweiten Weltkrieg eine Auswanderung gar nicht mehr möglich. Hannelore und ihre Eltern waren Gefangene im eigenen Land.
So waren auch sie von der 1. Deportation von Juden aus Koblenz und Umgebung betroffen und wurden in das polnische Durchgangsghetto Izbica verschleppt. Dort trafen die Koblenzer und Juden aus anderen Städten, insgesamt etwa 1.000 Menschen, 3 – 4 Tage später ein. Zuvor hatten Gestapo- und SS-Leute in Izbica Platz geschaffen, indem sie 2.200 einheimische Juden in das neu errichtete Vernichtungslager Belzec verschleppten und dort mit Gas ermordeten.
In die zum Teil so geräumten Häuser quartierte man die dazukommenden Juden ein. Für alle war es ein Schock, für die Einheimischen, weil sie Platz machen mussten, und für die „Reichsjuden“ auch, weil sie in eine völlig fremde Welt und ungewisse Zukunft kamen. Sofern sie überhaupt die katastrophalen Verhältnisse in Izbica überlebten, wurden auch die Koblenzer Juden in ein Vernichtungslager verschleppt und mit Gas ermordet. Sehr wahrscheinlich war es das neu errichtete Vernichtungslager Sobibor. Von ihnen kam keiner zurück. Bis zum Herbst 1943 starben in Belzec zwischen 440.000 und 453.000, in Sobibor etwa 180.000 und in dem weiteren Vernichtungslager Treblinka zwischen 800.000 und 900.000 Menschen, zum weit überwiegenden Teil polnische Juden, aber auch Juden aus dem Deutschen Reich und aus anderen von Hitler-Deutschland besetzten Ländern.
Unter diesen Toten waren auch Hannelore und ihre Eltern Leopold und Johanna Hermann hier aus Koblenz. An ihrem letzten frei gewählten Wohnort in der Johannes Müller-Straße 6 - in der südlichen Vorstadt gegenüber dem Evangelischen Stift St. Martin – erinnern heute Stolpersteine an sie.
Mit der 2. Deportation von Juden von Koblenz am 30. April 1942 hatte es eine besondere Bewandtnis auf sich. Die davon betroffenen Menschen waren ganz überwiegend Patienten der Israelitischen Heil- und Pflegeanstalt in Bendorf-Sayn. Dort hatten vor Jahrzehnten jüdische Ärzte eine Heilanstalt für psychisch kranke Juden gegründet. Sie hatten dort zunächst auf freiwilliger Basis Kranke aufgenommen und gepflegt. Zur Zeit des Krieges wurden weitere jüdische Kranke dann zwangsweise dorthin eingeliefert.
Für diese 105 meist psychisch kranken und zum Teil auch körperlich behinderten Menschen begann die Deportation auf dem Bahnhof in Bendorf-Sayn. Dort wurden Wagen für sie bereitgestellt. Die ohnehin schwierige Situation der Deportation war für die Patienten der Anstalt noch schlimmer. Denn sie waren oft körperbehindert, psychisch krank und vielfach gebrechlich. Wegen ihres Zustandes hatte sie die Reichsbahn schon „bevorzugt“ deportiert – mit “G-Wagen” (gedeckten Güterwagen). Auch dieser Deportationszug fuhr vom Güterbahnhof Koblenz-Lützel ab bzw. weiter „nach dem Osten“.
Dieser Transport kam am 3. Mai 1942 in einem Dorf in der Nähe von Izbica an. Von dort aus wurden die Schwerkranken zu Fuß oder mit Pferdefuhrwerken in ein anderes Durchgangsghetto „verfrachtet“.
Einer von ihnen war der Dichter Jakob van Hoddis. Er war unter seinem bürgerlichen Namen Hans Davidsohn in der Deportationsliste aufgeführt. Berühmt wurde er mit seinen expressionistischen Gedichten. Sein bekanntestes ist das Gedicht „Weltende“. Der französische Dichter André Breton stellte dazu fest: „Mit van Hoddis befinden wir uns an der Spitze der deutschen Poesie, seine Stimme erreicht uns vom höchsten und dünnsten Zweig des vom Blitz getroffenen Baums“.
Später fiel Jakob van Hoddis in geistige Umnachtung. Seine Mutter erkannte die Gefahr für die Juden in Hitler-Deutschland sehr früh und wanderte schon 1933 nach Palästina aus. Da ihr Sohn krank war, fand er keine Aufnahme in Ausland. Sie musste ihn zurücklassen und brachte ihn schon 1933 in die Israelitische Heil- und Pflegeanstalt. Dort blieb er dann bis zur Deportation mit 104 anderen jüdischen Menschen bis zum 30. April 1942.
Sofern Jakob van Hoddis den Transport überlebte und in dem Durchgangsghetto ankam, blieb er dort nur eine gewisse Zeit. Schon Anfang Juni 1942 liquidierten die Deutschen das Ghetto. Sie trieben 200 Juden auf den Friedhof des Ortes und erschossen sie dort. Die verbliebenen Menschen schafften sie zu Fuß nach Izbica. Von dort aus wurden sie in das Vernichtungslager Sobibor verschleppt und in den Gaskammern ermordet.
Am 15. Juni 1942 kam es zur 3. Deportation von Juden vom Güterbahnhof Koblenz-Lützel. Auch mit ihr – wie mit der Deportation zuvor – wurden vor allem Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn verschleppt. Betroffen waren aber auch das Pflegepersonal der Anstalt sowie einige andere Juden aus der Umgebung von Koblenz. Insgesamt waren es 342 jüdische Menschen. Am Tag zuvor hatte die Deutsche Reichsbahn einen Zug eigens aus 15 Personen- und neun Güterwagen zusammengestellt und ihn auf dem ehemaligen Bahnhof Bendorf-Sayn bereitgestellt. Dort wurde er mit ungefähr 250 Patienten, die liegend transportiert wurden, sowie ca. 80 Krankenschwestern, Pflegern und Ärzten der Anstalt beladen.
Über den Transport berichteten später die Ehefrau des in Bendorf-Sayn dann noch verbliebenen Arztes und auch der Arzt selbst. Hören wir zunächst die Ehefrau:
„Das ‚Verladen’ – anders kann man es nicht nennen – ging heute früh um 7 Uhr vor sich. Gegen ½ 3 Uhr war dann endlich der Zug fahrbereit. Alles kam in Güterwagen, auch das Personal, für das ursprünglich ein Personenwagen vorgesehen war. 60, gar 68 Menschen in einem Wagen, der fest geschlossen und verplombt wurde! Ich sah den Zug stehen, als ich morgens zur Post ging. Es schnitt mir ins Herz. Dass so etwas Furchtbares überhaupt geschehen kann, ist mir unfassbar. (…)
Abwanderung von ca. 250 Kranken und 100 Personen Personal der Anstalt. Es wurde alles mitgekommen an Kranken bis auf die 21 Menschen, die entweder in privilegierter Mischehe verheiratet sind oder ausländische Staatsangehörigkeit besitzen. Nur 21 Patienten und 15 Mann Personal bleiben zurück. Vorläufig!“
Und jetzt der Arzt:
Kranke und Personal der Anstalt wurden am 14. Juni 1942 mit dem dritten (größten) Abtransport von der Gestapo nach Polen gebracht. Von einigen Abtransportierten haben wir anfangs illegale Nachrichten erhalten, dass der Transport in der Gegend von Lublin angekommen sei.
Die Verladung der Patienten habe ich selbst erlebt. Zu 60 in einem Viehwagen wurden Schwerkranke und gesunde Angestellte verladen, der Zug stand noch nachmittags unter polizeilicher Bewachung plombiert in glühender Hitze auf dem Bahnhof Sayn.
Ich war etwas später als beratender Nervenarzt bei einem jüdischen Krankentransport in Düsseldorf. Dort hörte ich von der Jüdischen Gemeinde, dass der Transport durch Düsseldorf durchgekommen und mit Wasser versorgt worden sei. Der Kot sei aus den Wagen herausgelaufen. Zahlreiche Patienten sollen dort bereits tot gewesen sein.“
Am 15. Juni 1942 hielt dieser Sonderzug mit der Zugnummer Da 22 auf dem Güterbahnhof Koblenz-Lützel. Dort mussten einige weitere Juden aus Koblenz zusteigen.
Die von der Gestapo Koblenz für den Transport erstellte Liste nennt die Namen der insgesamt 342 Deportierten, ihr Geburtsdatum und ihren Geburtsort sowie ihre letzte Adresse vor der Deportation.
Auf seiner Fahrt „in den Osten“ nahm der Zug weitere Juden auf, so vor allem in Köln, Düsseldorf, Duisburg und Essen.
Am 19. Juni 1942 kam der Zug auf dem Bahnhof in Lublin im „Generalgouvernement“ an. Dort wurde er auf einem Nebengleis selektiert. Etwa 100 Männer im Alter zwischen 15 und 50 Jahren – sicherlich keine Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn – wurden als arbeitsfähig ausgesucht. Sie kamen zur Zwangsarbeit in das im Aufbau befindliche „Lager Majdanek“ in Lublin.
Mit den anderen Deportierten fuhr der Zug weiter in das Vernichtungslager Sobibor. Sie wurden noch am selben Tag mit Abgasen in den Gaskammern ermordet.
Eine der mit der 3. Deportation verschleppten Patientin von Bendorf-Sayn war die Literaturwissenschaftlerin Dr. Johanna Hellmann. Auch sie war psychisch krank geworden und dann in Bendorf-Sayn. Von dort deportierte man sie in das Vernichtungslager Sobibor im Generalgouvernement und brachte sie unmittelbar nach der Ankunft dort mit Giftgas um.
Sechs Wochen später folgte die 4. Deportation von Koblenz aus. Wie schon im Protokoll der Wannseekonferenz festgehalten, waren bei den zuvor erwähnten, ersten Deportationen gewisse Personengruppen ausgespart worden. Das waren Juden über 65 Jahre und schwer kriegsbeschädigte Juden und solche mit Kriegsauszeichnungen (EK I). Diese sollten später deportiert werden. So geschah es dann auch und auch hier in Koblenz und eben mit der 4. Deportation. Mit dieser verschleppte man am 27. Juli 1942 79 jüdische Menschen aus Koblenz und Umgebung in das Konzentrationslager Theresienstadt, das die Nazis euphemistisch „Altersghetto“ nannten.
Einer der Deportierten war der Erste Staatsanwalt a. D. Dr. Georg Krämer. Krämer war Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg gewesen und war in jungen Jahren zum evangelischen Glauben übergetreten. Das all das bewahrte ihn aber nicht vor der Verfolgung als Jude und vor dem gewaltsamen Tod. Ein halbes Jahr vor seiner Deportation hatte man den alten Herrn hier noch schikaniert, weil er den „Judenstern“ nicht an seiner Kleidung tragen wollte. Deswegen nahm ihn die Gestapo Koblenz drei Wochen in „Schutzhaft“. Vier Monate später musste Dr. Krämer seine Wohnung in der Bismarckstraße 6 b räumen und mit vielen anderen Juden zusammen in ein „Judenhaus“ ziehen. Zwei weitere Monate später wurde er mit 70 Jahren in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Drei Monate später starb Dr. Georg Krämer im KZ Theresienstadt.
Heute erinnert an ihn ein Stolperstein in der Bismarckstraße 6 b.
Seine Familie – übrigens - konnte dem Rassenwahn der Nazis noch entfliehen. Der ältere Sohn Fritz wanderte in die USA aus und holte seine Mutter und seine Frau nach, der jüngere Sohn floh nach England. Sohn Dr. Fritz Kraemer wurde Entdecker und Mentor der US-Außenminister Henry Kissinger und Alexander Haig und war Jahrzehnte lang der einflussreichste Deutsche im US-amerikanischen Verteidigungsministerium, im Pentagon.
Nachdem auch die alten und etwas „privilegierten“ Juden deportiert worden waren, gab es nur noch ganz wenige Juden in Koblenz. Zurückgeblieben waren einzelne Personen, die die Nazis für die Abwicklung ihrer Menschheitsverbrechen brauchten. Das waren einmal der jüdische Arzt Dr. Hugo Bernd und der jüdische Rechtsanwalt Dr. Isidor Treidel sowie einige mit „arischen“ Ehepartnern in sog. privilegierter Mischehe lebenden Juden. Bei den letzteren wussten die Nazis lange Zeit nicht so recht, wie sie die behandeln sollten - ob man sie mit Rücksicht auf die Kirchen oder das Ausland leben lassen oder ebenfalls ermorden sollte.
Der erwähnte Dr. Hugo Bernd, ein HNO-Arzt, war mit seiner Frau Selma in Koblenz geblieben, obwohl ihm wiederholt eindringlich geraten wurde, zu fliehen. Er hatte zwar dafür gesorgt, dass seine drei Kinder, Rolf, Beate und Hans Rainer, rechtzeitig Deutschland verlassen konnten – Hans Rainer etwa kam mit einem Kindertransport ´der Quäker nach England. Dr. Bernd konnte sich aber nicht vorstellen, dass ihm als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges etwas passieren könnte. Als auch für ihn die Gefahr evident wurde, war es zu spät und er konnte nicht mehr emigrieren. So blieb er mit seiner Frau in Koblenz und kümmerte sich als letzter Arzt um die jüdischen Mitbürger. Zu dieser Zeit hatte man ihn längst seine Zulassung als Arzt entzogen. Er durfte nur noch als sog. Krankenbehandler für Juden und – wenn überhaupt - zu niedrigeren Gebühren tätig sein. Dr. Bernd bemühte sich bis zuletzt, die Krankheiten und Leiden der Koblenzer Juden zu lindern.
Am 28. Februar 1943 wurden Dr. Hugo Bernd und seine Ehefrau Selma zusammen mit einem weiteren Ehepaar mit der 5. Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und dort mit Giftgas ermordet.
An die Eheleute Bernd und ihre drei Kinder erinnern heute Stolpersteine am Friedrich Ebert-Ring.
Der letzte (nicht in „privilegierter Mischehe“ lebende) Jude in Koblenz war der Rechtsanwalt Dr. Isidor Treidel. Er hatte im Zuge der Nürnberger Rassengesetze seine Zulassung als Rechtsanwalt verloren, war aber weiterhin „jüdischer Rechtskonsulent“ für die Angelegenheiten der Juden. Ihn hatten die Nazis bisher verschont, weil man seine juristischen Fähigkeiten und Kenntnisse für die „Arisierung“ jüdischen Vermögens und dessen Aneignung durch das Deutsche Reich benötigte.
Als alle Juden deportiert und zuvor ihre Rechtsverhältnisse geregelt waren, wurde auch er nicht mehr benötigt. Zusammen mit seiner Ehefrau Erna verschleppte man ihn mit der 6. Deportation von Koblenz in das Konzentrationslager Theresienstadt. Von dort gingen beide am 15 Oktober 1944 unter der Bezeichnung „Arbeiter“ bzw. „Haushalt“ auf Transport in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und wurden mit Giftgas ermordet.
Für die Eheleute Dr. Isidor und Erna Treidel sind heute in der Mainzer Straße 10 a zwei Stolpersteine verlegt.
Die 7. und letzte Deportation von Koblenz aus erfolgte Mitte Februar 1945. Von ihr waren die bis dahin noch verschont gebliebenen Juden betroffen, die in sog. privilegierter Mischehe lebten oder sog. Geltungsjuden waren, d.h. sog. Halbjuden, die sich aber zur jüdischen Gemeinde bekannt hatten. In Koblenz waren das wohl 18 Personen. Sie wurden in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Näheres ist nicht bekannt.
So, liebe Schülerinnen und Schüler. Das ist das, was ich Ihnen in der mir gesetzten Zeit über die Deportationen der Juden aus Koblenz und Umgebung 1942 – 1945 und zu den Hintergründen erzählen wollte.
Von den etwa 500 Juden aus Koblenz und Umgebung – die Patienten der Israelitischen Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn sind dabei nicht mitgerechnet – sind ca. 500 deportiert worden – nur 22 von ihnen kamen zurück. Das Schicksal dieser Menschen, aber auch derjenigen, die überlebten, weil sie rechtzeitig aus Hitler-Deutschland fliehen konnten, zeigt, wohin Rassenwahn, Hass, Gewalt und Menschenverachtung führen kann. Das darf es nie wieder geben und deshalb müssen wir alle früh und konsequent für unsere Demokratie und die Menschenrechte eintreten. Man/frau kann es nicht früh genug tun – nicht, dass es dann womöglich wieder zu spät ist.
Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit.“