Ausstellung "Nein zu Hitler! - Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften in Verfolgung, Widerstand und Exil 1933 - 1945"
In Erinnerung an Sozialdemokraten und Freie Gewerkschafter zeigt die Friedrich-Ebert-Stiftung in Kooperation mit dem Kultur- und Schulverwaltungsamt der Stadt Koblenz die Ausstellung: "Nein zu Hitler! - Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften in Verfolgung, Widerstand und Exil 1933 - 1945". Eröffnet wird sie am 9. September 2014 um 17.00 Uhr im Historischen Rathaussaal der Stadt. Sie ist dann bis zum 9. Oktober im Rathaus zu den Öffnungszeiten des Rathauses zu sehen. In dieser umfangreichen Ausstellung werden auf 40 Tafeln die Geschichte der Verfolgung und des Widerstandes wie auch gerade Biographien von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern während der NS-Zeit eindrücklich präsentiert.
Den Info-Flyer HIER herunterladen
Zur Eröffnung der Ausstellung gab unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig einen Überblick über die Verfolgung und den Widerstand von Sozialdemokraten und Gewerkschafter aus Koblenz und Umgebung geben. Dabei erinnerte er auch an die Verfolgung zu Beginn des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren, bei der im Rahmen der sog. A-Kartei-Aktion auch Koblenzer Sozialdemokraten und Gewerkschafter dieser Verhaftungswelle zum Opfer fielen und bis zur Befreiung in Konzentrationslagern festgehalten wurden.
Lesen Sie nachfolgend das Impulsreferat von Joachim Hennig zur Ausstellungseröffnung „Nein zu Hitler!“ am 9. September 2014 im Historischen Rathaussaal in Koblenz
Sehr geehrte Damen und Herren,
auf dem Programm zur Eröffnung der Ausstellung steht nun ein Impulsreferat von mir. Dazu möchte ich Ihnen in der nächsten etwa halben Stunde einiges aus dem Leben zweier Koblenzer – genau genommen: Metternicher – erzählen: von dem Sozialdemokraten und Gewerkschafter Johann Dötsch und von dem Gewerkschafter und Kommunisten Jakob Newinger. In diese Darstellung werde ich dann noch weitere Sozialdemokraten und Gewerkschafter aus dem heutigen nördlichen Rheinland-Pfalz einflechten.
Diese Geschichte beginnt im ausgehenden 19. Jahrhundert: Im Jahr 1889 wird Jakob Newinger in St. Sebastian geboren, ein Jahr später Johann Dötsch in dem damals noch selbständigen Metternich. Zur Erinnerung: Im Jahr 1889 wurde der 1. Mai als Kampftag der Arbeiterbewegung ausgerufen und im Jahr 1890 zum ersten Mal mit Massenstreiks und Massendemonstrationen begangen; im selben Jahr – 1890 – wurden die reaktionären Bismarckschen Sozialistengesetze nicht mehr erneuert.
Beide, Newinger und Dötsch, machen eine Lehre und werden Soldat: Newinger vor dem Ersten Weltkrieg und unfreiwillig. Er kommt bis nach Kiautschou, der damaligen deutschen „Musterkolonie“. Ebenso unfreiwillig nimmt er am Ersten Weltkrieg teil. Dötsch ist auch Soldat im Ersten Weltkrieg. Er hat sich freiwillig gemeldet und wird Berufssoldat.
Nach dem Ersten Weltkrieg sind beide Gewerkschafter. Newinger sorgt dafür, dass bei seiner Arbeitsstelle, der Köln-Düsseldorfer-Dampfschifffahrtsgesellschaft erstmals ein Betriebsrat gebildet und er dort hinein gewählt wird. Auch organisiert er manche – auch wilde - Streiks. 1925 tritt er in die KPD ein und zieht nach Koblenz-Metternich.
Dort ist bereits Johann Dötsch aktiv. Er ist inzwischen Beamter und SPD-Mitglied. Bald macht er eine kleine Karriere und arbeitet sich über den Ortsverein Metternich zum Parteisekretär und zum Vorsitzenden des SPD-Unterbezirks Koblenz hoch.
Die Goldenen Zwanziger Jahre sind für die arbeitende Bevölkerung längst nicht so golden wie manche glauben machen wollen. Etwa für engagierte Gewerkschafter wie Jakob Newinger ist es eine schwere Zeit. Immer wieder verliert er eine Arbeitsstelle, andere Arbeitgeber stellen ihn – der ihm dieser Ruf vorauseilt – schon gar nicht ein; es bleibt nur die eine oder andere „neue“, fremde Firma, die nichts von ihm weiß.
Die Weltwirtschaftskrise führt auch im politischen Bereich zu einer Polarisierung. Die hier erwähnten Arbeitervertreter sind ja nicht nur Gewerkschafter, sondern auch - und vielfach in erster Linie - Parteipolitiker. Nicht wenige Gewerkschafter und Politiker verdanken dieser Zuspitzung ein politisches Mandat. So wird Jakob Newinger in den Metternicher Gemeinderat gewählt. Dort ist auch Johann Dötsch - inzwischen Vorsitzender der SPD-Fraktion und Mitglied des Provinziallandtages der preußischen Rheinprovinz.
An eine Zusammenarbeit oder gar Einheitsfront von Sozialdemokraten und Kommunisten ist – trotz vereinzelter Aufrufe – nicht zu denken. Verheerend ist vor allem die von Stalin verkündete und von den deutschen Kommunisten übernommene Parole, Faschismus und Sozialdemokratie seien keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder. Damit diffamieren sie die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“.
Die Konfrontation zwischen den Arbeiterparteien spitzt sich in der Weltwirtschaftskrise und infolge der unterschiedlichen Haltung gegenüber der Brüningschen Deflationspolitik zu. Während die SPD diese Politik im Reichstag toleriert, macht die KPD auf allen Ebenen dagegen Front. Darüber geraten auch die beiden Metternicher Dötsch und Newinger aneinander.
Trotz aller Kontroversen und Anfeindungen sind diese Arbeitervertreter in denselben Gewerkschaften. Bekanntlich gab es damals noch keine Einheitsgewerkschaft wie heute, sondern Richtungsgewerkschaften – also Gewerkschaften, die sich einer weltanschaulichen oder politischen Richtung verpflichtet fühlten. Am stärksten sind die Freien Gewerkschaften, in denen die sozialistischen Arbeiter, und zwar sowohl die sozialdemokratischen als auch die kommunistischen organisiert sind. Daneben gibt es die christlichen Gewerkschaften und die liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine. Es leuchtet ein, dass bei diesen Anfeindungen die Zusammenarbeit der Sozialdemokraten und der Kommunisten in denselben Gewerkschaften sehr schwierig ist. Daraus ziehen Kommunisten gegen Ende der Weimarer Republik die Konsequenz und gründen eine eigene kommunistische Gewerkschaft, die Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition (RGO). Vertreter dieser neuen Gruppierung sind u.a. der Kommunist und „kleine“ Manager bei Opel in Rüsselsheim, Andreas Hoevel und seine Frau Anneliese. Beide sind sehr aktiv, erleiden ein sehr schweres Schicksal, sind zuletzt hier in Koblenz, werden hier verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ich erwähne sie deshalb, weil nach ihnen die Hoevelstraße benannt ist, sage aber nicht mehr zu ihnen, weil hier das Thema ja die Freien Gewerkschaften ist.
Demgegenüber nimmt die Zusammenarbeit der SPD und der Gewerkschaften zu – etwa durch gemeinsame Aktionen des republiktreuen Kampfbundes „Schwarz-Rot-Gold“ oder der Ende 1931 gegründeten „Eisernen Front“, in der sich SPD, Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund, das Reichsbanner-Schwarz-Rot-Gold u.a. zusammenschließen, um – unter Ausklammerung der KPD – ein einheitliches Vorgehen gegen die Rechte und die NSDAP erreichen.
Johann Dötsch ist der Führer des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold in Koblenz und sehr aktiv. Ein Bild zeigt ihn an der Spitze einer Delegation des Reichsbanners im Mainzer Volkspark im Jahr 1930. Auch ist er maßgeblich an der Eisernen Front engagiert. Deren Führer in Koblenz ist der Sozialdemokrat Dr. Wilhelm Guske. 1880 in Essen geboren, war Guske als Sohn eines Fabrikarbeiters nach der Volksschule zunächst ebenfalls Fabrikarbeiter und hat sich dann hochgearbeitet, hat Abitur nachgemacht, hat studiert, hat promoviert, war Bürgermeister, dann Landrat in Merseburg und ist ab 1930 Vizepräsident der Rheinprovinz hier in Koblenz.
Dieses und anderes Engagement kann aber nicht die Machtübernahme durch Hitler und seine Leute am 30. Januar 1933 verhindern. Es gibt Aufrufe zu einem Generalstreik – mehr aber auch nicht. Stattdessen gibt Hitler für die Wahlen im März 1933 die Parole aus: „Kampf gegen den Marxismus!“ Da ist der Brand des Reichstags am Abend des 27. Februar 1933, den die Nazis den Kommunisten in die Schuhe schieben, für sie ein „gefundenes Fressen“. Später erinnert sich der Metternicher Kommunist Jakob Newinger an diese Tage und Wochen Anfang 1933:
Die Arbeiter waren zur Stelle. Die Arbeiter, die noch an einen Generalstreik glaubten und auch dazu bereit waren, wurden von der SPD und der Gewerkschaftsführung sehr enttäuscht, da diese den Generalstreik ablehnten und damit Hitler den Weg freimachten zur Machtübernahme. Ich kann mich noch gut erinnern, wie der SPD-Abgeordnete Wels im Reichstag sagte, lieber 10 Mal mit den Nazis als einmal mit den Kommunisten. Der Reichstagsbrand von den Faschisten selbst angelegt, war das Signal zur Verhaftung aller Antifaschisten. In erster Linie ging es gegen die KPD, die auch fälschlicherweise beschuldigt wurde, den Reichstag in Brand gesetzt zu haben. Ich selbst wurde am 28. Februar 1933 als erster verhaftet und in Schutzhaft genommen. (In den) darauffolgenden Tagen kamen noch viele Genossen dazu. (…) Die Straße war sehr belebt durch den Karneval. Die Menschen protestierten gegen meine Verhaftung und verlangten meine sofortige Freilassung. Als die Ansammlung immer größer wurde, rief der Naziwirt das Überfallkommando an, was auch bald erschien und mich unter Protest der Massen in das Auto zerrte und ins Polizeigefängnis brachte. Andern Tags kamen noch mehr bekannte Genossen dazu.
Was in Koblenz dramatisch ist, durch den Bezug zum Karneval aber noch einen gewissen „lokaltypischen“ Einschlag erhält, ist anderswo, etwa in Bad Kreuznach, eine richtiggehende Menschenjagd. Nach dem kommunistischen Stadtverordneten und Vorsitzenden des gewerkschaftlichen Ortskartells Hugo Salzmann fahnden SA und andere mit Plakaten, auf denen steht: „Tot oder lebendig“ und für dessen Ergreifung lobt man 800 Reichsmark aus. Salzmann kann bei einem sozialdemokratischen Bürgermeister untertauchen und dann über das Saargebiet nach Frankreich fliehen.
Die Verhaftungen unmittelbar nach dem Reichstagsbrand gehen weiter. Ein Beispiel dafür ist der Gewerkschafter und Kommunist Alfred Knieper aus Höhr-Grenzhausen. Er wird am 10. März 1933 in sog. Schutzhaft genommen und bleibt dort fast zwei Monate. Verhaftet wird auch der Vizepräsident der Rheinprovinz Dr. Guske und mit Hunden wird er durch Koblenz getrieben. Wie andere hohe Beamte auch, diffamiert und kriminalisiert man ihn. Man klagt ihn wegen Korruption an, das Verfahren zieht sich hin, selbst die Justiz jener Jahre kann ihm nicht viel nachweisen, aber man hat ihn mundtot gemacht.
Inzwischen sind alle drei Staatsgewalten von den Nazis usurpiert: Die Polizei, vor allem die politische Polizei, verhaftet Gegner der Nazis willkürlich und schließt sie in „Schutzhaft“ weg. Die „unabhängige“ Justiz biedert sich in vielfacher Weise den neuen Machthabern an. Und die Volksvertretung? Die gibt es schon nicht mehr. Mit dem „Ermächtigungsgesetz“ vom 23. März 1933 hat sich der Deutsche Reichstag selbst entmachtet und überflüssig gemacht. Gesetze können jetzt auch von der Reichsregierung selbst erlassen werden. Und davon macht die Hitler-Regierung jede Menge Gebrauch.
Bereits unter dem Datum des 7. April 1933 ergeht das sog. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Das ist wie so vieles bei den Nazis Propaganda und euphemistisch. Damit geht es nicht um die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, sondern vielmehr um die Entlassung von politisch und „rassisch“ missliebigen Beamten. Betroffen davon ist der in Koblenz wohnende Gerichtsassessor Fritz Dreyfuss. Weil er Jude ist, soll er aus der Justiz entfernt werden. Das gelingt aber nicht, weil das Gesetz eine Ausnahme für jüdische „Frontkämpfer“ vorsieht, und Dreyfuss - im Ersten Weltkrieg dreimal schwer verwundet – ein solcher „Frontkämpfer“ ist. Dreyfuss ist aber auch Mitglied der SPD und des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Für diese gibt es keine Ausnahme. Deshalb wird Dreyfuss als politisch „missliebig“ entfernt. Nur wenige Wochen später flieht Fritz Dreyfuss mit seiner Familie nach Frankreich. Als Jurist mit deutscher Ausbildung wird er weder dort noch dann in der Schweiz eine annähernd angemessene und einträgliche Beschäftigung finden.
Damit sind schon kurz nach der Machtübernahme der Nazis viele ihrer aktiven politischen Gegner verhaftet, geflohen, eingeschüchtert oder mundtot gemacht. Unterdessen halten die Führungen der SPD und der Freien Gewerkschaften an ihrem Kurs fest und vermeiden generell eine Konfrontation mit den Nazis.
Im Gegenteil lassen sich Ende März 1933 fünf führende Sozialdemokraten von dem kommissarischen preußischen Ministerpräsidenten und Innenminister Göring dafür gewinnen, zu ihren Parteifreunden ins Ausland zu fahren und bei ihnen für eine „Imageaufbesserung“ des Nazi-Regimes und zur Mäßigung bei der Berichterstattung hierüber zu werben. Als „Gegenleistung“ verspricht Göring, das Verbot der SPD-Zeitungen aufzuheben.
Einer dieser prominenten Sozialdemokraten ist der im Jahr 1888 in Oberstein (heute: Idar-Oberstein) geborene Emil Kirschmann. Er ist Redakteur der (sozialdemokratischen) Rheinischen Zeitung in Köln. 1924 wird er für den Wahlkreis Koblenz-Trier-Birkenfeld Reichstagsabgeordneter, ab 1926 zugleich – das geht damals – Ministerialrat im preußischen Innenministerium. Im Zuge dieser Pressekampagne fährt Emil Kirschmann in das unter Aufsicht des Völkerbundes stehende Saargebiet.
Diese Pressemission ist – wie zu erwarten war – erfolglos. Natürlich hebt Göring auch nicht das Verbot der SPD-Presse auf. – Stattdessen durchsucht die Politische Polizei die Wohnung Emil Kirschmanns in Köln. Er selbst befindet sich zu dieser Zeit im Saargebiet, wird gewarnt, kehrt nicht ins Deutsche Reich zurück, sondern bleibt im Saargebiet. Alsbald leitet er in Saarbrücken ein vom Prager Exilvorstand der SPD (SOPADE) finanziertes sog. Grenzsekretariat. Dieses und die in anderen Ländern eingerichteten Grenzsekretariate sollen illegale Schriften ins Reich transportieren, die reichsdeutschen Parteizellen unterstützen, Kontakte zu neuen Widerstandsgruppen herstellen und politische Informationen aus Deutschland sammeln und an die SOPADE weiterleiten.
Als die Hitler-Regierung den traditionellen Kampftag der Arbeiterbewegung, den 1. Mai, mit Demonstrationen und Aufmärschen in ihrem Sinne organisiert und erstmals in der deutschen Geschichte zum Feiertag, zum „Feiertag der nationalen Arbeit“ erklärt, sind die Gewerkschaften mit ihrem Anpassungskurs dabei und rufen ihre Mitglieder zur Teilnahme auf. Ziel der Nazis ist es, die Gewerkschaften in Sicherheit zu wiegen und den Arbeiter für sich und die deutsche „Volksgemeinschaft“ zu gewinnen.
Auch in Koblenz und Umgebung wird der 1. Mai nach Art der Nazis gefeiert.
Das ist das Vorspiel nur und am folgenden Tag kommt das, was die Nazis schon längst geplant haben: die Zerschlagung der Gewerkschaften. Überall im Deutschen Reich stürmt die SA die Gewerkschaftsbüros, verhaftet Funktionäre und beschlagnahmt das Eigentum. Die Regierung erklärt die Freien Gewerkschaften für aufgelöst und bildet die Deutsche Arbeitsfront (DAF) unter Robert Ley als Zwangsvereinigung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Betroffen von diesen Verhaftungen ist auch der spätere Rheinland-Pfälzer Carl Vollmerhaus. Er wird im Berliner Gewerkschaftshaus verhaftet und in das Gefängnis Plötzensee gebracht. Meines Wissens werden in Koblenz in diesem Zusammenhang keine Gewerkschafter in „Schutzhaft“ genommen. In Betracht gekommen wäre vor allem Johann Dötsch. Aber auch er bleibt hier noch verschont. Möglicherweise ist er als Gewerkschafter nicht so sehr in Erscheinung getreten. Die Nazis nehmen ihn eher als SPD-Mann, als Funktionär und Politiker sowie als Mann der „Eisernen Front“ wahr. Denn verschont bleibt er auch nicht. Er wird dann Ende Juni 1933 - im Zuge des Verbots der SPD am 22. Juni 1933 als „staats- und volksfeindlich“ - in „Schutzhaft“ genommen.
Diese frühen „Schutzhaftnahmen“ sind generell nicht von unbegrenzter Dauer wie die späteren. Dötsch kommt bald wieder frei, wird aber noch einmal vorübergehend in „Schutzhaft“ genommen. Vollmerhaus entlässt man im August 1933. Knieper kommt – wie gesagt – nach zwei Monaten frei. Er wird aber am 1. September 1933 erneut festgenommen und ins Konzentrationslager Esterwegen verschleppt. Dort ist er 1 ½ Jahre inhaftiert. Newinger bleibt in Koblenz in „Schutzhaft“ und kommt erst nach einem Jahr wieder frei.
Der Bendorfer ehemalige Schulleiter und Sozialdemokrat Dr. Hans Bauer und zwei Gewerkschafter namens Gelhard werden wegen ihres Kontaktes zu einem ins Saargebiet geflohenen Gewerkschaftssekretär und zu einem Grenzsekretariat der Exil-SPD (SOPADE) – sehr wahrscheinlich zu dem Grenzsekretariat in Saarbrücken unter ihrem Leiter Emil Kirschmann - ebenfalls wegen Hochverrats mit jeweils zwei Jahren und sechs Monaten bzw. zwei Jahren und vier Monaten Zuchthaus bestraft. Den zuvor erwähnten Jakob Newinger verurteilt man wegen des Besitzes illegaler Zeitungen zu zwei Jahren und drei Monaten Zuchthaus.
Viele Verurteilte kommen nach Verbüßung der Strafhaft nicht frei, sondern werden unmittelbar anschließend oder kurz danach wie es heißt „in Schutzhaft überführt“. Bauer verschleppt man wie seine beiden Kameraden Gelhard ins Konzentrationslager Buchenwald.
Damit sind viele Sozialdemokraten und Gewerkschafter „in die Flucht geschlagen“, hinter Zuchthaus- und KZ-Mauern verschwunden und auch mundtot gemacht. Typisch für viele in Freiheit lebende Sozialdemokraten ist Johann Dötsch. Er lebt in Koblenz unauffällig als Handlungsreisender für Seifenartikel und als Obstbauer.
Am 1. September 1939 entfesselt Hitler mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Vor wenigen Tagen haben wir an dieses Ereignis vor nunmehr 75 Jahren erinnert. Nur wenig bekannt ist, dass sich bereits mit dem Kriegsbeginn die Lage der politischen Gegner im In- und Ausland wesentlich verschärft.
Im Inland beginnt mit diesem 1. September 1939 die sog. A-Kartei-Aktion. Benannt ist sie nach einer von der Gestapo speziell für den Kriegsfall angelegten Kartei, der „A-Kartei“. In ihr sind viele Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschafter registriert. Diese sollen bei Ausbruch des Krieges festgenommen, in „Schutzhaft“ gebracht und in ein Konzentrationslager überführt werden. Damit will man sicher gehen, dass diese – früheren – Gegner keine wie auch immer geartete Sabotage bei Kriegsbeginn und danach begehen können. Aufgrund dieser Kartei werden dann auch insgesamt etwa 850 Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter festgenommen. Unter ihnen sind der Metternicher Johann Dötsch und der Höhr-Grenzhausener Alfred Knieper. Sie werden in das Konzentrationslager Sachsenhausen bzw. Buchenwald verschleppt. Carl Vollmerhaus bringt man im September 1939 mit ca. 100 Berliner Gewerkschaftern ins KZ Sachsenhausen.
Mit Kriegsbeginn schaffen die Nazis und ihre juristischen Helfer auch neu Straftatbestände sowie Strafschärfungen bestehender Gesetze – oft die Todesstrafe - und neue Strafvollzugsregelungen.
Unter Strafe steht etwa das Abhören ausländischer Sender. Das wird den Eheleuten Hoevel zum Verhängnis. In dem Verfahren, das für sie mit dem Todesurteil und der Hinrichtung endet, wird auch Jakob Newinger bestraft. Nur knapp entgeht er dem Fallbeil. Sein ehemaliger Kompaniechef in China setzt sich für ihn ein und erreicht für ihn eine Zuchthausstrafe von „nur“ 10 Jahren.
Selbst die rechtzeitig ins Ausland geflohenen und dort gebliebenen politischen Gegner sind ihres Lebens nicht sicher.
Hugo Salzmann, dessen Frau und Sohn ihm alsbald folgen, lebt illegal in Paris. Wie viele andere deutsche Emigranten auch, wird er bei Kriegsbeginn interniert und in das südfranzösische Konzentrationslager Le Vernet verschleppt. Seine Frau wird von der französischen Vichy-Regierung der Gestapo ausgeliefert. Ein Jahr lang ist sie hier in Koblenz in „Schutzhaft“. Da man ihr nichts nachweisen kann, legt man eine Gestapo-Spitzelin in ihre Zelle. Diese bringt sie zum Sprechen und sorgt dafür, dass sie in das Frauen-KZ Ravensbrück kommt. Dort stirbt sie im Dezember 1944 an Entkräftung. Ihr Mann Hugo wird ein Jahr später von den Franzosen ebenfalls an die Gestapo ausgeliefert und auch im Koblenzer Gefängnis inhaftiert. Wegen seiner exilpolitischen Tätigkeit verurteilt ihn der Volksgerichtshof zu 8 Jahren Zuchthaus.
Andere, wie Emil Kirschmann, haben noch vergleichsweise Glück. Kirschmann, nach der zugunsten des Anschlusses an Deutschland ausgegangenen Volksabstimmung ebenfalls nach Frankreich geflohen, kann in Südfrankreich untertauchen und - anders als Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding, die die Franzosen der Gestapo ausliefern – mit dem Schiff in die USA fliehen.
Ein Lichtblick in dieser dunklen Zeit ist der Widerstand in Deutschland, am bekanntesten ist der Widerstand des 20. Juli 1944 und dessen Umfeld. Vor wenigen Wochen haben wir aus Anlass der 70. Wiederkehr der Ereignisse dieser Widerständler gedacht. Auch Sozialdemokraten und Gewerkschafter gehörten zu diesen Kämpfern für ein „anderes“, besseres Deutschland. Einer von ihnen ist der im Jahr 1898 in Bad Ems geborene Reformpädagoge und Sozialist Adolf Reichwein. Nach 1933 als Professor für Geschichte und Staatsbürgerkunde „kaltgestellt“, ist er weiter pädagogisch tätig. Ab 1940 stellt er Kontakte zu den Widerstandskreisen um Wilhelm Leuschner und Julius Leber her und schließt sich dem „Kreisauer Kreis“ an. Er nimmt an den großen Tagungen der „Kreisauer“ teil und ist als Kultusminister einer „Regierung nach Hitler“ im Gespräch. Bei der Kontaktaufnahme zu kommunistischen Widerstandskämpfern Anfang Juli 1944 wird er von einem Gestapospitzel verraten und festgenommen. Der Volksgerichtshof unter seinem Präsidenten Freisler verurteilt ihn am 20. Oktober 1944 wegen Hoch- und Landesverrats zum Tode, wenige Stunden nach dem Todesurteil wird Adolf Reichwein in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Ausgelöst durch das Attentat vom 20. Juli 1944 findet einen Monat später die sog. Aktion Gewitter statt. In einer großen Verhaftungswelle werden mehrere Tausend frühere Reichs-, Landtags- und Stadtverordnete von KPD und SPD sowie alle ehemaligen Gewerkschafts- und Parteifunktionäre der SPD festgenommen, und zwar „gleichgültig (…), ob diesen im Augenblick etwas nachzuweisen ist oder nicht“. Lediglich über 70-Jährige, Kranke und solche, die sich mittlerweile um das NS-Regime „verdient“ gemacht hätten, sollten verschont bleiben.
Betroffen von der Aktion „Gewitter“ ist in Koblenz u.a. die frühere Stadtverordnete Maria Detzel, die sich als „wahre Mutter der Kriegsopfer“ einen Namen verdient hat. 1892 in (Koblenz-)Güls geboren, ist sie Mitglied der SPD und der Freien Gewerkschaften und Stadträtin. Ende März 1933 stimmt sie bei der ersten Sitzung der Koblenzer Stadtverordnetenversammlung nicht für die Ehrenbürgerrechte an den neuen „Führer“ Adolf Hitler. Anschließend legt sie ihr Mandat nieder. In späteren Jahren kommt sie zweimal kurzzeitig in „Schutzhaft“. Im Zuge der Aktion Gewitter wird sie ein drittes Mal verhaftet und kommt nach einem Monat wieder frei.
Nur wenig später wird das Koblenzer Gefängnis dem Andernacher Franz Mürb zum Verhängnis. Mürb war früher Mitglied der SPD und ist ein entschiedener Gegner der Nazis. Nach deren Machtübernahme äußert er sich zum neuen Regime kritisch und wird deshalb entlassen. 1936 trifft er sich mit Kommunisten in Vallendar und wird deswegen vom Sondergericht zu 2 Jahren und 5 Monaten Zuchthaus verurteilt. Ende September 1944 wird er erneut unter dem Verdacht verhaftet, ausländische Sender gehört zu haben. Franz Mürb kommt in Untersuchungshaft in das Koblenzer Gefängnis und wird dort bei dem schweren Bombenangriff der Alliierten am 6. November 1944 in seiner Gefängniszelle getötet.
Die Befreiung kommt für die den NS-Terror-Überlebenden zu verschiedenen Zeiten und unter unterschiedlichen Umständen. Johann Dötsch etwa wird im April 1945 vom KZ Sachsenhausen auf den „Todesmarsch“ in Richtung Ostsee getrieben. Wer schwach ist und nicht mithalten kann, wird von der SS-Wachmannschaft erbarmungslos getötet und am Straßenrand liegen gelassen. Dötsch überlebt und wird – schwerkrank – in der Nähe von Schwerin befreit.
Er kehrt nach Koblenz zurück und wird in der Anfang 1946 gebildeten Provinz Rheinland-Hessen-Nassau Präsidialdirektor, also ein kleiner „Minister“. Vom Tod gezeichnet, geht für ihn doch noch ein Wunsch in Erfüllung. Wie später sein Pflegesohn Fritz Görgen und sein Patenkind Günther Pauli (der spätere SPD-Bundestagsabgeordnete) berichteten, lässt er sich Mitte September 1946 auf einer Bahre zum Wahllokal tragen, um an den ersten freien Wahlen nach dem NS-Regime teilnehmen zu können. Drei Wochen später stirbt Johann Dötsch an den Folgen der KZ-Haft.
Ein ähnliches Schicksal hat der im KZ Buchenwald befreite Hans Bauer. Auch er kehrt krank und geschwächt nach Bendorf zurück, wird noch Oberstudiendirektor des Gymnasiums in Traben-Trarbach. Hans Bauer verunglückt dann 1947 auf dem Weg zur Schule tödlich.
Der frühere Vizepräsident der Rheinprovinz Dr. Wilhelm Guske wird 1946 nach dem plötzlichen Tod des Oberbürgermeisters Wilhelm Kurth (SPD) von den Koblenzer Genossen zur Rückkehr veranlasst. Guske kehrt auch zurück, wird Oberbürgermeister von Koblenz, muss aber bei den ersten freien Wahlen im September 1946 den Chefsessel für den gewählten Oberbürgermeister Josef Schnorbach (CDU) räumen. Guske wird Ministerialbeamter in Hessen und stirbt 1957 in Wiesbaden.
Jakob Newinger ist nach der Befreiung im Zuchthaus Siegburg bald wieder in Koblenz aktiv. Er wird Hallenmeister des Schlachthofs und Betriebsratsvorsitzender. Auch ist er beim Wiederaufbau der KPD aktiv, ist Mitglied des Bürgerrats und bemüht sich – vergebens – um eine Einheitsfront von KPD und SPD. Als Arbeiter hat er Glück und ist von den Berufsverboten für KPD-Mitglieder nicht betroffen. Jakob Newinger tritt 1954 in den Ruhestand und stirbt 1972.
Johann Dötsch hat sich im KZ Sachsenhausen mit dem Berliner Gewerkschafter Carl Vollmerhaus angefreundet und ist mit ihm auf dem „Todesmarsch“ gewesen. Als entschiedener Gegner der Zwangsvereinigung von KPD und SPD in der Sowjetischen Besatzungszone nimmt Vollmerhaus die Einladung seines Freundes Dötsch nach Koblenz an. Hier beteiligt sich Vollmerhaus sogleich am Aufbau der Gewerkschaften, wird Aufsichtsratsvorsitzender der Konsumgenossenschaft Mittelrhein, Vorsitzender des Arbeitsgerichts Koblenz und lange Jahre 2. Vorsitzender der ÖTV Koblenz. Carl Vollmerhaus stirbt 1979 im Alter von 95 Jahren in Koblenz.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Update:
Vortrag unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig in Bad Kreuznach zum „Rollenden KZ“.
Am 28. Oktober 2014 hielt unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig auf Einladung der Stiftung Haus der Stadtgeschichte Bad Kreuznach im dortigen Stadtratssaal einen Vortrag zum Thema: "Rollendes KZ - Der 12. SS. Eisenbahnbauzug in Bad Kreuznach und anderswo".
Sechs Wochen lang, vom 20. Januar bis Ende Februar/Anfang März 1945 war ein SS-Eisenbahnbauzug mit 500 Häftlingen und einer Anzahl von SS-Männern sowie zwangsverpflichteten Eisenbahnern in Bad Kreuznach stationiert. In dem Zug waren sie auf Gedeih und Verderben zum Arbeiten, (Über-)Leben und Sterben zusammengepfercht. Er war an Heiligabend 1944 im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin zusammengestellt worden. Seine erste Station war Kamp(-Bornhofen) am Rhein. Von dort aus mussten die KZ-Häftlinge die Gleisanlagen in den Bahnhöfen von Ober- und Niederlahnstein wieder instand setzen. Nach den Bombenangriffen Ende 1944/Anfang 1945 auf Bad Kreuznach und vor allem auf die Nahebrücke zwischen Bad Kreuznach und Bad Münster am Stein wurde der Bauzug auf einem Gleis in „Rotlaymühle“ stationiert. Während des ca. sechswöchigen Aufenthalts dort kamen 28 Häftlinge ums Leben. Sie wurden auf dem zwischen Bad Kreuznach und Bretzenheim gelegenen jüdischen Friedhof verscharrt.
Joachim Hennig berichtete anhand von historischen Fotos und Karten über die Leidensgeschichte der KZ-Häftlinge, die erst im KZ Ebensee bei Salzburg Anfang Mai 1945 befreit wurden. Auch stellte er die Nachkriegsgeschichte der Toten und die Erinnerung an sie dar.
Lesen Sie nachfolgend den Vortrag von Joachim Hennig:
Rollendes KZ – Der 12. SS-Eisenbahnbauzug in Bad Kreuznach und anderswo.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich, heute wieder bei Ihnen in Bad Kreuznach zu sein, ich habe ja schon den einen oder anderen Vortrag hier gehalten.
Wer mich kennt, weiß, dass ich immer recht schwere Themen im Gepäck habe. So ist es gerade auch diesmal. Andererseits sind Sie in diesem Jahr auch schon wiederholt mit solchen Themen konfrontiert worden. So wurde und wird an die 100. Wiederkehr des Ersten Weltkrieges erinnert, gedacht wird auch an die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Hitler vor 75 Jahren. Zudem wird in den nächsten Wochen und Monaten an das Kriegsende vor 70 Jahren erinnert werden. Also: Alles schwere, harte Themen. Unser Thema heute passt da „gut“ hinein. Wenn Sie so wollen, dann können Sie diesen etwa 1 1/2 –stündigen Vortrag als den „Aufmacher“ zum Thema: „Vor 70 Jahren – Ende des Zweiten Weltkrieges“ verstehen.
Damit sind wir auch gleich beim Thema: Vor 70 Jahren in Bad Kreuznach. Bad Kreuznach ist vor allem durch die Bomben der alliierten Luftangriffe zerstört worden. Zerstört wurden auch die Brücken über die Nahe: so vor allem die Eisenbahnbrücke zwischen Bad Kreuznach und Bad Münster am Stein wiederholt durch alliierte Bomben und die alte Nahebrücke durch die vor den Alliierten fliehenden deutschen Soldaten.
In jenen Tagen vor fast 70 Jahren kehrt Hugo Salzmann aus dem Zuchthaus Butzbach, in dem er eine langjährige, vom Volksgerichtshof in Berlin verhängte Strafe wegen Hochverrats verbüßen musste, in seine Heimatstadt Bad Kreuznach zurück. Verloren hat er viel: 12 Jahre seines noch jungen Lebens auf der Flucht, im Exil, im Konzentrations-lager und in Gefängnissen, seine Frau Julianna, die Ende 1944 im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück „umgekommen“ ist, seinen Sohn Hugo, der entfremdet bei der Familie seiner Frau in Graz/Österreich überlebt hat, seinen Bruder, zahlreiche Freunde und Weggefährten, die gefallen, ermordet oder umgekommen sind.
Und was macht Hugo Salzmann? Er macht da weiter, wo er bei seiner Flucht aus Bad Kreuznach 1933 hatte aufhören müssen: Er ist wieder politisch und sozial stark engagiert, ist Kommunist, Gewerkschafter, bald Stadtverordneter und Gewerkschaftssekretär hier in Bad Kreuznach. Und er macht hier noch etwas anderes. Er – selbst schwer Verfolgter des NS-Regimes – kümmert sich als einziger um andere Opfer des Nationalsozialismus, um Juden wie die Überlebenden der Familie Baruch, um kommunistische Genossen - und um die Toten des 12. SS-Eisenbahnbauzuges. Er ist der erste und hier in Bad Kreuznach einzige, der sich damals und bis heute um diese Menschen vom SS-Zug und um ihr Schicksal gekümmert hat. Deshalb beginne ich meinen Vortrag auch mit Hugo Salzmann und freue mich ganz besonders, seine Tochter, Frau Julianna Salzmann, hier und heute zu diesem Vortrag begrüßen zu können. Herzlich willkommen, liebe Julianna Salzmann und lieber Achim Farr!
Im Nachlass von Hugo Salzmann finden sich erste Ergebnis-se seiner Recherche zum SS-Eisenbahnbauzug. Bereits am 16. Januar 1946 richtet er – als Gewerkschaftssekretär unter dem Briefkopf „Einheitsgewerkschaft – Wirtschaftsbezirk Kreuznach, Brückes 2, ein Schreiben an das Standesamt in Bad Kreuznach und fragt darin nach den „Anschriften der KZler, die auf dem jüdischen Friedhof zwischen Bretzenheim und Kreuznach liegen“. Auf dem Schreiben ist vermerkt: „Bauzug stand Rotlay im Jahre Februar/März 1945 – Gefangene KZ Oranienburg“ Unter dem 23. Januar 1946 nennt der Standesbeamte in Bad Kreuznach Hugo Salzmann insgesamt 27 Namen von „Schutzhäftlingen“, deren Tod in Bad Kreuznach im Januar und Februar 1945 beurkundet wurde. Diese Liste wird dann von Salzmann noch bearbeitet und ergänzt. Und am nächsten Tag richtet er mit dem Briefkopf der Einheitsgewerkschaft in Bad Kreuznach und mit dem Betreff „Victimes étrangers, meurtres sur des détenus etrangers du Camp Concentration Oranienburg, dependent de Sachsenhausen“ ein Schreiben an den „Chef du Service des Recherches PDR Bad Kreuznach“. Es ist auf Französisch verfasst und hat im Entwurf handschriftliche Korrekturen. Diese dürften von Hugo Salzmanns Frau Maria, die er nach dem Zweiten Weltkrieg in Bad Kreuznach geheiratet hat, stammen. Maria Salzmann ist in dieser Zeit Übersetzerin für die Franzosen. In dem Schreiben nimmt auch Hugo Salzmann noch Änderungen vor – etwa bei Erich von Hunolstein –, auf ihn kommen wir nachher noch zurück. Auch fügt Salzmann noch eine unbenannte Nummer „28“ hinzu.
Das war aber erst der Anfang. In seiner hartnäckigen Art – kann man das so sagen, Julianna? – machte Hugo Salzmann weiter und fand damals noch viel heraus. Unter anderem machte er einen Eisenbahner aus Bad Kreuznach ausfindig, der den Bauzug seinerzeit begleitet hat. Er hat es sogar geschafft, dass dieser Eisenbahner – ein gewisser Otto Stumpf – einen Bericht über seine Tätigkeit beim SS-Eisenbahnbauzug niedergeschrieben hat.
Das möchte ich Ihnen jetzt im Einzelnen nicht referieren, sondern vielmehr die neuesten Erkenntnisse mitteilen, die sich aus den Recherchen von Hugo Salzmann, späteren Strafverfahren bei verschiedenen Staatsanwaltschaften und Landgerichten, Zeitzeugenberichten und meinen eigenen Recherchen zusammen mit Frau Julianna Salzmann in mehreren Archiven bis hin zu meiner Studien- und Recherchefahrt nach Ebensee am Traunsee im Salzkammergut bei Salzburg ergeben haben.
Doch jetzt der Reihe nach – also vom Ende im KZ Ebensee im Salzkammergut am 3. Mai 1945 zurück an den Anfang, in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin.
Es ist Heiligabend 1944. Im Konzentrationslager Sachsen-hausen wird ein Eisenbahnbauzug zusammengestellt und auf den Weg nach Westen gebracht. Er besteht aus ca. 500 KZ-Häftlingen und Aufsichts- und Bewachungspersonal, etwa 20 SS-Leuten, sowie aus ca. 50 Eisenbahnern, die u.a. für die „technische Seite“ zuständig sein sollen. Untergebracht sind sie in ca. 50 Güterwaggons. In sie sind zu diesem Zweck acht dreigeschossige Etagenpritschen mit Strohbelag und ein Kanonenofen eingebaut. Gedacht sind sie für 24 Häftlinge (3 mal 8 Gefangene). Bei 21 so ausgestatteten und belegten Waggons ergibt sich daraus die Soll-Zahl von 504 Häftlingen. Eine Sonderstellung unter den KZ-Häftlingen nehmen die sog. Kapos und Funktionshäftlinge ein. Zur Erklärung so viel: „Kapo“ ist die NS-Abkürzung für „Kameradenpolizei“. Kapos sind also Häftlinge, die auf die anderen Häftlinge aufpassen und zusehen sollen, dass diese ihre Arbeit verrichten und NS-„Ruhe und Ordnung“ bei den Häftlingen herrschen. „Funktionshäftlinge“ sind ebenfalls KZ-Häftlinge, die eine „Funktion“ für den Zug haben, die etwa Koch oder Schuhmacher des Zuges sind. Eine besondere Funktion hat schließlich noch der „Lagerälteste“. Er ist die Kontaktperson für die SS, wenn es um die Häftlinge der gesamten Baubrigade geht. Diese Kapos und Funktionshäftlinge haben gewisse Freiheiten (sie können etwa Zivilkleidung tragen) und haben auch mehr Platz in den ihnen vorbehaltenen Waggons. Des Weiteren gibt es in dem SS-Eisenbahnbauzug Funktionswagen – einen Werkstatt- und einen Küchenwagen und weitere Waggons dieser Art. Bessere Wagen – Schlaf- oder D-Zug-Wagen - sind für das SS-Personal – differenziert nach der Funktion des Betreffenden beim Bauzug – vorgesehen. Besser als die KZ-Häftlinge sind wohl auch die Eisenbahner untergebracht.
Dieser Zug hat die Bezeichnung „12. SS-Eisenbahnbauzug“. Insgesamt gibt es seit September 1944 mehrere – bis Kriegsende substanziell 8 - dieser Züge. Ihre Aufgabe ist es, im Auftrag der Deutschen Reichsbahn beschädigte Gleisanlagen und Brücken zu reparieren. Diese „Konzentrationslager auf Schienen“ sollen bei uns hier im Westen des damaligen Deutschen Reichs die durch die Alliierten zerstörten Nachschublinien instand setzen und so die letzten Offensiven der Deutschen Wehrmacht ermöglichen und sichern.
Der 12. SS-Eisenbahnbauzug verlässt nun an Heiligabend 1944 das KZ Sachsenhausen und fährt bis in unsere Gegend. Seine erste Station ist Kamp am Rhein (heute: Kamp-Bornhofen) – rechtsrheinisch zwischen der Loreley und Koblenz gelegen. Dort steht er auf einem Nebengleis. Sein Einsatzort ist nicht Kamp selbst, sondern vielmehr das rechtsrheinische Lahnstein, der Bahnhof von Oberlahnstein und auch der von Niederlahnstein. Warum gerade Lahnstein?
Das damals noch selbständige Oberlahnstein ist ein Eisenbahnknotenpunkt. Dort verläuft die rechtsrheinische Strecke Frankfurt/Main – Koblenz und diese trifft dort auf die Lahntalbahn. Die Lahntalbahn führt von Koblenz nach Wetzlar. Sie ist – und das ist der springende Punkt hier – eine Teilstrecke der „Kanonenbahn“. Als Kanonenbahn bezeichnet man die Bahnstrecke von der Reichshauptstadt Berlin in die lothringische Metropole Metz. Metz ist damals – nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 – mit Elsaß-Lothringen ein Teil des Deutschen Reiches. Die Strecke Berlin - Metz ist schon vor dem Zweiten Weltkrieg gut ausgebaut, um das neue Territorium mit der Reichshauptstadt effizient zu verbinden. Dabei sind bestehende Bahnstrecken, wie die Lahntalbahn, einbezogen. Im Zweiten Weltkrieg hat diese Strecke - gerade für die Rundstedt-Offensive – eine besondere militärstrategische Bedeutung.
Die nach dem Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt benannte Offensive der Deutschen Wehrmacht – auch „Ardennenoffensive“ oder Unternehmen „Wacht am Rhein“ genannt – hat das Ziel, ab dem 16. Dezember 1944 die seit zwei Monaten von den Westalliierten besetzte Stadt Aachen zurückzuerobern und dann den Hafen von Antwerpen einzunehmen. Dieser Hafen ist für den alliierten Nachschub sehr wichtig.
In dieser Situation ist klar, dass die „Kanonenbahn“ nach Metz für den deutschen Nachschub sehr wichtig ist und die alliierten Bomber die Eisenbahnknotenpunkte der Strecke – wie etwa Oberlahnstein - zu zerstören suchen. Deshalb wird der 12. SS-Eisenbahnbauzug nach Kamp beordert. Kaum ist die Eisenbahnbaubrigade dort eingetroffen und in Lahnstein eingesetzt, wird sie bei ihrer Arbeit am Niederlahnsteiner Bahnhof von einem alliierten Jagdbomberangriff überrascht. Dabei werden zwei Häftlinge getötet, weitere verwundet. Verletzt wird auch der sie beaufsichtigende Kommandoführer, SS-Hauptscharführer Gustav Sorge, so dass er nicht mehr bei Bauzug tätig sein kann. Das ist für die Häftlinge Glück im Unglück. Denn Sorge, der den Spitznamen „Der eiserne Gustav“ hat, ist ein furchtbarer SS-Scherge. In der frühen Nachkriegszeit wird er von den Sowjets wegen der Ermordung von mehr als 18.000 sowjetischen Häftlingen im KZ Sachsenhausen zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung und Abschiebung in die Bundesrepublik Deutschland wird er vom Landgericht Bonn wegen persönlich ausgeführter Morde an 67 KZ-Häftlingen erneut mit lebenslanger Haft bestraft. Der Massenmörder Sorge stirbt dann 1978 in Gefängnishaft.
Vom weiteren Aufenthalt des Eisenbahnbauzuges in Kamp wissen wir, dass es sich dort die SS-Führer haben gut sein lassen. Der Kommandant und damit Chef des Bauzuges, ein gewisser Dr.–Ing. Rudolf Götze, seines Zeichens Hauptsturmführer, trifft sich am Abend oft zum Kartenspiel in einem Kamper Hotel. Für Zerstreuung sorgen dabei sicherlich auch die beiden Töchter des Hauses.
Diese abendliche „Idylle“ wird aber eines Tages, es ist der 30. Dezember 1944, durch einen Vorfall gestört. Da wird ein Trupp Soldaten angekündigt. Sie haben drei abgeschossene und gefangen genommene amerikanische Flieger in ihrem Gewahrsam und sind damit auf dem Weg nach Kamp. Da das Spritzenhaus dort nicht sicher ist, kommt man auf die Idee, die Gefangenen in einem Wagen des Bauzuges festzusetzen – und zwar in dem Wagen, in dem schon die beiden in Niederlahnstein ums Leben gekommenen KZ-Häftlinge liegen. Der Empfang für die drei Amerikaner verheißt nichts Gutes. Der Ortspolizist soll gesagt haben: „Die sind morgen nicht mehr am Leben.“
Er sollte Recht behalten. In der Nacht, in der der Kommandant des Zuges in seinem Stabswagen eine „kleine interne Geselligkeit“ mit Mädchen aus Kamp, unter ihnen auch die beiden Töchter des Hoteliers, hat, werden die drei Flieger im dem Wagen erschlagen. Die Mörder sind – wenn das auch nie vollständig geklärt werden konnte – aller Voraussicht nach KZ-Häftlinge, und zwar ein Kapo und ein Funktionshäftling. Der Kommandant schreibt über den Vorfall einen Bericht an seine vorgesetzte Dienststelle. Danach sind die drei Flieger angeblich bei einem „Fluchtversuch“ aus dem Wagen von Kapos und Funktionshäftlingen erschlagen worden, und zwar aus Wut über den Fliegerangriff wenige Tage zuvor in Niederlahnstein. Diese Geschichte ist ungereimt und wird noch ungereimter, wenn er in seinem Bericht andererseits einräumen muss, dass die alliierten Flieger „wüst zugerichtet“ waren, während die angeblichen Opfer unter den Kapos und Funktionshäftlingen keinerlei ernstliche Verletzungen aufwiesen.
Während die Toten – und zwar sowohl die drei alliierten Flieger als auch die beiden beim Bombenangriff in Niederlahnstein ums Leben gekommenen KZ-Häftlinge – auf dem Friedhof in Kamp beerdigt werden, geht man im 12. SS-Eisenbahnbauzug schnell wieder zur Tagesordnung über. Die KZ-Häftlinge werden zu ihren Einsatzorten in Ober- und Niederlahnstein gebracht und erledigen dort ihre Aufgaben.
Wie lange der Bauzug noch in Kamp stationiert ist, ist nicht genau bekannt. Es ist anzunehmen, dass er Mitte Januar 1945 Kamp verlässt und nach einem viertägigen Aufenthalt in Mainz zu seiner zweiten Station kommt – nach Bad Kreuznach.
Es ist kein Zufall, dass der Zug nach Bad Kreuznach dirigiert wird. Denn wiederholt, beginnend mit dem 3. November 1944, wird die viergleisige Eisenbahnbrücke zwischen Bad Kreuznach und Bad Münster am Stein von alliierten Bomben schwer getroffen, so dass alle Gleise unbefahrbar sind. Diese Schäden werden zunächst – offenbar von einem Bauzug der Deutschen Reichsbahn – provisorisch beseitigt.
Verheerend ist dann ein Tieffliegerangriff zu Weihnachten 1944 – für die Stadt Bad Kreuznach, aber auch für die Verkehrsverbindungen. In einem Schadensbericht der Reichsbahn heißt es dazu, die zwischen Bad Münster am Stein und Ebernburg liegende Nahebrücke sei schwer getroffen worden und zusammengestürzt, der Eisenbahnbetrieb und der Straßenverkehr seien gesperrt. Die viergleisige Nahebrücke am östlichen Bahnhofsende und der anschließende Streckenbereich in Richtung Bad Kreuznach hätten mehrere Treffer erhalten. Alle Gleise seien unbefahrbar. Unbestimmt sei, wann die Nahebrücken wieder instand gesetzt seien. - Am 2. Januar 1945 geraten Bad Kreuznach und Bad Münster am Stein ein weiteres Mal in das Fadenkreuz alliierter Luftangriffe. Bei diesen Luftangriffen kommen an Weihnachten 1944 und am 2. Januar 1945 über 250 Menschen ums Leben und die halbe Einwohnerschaft von Bad Kreuznach wird obdachlos.
Nun gut, kann man sagen. Das sind schon schwere Angriffe: Wer davon betroffen ist, hat viel Leid und Elend und gar den Tod ertragen müssen. Aber das gab und gibt es auch andernorts in der Endphase des Zweiten Weltkrieges – warum aber gerade Bad Kreuznach?
Ein Teil der Antwort ergibt sich aus einem Blick auf das damalige Streckennetz der Deutschen Reichsbahn. Hier werfen wir zunächst einen Blick auf das uns vertraute Streckennetz der Bahn heute. Und jetzt zum damaligen Streckennetz der Deutschen Reichsbahn damals. Bad Kreuznach und Bad Münster am Stein sind ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Ausgangspunkt dieser Betrachtung ist die linksrheinische Eisenbahnstrecke Mainz –Koblenz. Von Bingerbrück (heute: Bingen Hauptbahnhof) zweigt die Nahetalbahn ab und führt über Bad Kreuznach und Bad Münster am Stein die Nahe hinauf. Außerdem verläuft eine Strecke von Mainz über Gau-Algesheim weiter nach Bad Kreuznach und Bad Münster am Stein, ein Abzweig vor Bad Kreuznach führt nach Alzey. Weiterhin beginnt die Alsenzbahn in Bad Münster am Stein führt die Alsenz hinauf. Zudem gibt es in jenen Jahren noch die Glantalbahn. Sie führt von Bad Münster am Stein den Glan hinauf. Doch damit nicht genug. Damals gibt es in Bingen noch eine Verbindungsstrecke zwischen den links- und rechts-rheinischen Linien. Sie überquert mit der Hindenburgbrücke den Rhein und verbindet Bingen unmittelbar mit Rüdesheim und Geisenheim.
Und wo führen die einzelnen Strecken hin? Die Alsenzbahn führt nach Hochspeyer und dann weiter, die Glantalbahn nach Homburg/Saar und die Nahetalbahn nach Saarbrücken. Alle Strecken gehen nach Westen. Mit der Zerstörung der Nahebrücken ist der Schienenverkehr im Westen schwer getroffen und die Verbindungen vom Rhein ins Saargebiet und vom Rhein in die Pfalz über das Streckennetz an der Nahe sind zerschnitten.
Ein weiterer Teil der Erklärung ist, dass davon der Kriegsschauplatz im Westen schwer betroffen ist. Ich erinnere an die Rundstedt-Offensive oder besser gesagt, was von diesem Unternehmen ab Mitte Januar 1945 noch übriggeblieben ist. Denn Mitte Januar 1945 ist diese Offensive gescheitert, die Deutsche Wehrmacht ist auf den Ausgangspunkt der Offensive zurückgedrängt. Die strategische Bedeutung besteht aber weiterhin, geht es doch jetzt darum, ein weiteres Eindringen der alliierten Truppen ins Deutsche Reich zu verhindern. Und Dreh- und Angelpunkt für diese Infrastruktur ist die viergleisige Brücke über die Nahe zwischen Bad Kreuznach und Bad Münster am Stein. Das ist das Nadelöhr. Ist dies beseitigt, gibt es auf diesem Weg keinen Nachschub mehr für die Soldaten im Westen.
Voller Genugtuung, aber zutreffend stellte der Bericht der Alliierten zum Angriff am 2. Januar 1945 fest, dass die Eisenbahnlinie und die Eisenbahnanlagen in Bad Kreuznach an der Bahnlinie von Köln nach Saarbrücken und ein Knoten von Zweiglinien nach Kaiserslautern, Neustadt (an der Weinstraße) und Mannheim schwer beschädigt seien. Das Saargebiet und die Pfalz auf der einen und die Rheinlinie auf der anderen Seite seien bahntechnisch so voneinander abgeschnitten, dass nur noch ein regionaler Personenverkehr beiderseits der Schadensstelle möglich war.
In dieser Situation wird der 12. SS-Eisenbahnbauzug nach Bad Kreuznach beordert. Wie wir schon in Kamp gesehen haben, fallen auch hier der Stationierungs- und der Einsatzort des Eisenbahnbauzuges auseinander. Stationiert ist der Zug in Bad Kreuznach in der Rothlaymühle, eingesetzt wird er in Bad Münster am Stein und gerade an der Eisenbahnbrücke über die Nahe.
Wann genau der Zug an der Rotlaymühle eintrifft, lässt sich nicht mehr feststellen. Immerhin gibt es einige Erkenntnisse über den Zug und seine Menschen in Bad Kreuznach. Eine wichtige Informationsquelle sind die Beurkundungen der Todesfälle vom Bauzug – das war schon zu Hugo Salzmanns Zeiten so.
Der erste in Bad Kreuznach registrierte Tote wird am 20. Januar 1945 angezeigt, der letzte am 25. Februar 1945. Daraus ist abzuleiten, dass der 12. SS-Eisenbahnbauzug jedenfalls in der Zeit vom 20. Januar bis zum 25. Februar 1945 in der Rothlaymühle in Bad Kreuznach stationiert ist. In dieser Zeit wird der Tod von insgesamt 28 KZ-Häftlingen registriert.
Ein weiterer Anhaltspunkt für die Dauer des Aufenthalts des Zuges in Bad Kreuznach ergibt sich aus seiner Aufgabe. Wenn es seine Aufgabe vor allem ist, die viergleisige Nahebrücke für den Eisenbahnverkehr wieder herzustellen, dann kann man aus ihrem Zustand auf die Tätigkeit des Zuges schließen. Wir wissen, dass die viergleisige Nahebrücke bald wieder eingleisig befahrbar ist. Am 21. Februar 1945 wird dieses neue Gleis wiederum zerstört und unbefahrbar. Das ist dann aber noch nicht das Ende des Bauzugs in Bad Kreuznach. Denn wir wissen weiter, dass die Eisenbahnbrücke wiederhergestellt wird – so dass sie am 11. März 1945 erneut Ziel eines alliierten Luftangriffs ist. Das heißt, dass der 12. SS-Eisenbahnbauzug offensichtlich nach dem 21. Februar 1945 noch in Bad Kreuznach war und die Eisenbahnbrücke repariert hat – schließlich wird sie ja nun repariert und wer anderes als die Leute vom Eisenbahnbauzug sollte sie repariert haben?! Das bestätigt die Annahme, dass der Bauzug bis Ende Februar 1945 in Bad Kreuznach ist, aber auch nicht länger – wie wir bald noch sehen werden.
Interessant ist natürlich, etwas über die Lebens-, Überlebens- und Todesbedingungen für die KZ-Häftlinge zu erfahren. Darüber sagen die nackten Sterbedaten der toten Häftlinge nichts aus. Immerhin sind von diesen Toten gewisse Personendaten, wie die Nationalität, das Alter, der Status als Häftling und anderes mehr, bekannt. Daraus lassen sich bei aller Vorsicht und unter Vorbehalt fünf Tendenzen feststellen:
Erstens: Nicht nur nominell, sondern auch tatsächlich kommen wohl alle Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen. Zweitens: Die deutschen Häftlinge sind deutlich in der Minderzahl. Drittens: Obwohl die deutschen Häftlinge klar in der Minderzahl sind, stellen sie die weitaus meisten Kapos und Funktionshäftlinge. Viertens: Offenbar sehr viele der deutschen Häftlinge sind ehemalige Wehrmachtsangehörige. Und fünftens: Die weitaus meisten Häftlinge, gleichgültig ob Deutsche oder Ausländer, sind wohl erst kurz vor ihrer Zuweisung zum Bauzug in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert worden – und zwar ist das für sie ihr erster KZ-Aufenthalt gewesen.
Jedenfalls für die Toten von Bad Kreuznach wird man davon ausgehen können, dass sie zunächst noch in einem „durchschnittlichen Gesundheitszustand“ und – im Guten wie im Schlechten – noch nicht an die schweren Lebens- und Überlebensbedingungen und Qualen in einem Konzentrationslager „gewöhnt“ sind. Das hat sich dann in Bad Kreuznach offensichtlich schnell geändert. Die Todesursachen lassen auf eine extreme Mangelernährung der Toten und auch der anderen Häftlinge schließen. Häftlinge verhungern oder gehen an Folgeerkrankungen elendlich zugrunde. Ein ehemaliger holländischer Häftling stellt nach dem Krieg dazu fest: „In Bad Kreuznach haben wir so gut wie nichts zu essen bekommen. Bernard Tangk und Piet Pladdet sind in Bad Kreuznach vor Hunger gestorben.“
Insgesamt wird man davon ausgehen müssen, dass für die KZ-Häftlinge des Bauzugs das Überleben schwer, sehr schwer ist. Sehr harte Arbeit, schlechte Verpflegung und völlig unzureichende medizinische Versorgung wie auch Erniedrigungen, Willkür und Brutalitäten verursachen nicht nur schwere und dauernde Krankheiten, sondern recht oft auch den Tod.
Hugo Salzmann, der selbst im französischen Konzentrationslager Le Vernet und in Gefängnissen und im Zuchthaus schwere Verfolgung erlitt, beschrieb seinerzeit die Situation der Häftlinge so:
Die (KZ-Häftlinge) aus Deutschland und allen europäischen Staaten (…) kamen (…) als „wanderndes Konzentrationslager“ aus dem KZ-Lager Oranienburg (…) hierher. Ein Güterzug, 20 Wagen lang. 500 ausgemergelte, verhungerte und verlumpte Gestalten. Dünne leinene gestreifte Zebra-Anzüge, Holzschuhe und Holzschlappen, die Füße mit Lumpen umwickelt. 75 v. H. russische Kriegsgefangene - in zerrissenen, verbrauchten Uniformen – alle ohne Mäntel bei der furchtbaren Kälte, die damals vorherrschte. Tief lagen ihre Augen in den Augenhöhlen. Die Backenknochen standen weit heraus. Hunger stand in ihren flehenden Augen. So wankten klappernd mit ihren Holzschuhen diese Gefangenen der SS über den Brückes, nach jedem Nahrungsrest in den Straßenrinnen suchend. Man führte sie zu den Trümmern, welche amerikanische und englische Bomben am „Heiligen Abend“ 1944 geschaffen hatten und zu den zerstörten Gleisanlagen, um sie wieder herzurichten und die zerfetzten blutigen Hunderte von Leichen, Männer, Frauen und Kinder zu bergen. Sie, die Grauen erlebten, mussten Grauen beseitigen, und abends ging es zurück an die Rote Ley, wo der „Bauzug (…)“ in Deckung stand. In 10 Waggons waren 500 arme Menschen – ohne Heizung – hungrig eingepfercht, bei furchtbarer Kälte – 50 Mann in einem Wagen.
Diese Opfer des Faschismus waren Bauern, Arbeiter, Wissenschaftler, Angestellte, Beamte, Offiziere und Soldaten. Nacht für Nacht starben sie, wurden erschossen oder zu Tode geprügelt. Ein „Kapo“ tat mit der SS diese Schandtaten und er durfte mit der SS dafür abends zur „Bocksgasse“ gehen! In den übrigen 10 Waggons hatte sich das Bewachungspersonal der SS mit seinem Offiziersstab fürstlich eingerichtet.
Eine gewisse Vorstellung von der Situation erhält man vielfach erst durch konkrete Lebensschicksale. Ein solches Schicksal haben wir ansatzweise rekonstruieren können. Es ist keineswegs typisch für die ca. 500 KZ-Häftlinge des 12. SS-Eisenbahnbauzuges. Aber wir haben von den Opfern des Bauzuges kein anderes. Deshalb können wir nur dieses hier exemplarisch herausstellen. Übrigens hatte schon Hugo Salzmann in der frühen Nachkriegszeit dieses Schicksal entdeckt und seinerzeit Kontakt zur Schwester des Opfers aufgenommen. Es handelt sich um Erich Freiherr Vogt von Hunolstein.
Erich von Hunolstein wird 1896 als Spross eines alten Adelsgeschlechts geboren, das sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, und seinen Stammsitz auf der Burg Hunolstein im gleichnamigen Ortsteil der Gemeinde Morbach im Hunsrück hat. Sein Vater ist Hauptmann und Forstmeister. Sohn Erich wächst in Wiesbaden auf, macht dort 1914 das sog. Notabitur und meldet sich als Freiwilliger für den Ersten Weltkrieg. Auch nach dem Krieg bleibt er aktiver Soldat der Reichswehr. Im Jahr 1931 – er ist inzwischen Hauptmann – erhält seine Karriere einen Knick und er scheidet aus dem Soldatenverhältnis aus. Daraufhin geht er als Militärberater und Ausbilder nach China. 1936 kehrt er nach Wiesbaden zurück, wird wenige Monate später wieder als Hauptmann in der deutschen Wehrmacht reaktiviert und ein Jahr später zum Major befördert. Spätestens da treten psychische Veränderungen bei ihm auf, die zu seiner erneuten Entlassung führen. In der Folgezeit unternimmt er Sprachstudien, Reisen und ist auch als Personalsachbearbeiter einer größeren Firma tätig. Mit der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Hitler wird Hunolstein 1939 erneut Soldat, zunächst am Westwall, dann in Polen. Als sich seine psychische Krankheit – es ist ein chronischer Verfolgungswahn (Paranoia) bzw. eine Schizophrenie – schlimmer wird, wird er wiederum aus dem Soldatenverhältnis entlassen.
Dann reist Erich von Hunolstein und lebt von seinen Ersparnissen. Im Frühjahr 1941 schreibt er an den „Führer“ Adolf Hitler. Er bittet um Schadensersatz wegen der seiner Meinung nach zu Unrecht erfolgten Entlassung aus dem Soldatenverhältnis und um Schutz vor der von ihm verspürten Verfolgung. Als er seinem Anliegen durch eine Beschwerde beim Oberkommando der Wehrmacht Nachdruck verleiht, wird er von der Gestapo „zwecks Ausheilung seines Gemütsleidens als Schutzhäftling“ in eine Nervenklinik eingeliefert und dann an andere „weitergereicht“. Im Juli 1943 wird er von der Nervenklinik der Stadt und Universität Frankfurt am Main mit Zustimmung der Gestapo als „gebessert“ nach Hause entlassen.
Erich Freiherr Vogt von Hunolstein ist dann nicht lange in Freiheit. Anfang April 1944 wird er festgenommen und im Polizeigefängnis von Frankfurt am Main inhaftiert. Im Herbst 1944 geht es um seine erneute Einweisung in die Nervenklinik Frankfurt am Main. Dazu kommt es aber nicht. Stattdessen verfügt das Reichssicherheitshauptamt in Berlin seine Einweisung in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Dorthin wird er Anfang Dezember 1944 verschleppt. Einige Tage später kommt er zum 12. SS-Eisenbahnbauzug und ist einen Monat später, am 26. Januar 1945, tot. Als Todesursache meldet der Kommandant des Bauzuges dem Kreuznacher Standesamt: „Herzmuskelschwäche und allgemeine Schwäche“ - seine Angehörigen sprechen davon, dass er von der SS-Wachmannschaft des Zuges erschossen worden sei.
Hunolstein und 27 andere Tote des Bauzuges werden dann auf dem kleinen jüdischen Friedhof an der Straße von Bad Kreuznach nach Bretzenheim in der Gemarkung „Auf dem Galgen“ verscharrt. Weshalb sie auf dem jüdischen Friedhof und nicht auf dem „allgemeinen“ Friedhof von Bad Kreuznach beerdigt werden, dürfte klar sein: Der „christliche“ Friedhof soll nicht durch KZ-Häftlinge „entweiht“ werden. Bei dem jüdischen Friedhof ist das etwas anderes und ohnehin egal.
Unter diesen Toten sind auch zwei KZ-Häftlinge, die nicht in das Bild passen, das wir uns von diesen Menschen machen: kahlgeschoren, in KZ-Kleidung und Holzschuhe gesteckt, gequält, erniedrigt, ausgebeutet und mindestens halb verhungert. Bei diesen beiden Toten handelt es sich auch um Opfer, aber auch und vor allem auch um Täter.
Einer der beiden ist Karl Leistner. Der 1913 geborene Leistner ist – wie es im NS-Jargon heißt – Reichsdeutscher. Ansonsten wissen wir von seiner Biografie nicht viel. Aller Voraussicht nach ist er wiederholt straffällig gewesen und kommt dann in sog. Vorbeugehaft. Auch war er Wehrmachtsangehöriger. Jedenfalls ist er im September 1940 im KZ Sachsenhausen. Dort trägt er den „grünen Winkel“, mit dem die sog. befristet Vorbeugehäftlinge - im Nazi-Jargon „Berufsverbrecher“ – gekennzeichnet werden. Im Dezember 1944 ist er als Häftling des 12. SS-Eisenbahnbauzugs registriert und von Beginn an als Oberkapo eingesetzt. Leistner ist nun der „Chef“ der „Kapos“ - „Oberkapo“ des Eisenbahnbauzuges.
Leistner hatte sicherlich etwas mit den Morden an den drei alliierten Fliegern in Kamp zu tun. Was genau ist nie geklärt worden. Feststeht, dass seinerzeit sehr bald der Verdacht auf die Kapos und Funktionshäftlinge fällt, Leistner wird als einer der Täter genannt. Immerhin ist auffällig, dass er und der Lagerälteste Reinke Streit miteinander haben. Dabei geht es um die Kleidung, die Ringe und Uhren der drei ermordeten Flieger. Leistner wird dann – in Bad Kreuznach – mit einem Genickschuss erschossen. Er soll im Sterben einem anderen Häftling noch zugerufen haben: „Der Lagerälteste hat mich erschossen!“ Dieser andere Häftling hat nach seiner Darstellung den Lagerältesten Reinke dann auch mit einer Pistole in der Hand gesehen. Der Kommandant des Bauzuges will das so nicht wahrhaben und zeigt den Tod Leistners am 24. Januar 1945 gegenüber dem Bad Kreuznacher Standesamt mit der Todesursache: „Erschossen, weil er versuchte zu fliehen.“, an.
Der zweite dieser „irritierenden“ Toten ist der bereits erwähnte Lagerälteste Paul Reinke. Reinke überlebt seinen mutmaßlichen Mordkumpanen Leistner nur um zwei Wochen. Als Ursache seines Todes gibt der Kommandant des Bauzuges gegenüber dem Standesamt Bad Kreuznach wiederum „auf der Flucht erschossen“ an.
Richtig dürfte vielmehr folgendes sein: Der 1901 geborene Reinke ist wie Leistner befristeter Vorbeugehäftling, BVler. Auch er hat zahlreiche Straftaten begangen. Deshalb sitzt er im Zuchthaus, kommt dann in eine Sicherungsanstalt und im November 1940 ins KZ Sachsenhausen. Er wird im Dezember 1944 dem SS-Eisenbahnbauzug zugewiesen und „Lagerältester“ des Bauzugs, als Befehlsempfänger der SS für Anordnungen an die anderen Häftlinge.
Anfang Februar 1945 findet im Stabswagen des Bauzuges wieder einmal eine kleine interne Feierlichkeit statt. Reinke ist angetrunken, nicht zur Feier eingeladen und hält sich in der Nähe des Stabswagens auf. Ein SS-Unterscharführer kommt da vorbei. Reinke pöbelt ihn an, beide geraten in Streit miteinander, Reinke nennt den SS-Mann, der aus dem Banat (aus dem früheren Jugoslawien) stammt, einen „Beute-Deutschen“. Das ist dann für den SS-Mann zu viel und er erschießt Reinke.
Wie gesagt, auch diese beiden – Leistner und Reinke - waren KZ-Häftlinge, sie starben während des Aufenthalts des Eisenbahnbauzuges in Bad Kreuznach und werden mit den anderen KZ-Häftlingen auf dem jüdischen Friedhof beerdigt.
Ende Februar 1945 verlässt der 12. SS-Eisenbahnbauzug die Rothlaymühle und Bad Kreuznach überhaupt. Bei der Abfahrt aus Bad Kreuznach oder kurz danach werden 157 KZ-Häftlinge aus dem Bauzug entfernt, die krank oder nicht mehr arbeitsfähig sind. Sehr wahrscheinlich verschleppt man sie ins KZ Bergen-Belsen bei Hannover – zum Sterben.
Der Zug fährt weiter nach Rheinhessen, nach Uhlerborn und Mainz-Mombach. Und weiter nach Frankfurt am Main und nach Bad Nauheim. Schließlich erreicht er seinen neuen Einsatzort Gießen. Auf dem dortigen Bahnhof ist er Ziel eines größeren Luftangriffs. Er weicht dann auf den Nachbarort Großen-Buseck an der Bahnstrecke Gießen-Fulda aus.
Der Zeitraum des Aufenthalts dort lässt sich wiederum – so makaber es ist – durch die Toten des Bauzuges bestimmen. Danach hält sich der Zug dort jedenfalls vom 11. bis 24. März 1945 auf. Im Sterbebuch von Großen-Buseck sind in diesem Zeitraum 10 KZ-Häftlinge registriert.
Nicht im Sterbebuch eingetragen ist der Tod eines polnischen KZ-Häftlings am 18. März 1945. An diesem Tag, einem Sonntag, ist der Eisenbahnbauzug von einem alliierten Fliegerangriff betroffen. Zwei Häftlingswagen brennen aus, einige Häftlinge kommen um. Als sich die erste Verwirrung legt, stellt man fest, dass zwei Häftlinge fehlen. Man findet sie in den umliegenden Häusern. Einer der beiden, ein Pole, hat unter seiner Sträflingskleidung einen Zivilanzug versteckt. Offenbar hat er ihn in den Trümmern des Hauses gefunden und an sich genommen. Das ist für den Kommandoführer des Zuges „Plünderung“. Er macht mit dem Polen „kurzen Prozess“ und beauftragt einen Funktionshäftling, den Koch des Zuges, den Polen zu erhängen. Das macht er auch – doch der Strick reißt und das Opfer fällt leblos zu Boden. Da hebt man ihn wieder hoch und der Koch zieht seinen Ledergürtel aus, zieht ihn als Schlinge um dessen Hals und erhängt ihn damit.
Inzwischen sind als Ersatz für die 157 Häftlinge, die den Zug in oder kurz nach Bad Kreuznach verlassen haben, ca. 200 Häftlinge aus dem KZ Buchenwald bei Weimar dem Zug zugeführt worden.
Wahrscheinlich am 25. März 1945 verlässt der Zug Großen-Buseck. Es geht weiter nach Osten, nach Grünberg. Dort bleibt der Zug liegen und die Häftlinge marschieren von den SS-Leuten bewacht zu Fuß weiter. Bei ihrem Eintreffen einige Stationen weiter ist ihr Zug wieder da. Sie besteigen ihn und fahren mit ihm weiter – immer weiter nach Osten. Es ist schon eine „Flucht“, denn die amerikanischen Bodentruppen sind bis auf 10 Kilometer an sie herangerückt.
Hinter Alsfeld nutzen mehrere Häftlinge den Gang für die Beschaffung von Lebensmitteln zur Flucht. Der Zug fährt ohne sie weiter, aber sie sind noch nicht frei. Denn sie müssen sich noch in Acht nehmen. Volkssturm, Hitlerjungen, SS-Kampfgruppen, Polizisten und Soldaten beteiligen sich nämlich bis zuletzt an der Ergreifung und Ermordung von flüchtenden KZ-Häftlingen. Einige Tage später werden sie in Bad Salzungen von den Amerikanern aufgegriffen.
Unterdessen setzt der SS-Eisenbahnbauzug seinen Weg nach Osten fort. Was die Häftlinge auf dieser Fahrt erleiden müssen, ist nicht bekannt. Es lässt sich allenfalls aufgrund der Rahmenbedingungen vermuten. Wahrscheinlich ist diese Zeit noch mehr als die frühere geprägt von Hunger und Angst: einerseits die Angst, von den alliierten Tieffliegern getötet, andererseits die Angst, in ein Konzentrationslager gebracht, und dann zunehmend noch die Angst, von den SS-Leuten umgebracht zu werden. Denn es geht das Gerücht, dass kein Häftling in die Hände der „Feinde“ fallen dürfe.
Die nächsten Stationen des Zuges sind Erfurt, Dresden, Pilsen im heutigen Tschechien und Linz in Oberösterreich. Sein Ziel soll das Konzentrationslager Mauthausen bei Linz sein. Dort können sie aber nicht bleiben, weil das KZ schon grauenvoll überfüllt ist. In Oberösterreich gelingt - nach Darstellung des Bad Kreuznachers Eisenbahners Otto Stumpf - der Mehrzahl der Häftlinge die Flucht.
Für die Verbliebenen setzt sich die Odyssee fort. Der Zug wird weiter dirigiert in das Konzentrationslager Ebensee am Traunsee im Salzkammergut – 50 Kilometer östlich von Salzburg. Seit Januar 1945 ist das KZ Ebensee Ziel zahlreicher Häftlingstransporte aus anderen Konzentrationslagern. Ebensee ist total überfüllt und die – ohnehin völlig unzureichende – Versorgung bricht zusammen. Am 23. April 1945 erreicht das Lager den Höchststand mit 18.500 Häftlingen. Allein im April 1945 sterben ca. 4.000 Häftlinge.
Am 3. Mai 1945 erreicht der 12. SS-Eisenbahnbauzug Ebensee; die Häftlinge werden am folgenden Tag registriert. Es ist für die 214 verbliebenen Häftlinge die letzte Station. Am selben Tag trifft dort auch noch der 11. SS-Eisenbahnbauzug aus dem KZ Neuengamme bei Hamburg mit 206 Häftlingen ein.
Zwei Tage später befreien amerikanische Soldaten die Häftlinge. Sie finden ca. 1.000 Tote vor. Die übrigen Häftlinge sind im Durchschnitt auf 34 Kilogramm abgemagert. Trotz der sofort einsetzenden medizinischen Versorgung sterben in den nächsten Tagen und Wochen noch ca. 750 Häftlinge.
Über das weitere Schicksal der Häftlinge des 12. SS-Eisenbahnbauzuges in diesem Durcheinander und Massensterben ist ganz wenig bekannt. Ein Schlaglicht auf die Situation wirft die Äußerung eines befreiten holländischen Häftlings: „Wegen Unterernährung war ich in Ebensee am Rande des Todes.“
Vom Massensterben im KZ Ebensee im Mai 1945 zurück nach Bad Kreuznach in die frühe Nachkriegszeit.
Wie am Anfang des Vortrages berichtet, ist es Hugo Salzmann, der sich Anfang 1946 um das Schicksal der in Bad Kreuznach umgekommenen KZ-Häftlinge des 12. SS-Eisenbahnbauzuges kümmert. Salzmann schaltet dabei auch den Vertreter der französischen Militärregierung in Bad Kreuznach ein. Die Recherche nach den Toten und der Umgang mit ihnen gestalten sich schwierig. Unproblematisch ist allein der Liegeort. Die in Frage kommenden Toten sind alle auf dem jüdischen Friedhof zwischen Bad Kreuznach und Bretzenheim, der auf Bretzenheimer Gebiet liegt, verscharrt. Nach den standesamtlichen Eintragungen steht mittlerweile auch die Zahl der Toten des Bauzuges fest. Es sind insgesamt 28 KZ-Häftlinge, davon 7 Deutsche und 21 Ausländer (7 Franzosen, 7 Holländer, 3 Polen, 2 Belgier, 1 Italiener und 1 Ungar).
Der französischen Besatzungsmacht sind die deutschen Toten nicht wichtig. Sie kümmern sich lediglich um die 21 ausländischen Toten. Für diese wollen sie eine würdige Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof und außerdem eine angemessene Herrichtung der gesamten Friedhofsanlage. Dagegen sträuben sich die Bretzenheimer. Sie stehen auf dem Standpunkt, dass die Toten in Bad Kreuznach zu beerdigen seien, schließlich sind sie ja – so deren Argumentation - in Bad Kreuznach gestorben.
Auch Hugo Salzmann, der unterdessen weiter recherchiert und aufklärt, spricht sich für eine Umbettung der KZ-Häftlinge – und zwar aller, unabhängig von ihrer Nationalität – nach Bad Kreuznach aus. Diese Anregung verbindet er mit einer weiteren: Die letzte Ruhestätte der Toten des 12. SS-Eisenbahnbauzuges in Bad Kreuznach soll mit einem Mahnmal für alle Opfer des Faschismus gewürdigt werden.
Nach längerem Hin und Her kommt es Mitte Oktober 1948 zu der Umbettungsaktion. Geplant ist die Aktion für die 21 ausländischen Häftlinge. Für diese werden 21 Särge bereitgestellt. Ausgeführt werden soll die Exhumierung von Bretzenheimer Nazis. Dazu richtet der Amtsbürgermeister von Langenlonsheim unter dem Datum des 13. Oktober 1948 folgendes Schreiben an einzelne Personen:
Der Amtsbürgermeister Langenlonsheim, den 13.10.1948
als Ortspolizeibehörde
Abt. III
An
Herrn X
in Bretzenheim
Auf Anordnung der Militärregierung findet morgen (Donnerstag) die Umbettung der auf dem Judenfriedhofe Bretzenheim beerdigten alliierten Angehörigen statt, die während des Krieges von den Nazis erschlagen wurden. Laut ausdrücklicher Anordnung sollen die Arbeiten von ehemaligen SS-Leuten und alten Kämpfern ausgeführt werden. Auftragsgemäß ersuche ich Sie daher, sich morgen früh, spätestens 6 ½ Uhr mit Hacke und Spaten an dem hause des Ortsbürgermeisters Hermes in Bretzenheim einzufinden. Irgendwelche Entschuldigung kann nicht geltend gemacht werden. Zur Vermeidung persönlicher Unannehmlichkeiten größten Ausmaßes bitte ich Sie dringend, pünktlich morgen früh zur Stelle zu sein. Ich muss auch Sie zu diesen Arbeiten auffordern, da in Bretzenheim nicht genügend alte Kämpfer bzw. SS-Leute sind.
Ausdrücklich bemerke ich noch, dass die Arbeiten unter Aufsicht französischer Offiziere ausgeführt werden.
……….
(Unterschrift)
Bei der Exhumierung stellt sich heraus, was schon länger befürchtet wird: In den offenbar 10 Gräbern bzw. dem Massengrab findet man nicht nur die 21 ausländischen KZ-Häftlinge und auch nicht die insgesamt 28 KZ-Häftlinge, sondern vielmehr insgesamt 38 Tote – zehn weitere – aller Wahrscheinlichkeit nach auch KZ-Häftlinge. Eine Identifizierung der Toten ist – erst recht mit den sehr unzulänglichen Möglichkeiten vor Ort - nicht möglich. Hugo Salzmann stellte dazu seinerzeit fest:
Auf dem jüdischen Friedhof zwischen Kreuznach und Bretzenheim verscharrte man die (…) Toten, einen halben Meter unter der Erde, kreuz und quer durcheinander geworfen, nur mit einer Nummer den Grabhügel bezeichnet. Dabei wurden durch die Ausgrabung der französischen Militärregierung nicht 27, sondern 37 Reste von Skeletten ausgegraben. Eingeschlagene Schädel, durchschossene Schädel, gebrochene Knochen, das waren die Kennzeichen der gewaltsamen Beseitigung dieser Opfer.
Tatsächlich sind es die sterblichen Überreste von 38 Toten. Diese 38 Toten werden dann so, wie man sie auf dem jüdischen Friedhof in Bretzenheim findet, provisorisch auf dem Friedhof auf dem Galgenberg in Bad Kreuznach beerdigt.
Am 25. August 1952 kommt es zu einer erneuten Umbettung der 38 Toten, und zwar auf den Friedhof von Bad Kreuznach. Dort sollen sie eine würdige Ruhestätte finden. Schon seit Jahren kämpft Hugo Salzmann dafür und auch dafür, dass für die Opfer des Faschismus ein Mahnmal auf dem Kreuznacher Friedhof errichtet wird. Es wird von dem Bad Kreuznacher Bildhauer Karl Steiner geschaffen und stellt eine trauernde junge Frau und die von Leid und Trauer gezeichnete Mutter dar.
Es dauert dann noch einmal 1 ½ Jahre, bis das Mahnmal am 2. Januar 1954 auf dem Kreuznacher Friedhof eingeweiht wird. Es ist ein symbolträchtiges Datum: Vor 9 Jahren – am 2. Januar 1945 – zerstörte der Angriff der Alliierten große Teile von Bad Kreuznach und forderte zahlreiche Opfer.
Auch an diese Toten – die keine Verfolgten des NS-Regimes waren, sondern viel eher Zuschauer bei den Verbrechen der Nazis – wollte Hugo Salzmann erinnern. Vor allem aber an die KZ-Häftlinge des 12. SS-Eisenbahnbauzuges, die in Bad Kreuznach ermordet oder sonst umgekommen sind. Deshalb befinden sich zu beiden Seiten des Mahnmals 38 Gräber mit den Überresten der 38 Toten, die auf den jüdischen Friedhof zwischen Bretzenheim und Bad Kreuznach verscharrt und dann exhumiert wurden. Links und rechts von dem Mahnmal sind auf zwei Tafeln die Namen der 28 namentlich bekannten toten KZ-Häftlinge von Bad Kreuznach eingemeißelt.
Bis kurz vor seinen Tod sorgte Hugo Salzmann dafür, dass am Volkstrauertag eines jeden Jahres am Mahnmal für die Opfer des Krieges und des Faschismus eine Gedenkveranstaltung des DGB-Kreises Nahe-Hunsrück stattfand. Seine letzte Gedenkrede hielt Salzmann im Jahr 1977. Hugo Salzmann starb nach schwerer Krankheit knapp zwei Jahre später.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist die Geschichte des 12. SS-Eisenbahnbauzuges, soweit sie heute noch aufklärbar ist. Um ihre Aufklärung und das Gedenken an die Opfer des Zuges hat sich vor fast 70 Jahren Hugo Salzmann sehr verdient gemacht. Er war über Jahrzehnte der einzige, der an das Schicksal dieser geschundenen, erniedrigten und ermordeten Menschen erinnert hat. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass ihre Geschichte nicht vergessen ist. Deshalb können wir heute – neben der Erinnerung an das eigene Leid und das unserer Familienangehörigen im Weltkrieg – das Andenken an diese Opfer des verbrecherischen Naziregimes und seiner vielen Helfer bewahren. Sie mahnen uns: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Einen Presseartikel vom "Öffentlichen Anzeiger" Bad Kreuznach HIER lesen
Einen Presseartikel der Rhein Main Presse HIER lesen