Erinnerung an das Kriegsende vor 75 Jahren.
Immer sind es die Gedenktage, die uns einhalten und an die jüngste Vergangenheit erinnern lassen. In diesem Jahr sind es besonders markante Jahrestage. Im Zentrum stehen die Tage der Befreiung von Faschismus und Krieg vor 75 Jahren. Das begann mit dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar vor 75 Jahren. Es setzte sich fort mit der Erinnerung an die Befreiung vieler anderer Konzentrationslager vor allem im April vor 75 Jahren. Und jetzt gedenken wir des Endes des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung vom Nationalsozialismus vor 75 Jahren am 8. Mai 1945.
Dieses Gedenken selbst hat eine eigene, wenn auch spät begonnene Tradition. Ein Markstein war die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 „Der 8. Mai 1945 – 40 Jahre danach“. Denkwürdig waren damals seine Worte: „Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. (…) Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“
An diese Tradition knüpfte jetzt am 8. Mai 2020 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede zum 75. Jahrestag des Kriegsendes an. In der „Neuen Wache“ in Berlin, der Gedenkstätte für alle Opfer der Kriege und der Diktatur, sprach er sich vehement dagegen aus, einen Schlussstrich unter die Geschichte zu setzen. "Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte", sagte Steinmeier bei der zentralen Gedenkveranstaltung in Berlin. "Nein, nicht das Erinnern ist eine Last - das Nichterinnern wird zur Last." Nicht das Bekenntnis zur Verantwortung sei eine Schande, sondern das Leugnen.
Damit dieses so notwendige Erinnern auch in gründlicher Kenntnis der Historie und jenseits aller Geschichtsknitteleien geschehen kann, hat unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig hier eine Chronik des Kriegsendes erarbeitet. Sie informiert über die letzten Kriegsmonate in und um Koblenz und für Koblenzer – und das im Zusammenhang mit den Ereignissen im damaligen Deutschen Reich bis zu seinem Untergang am 5. Juni 1945.
Bild: The destroyed city of Koblenz after World War II 1945 Das zerstörte Koblenz nach dem Zweiten Weltkrieg 1945
Quelle: Imperial War Museum, London Urheber: Royal Air Force Lizenz:CC
Kriegsende in und um Koblenz und für Koblenzer (Ende Dezember 1944 bis Anfang Juni 1945)
Dezember 1944 Nach seiner Flucht aus dem von Hitler-Deutschland besetzten Luxemburg residiert Gustav Simon mit seinem Stab als Gauleiter des Gaues Koblenz-Trier, der nach der Ausdehnung des Gaues auf das besetzte Luxemburg Gau Moselland hieß, auf Schloss Sayntal bei Bendorf am Rhein. Er nennt sich weiterhin „Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg“- mit dem Zusatz: „zurzeit in Koblenz“.
Vgl. dazu die Biografie von Gustav Simon
Seit August 1944 besteht auch in dem ehemaligen Kloster Tiefenthal bei Eltville eine Kampfschule, die des SS-Jagdverbands Südwest. Sie hatte im Sommer das Klostergelände übernommen und bildete dort SS-Männer und Freiwillige für den Partisanenkampf aus. Die Männer sollten hinter der immer näher rückenden Front „Feindaufklärung“ betreiben, Sabotage an alliierten Einrichtungen, Kriegsgerät und Soldaten verüben und andere Geheimaktionen durchführen. Ab Oktober 1944 werden dort auch junge Wehrmachts- und SS-Offiziere, regimetreue Mannschaften, Angehörige der Hitler-Jugend und des Reichsarbeitsdienstes (RAD) und unbeirrte Nationalsozialisten für Sabotage- und Terroraktionen hinter den „feindlichen Linien“ ausgebildet. Nach Ende ihrer Ausbildung werden die „Lehrgangsteilnehmer“ nach Hause geschickt. Im Dezember kommen alle ausgebildeten Männer in der Kampfschule zusammen und werden darüber instruiert, was sie für den Ernstfall – die Besetzung der hiesigen Region durch die Alliierten - zu tun hätten.
Vgl. dazu den Aufsatz von Joachim Hennig: Meuchelmord in Laubenheim
26. Dezember 1944 Die an Heiligabend im Konzentrationslager Sachsenhausen zum Einsatz im Westen losgeschickte 12. SS-Eisenbahnbaubrigade mit ca. 50 Waggons und 504 KZ-Häftlingen erreicht Kamp/Rhein. Der Bauzug soll von den Alliierten zerstörte Gleise und andere Bahnanlagen wieder Instand setzen.
Vgl. dazu den Aufsatz von Joachim Hennig: KZ auf Schienen
28. Dezember 1944 Bei einem schweren Fliegerangriff auf Nieder- und Oberlahnstein werden bei dem wohl ersten Einsatz des Zuges auf dem Oberlahnsteiner Bahnhof zwei Häftlinge getötet und zahlreiche verwundet.
30. Dezember 1944 In der Nacht werden im Bauzug drei amerikanische Flieger ermordet. Ihr Flugzeug hatte die deutsche Flak zuvor abgeschossen; sie waren mit dem Fallschirm oberhalb von Lorch/Rhein abgesprungen und festgenommen worden. Auf dem Weg in ein Kriegsgefangenenlager kommen sie nach Kamp und dort in einen leeren Wagen der SS-Eisenbahnbaubrigade. Täter sind höchstwahrscheinlich Kapos und Funktionshäftlinge des Bauzugs. Der Hergang des Verbrechens kann im Einzelnen nicht geklärt werden.
1. Januar Hitler richtet über den Rundfunk einen Neujahrsaufruf an das deutsche Volk. In einem Tagebefehl an die Wehrmacht versichert er, das Jahr 1945 werde „zugleich das Jahr einer geschichtlichen Wende sein.“
2. Januar In der Nacht zum 2. Januar greifen 509 viermotorige Bomber der 8. US-Luftflotte die Rheinbrücken bei Koblenz, Neuwied und Remagen an.
8. Januar Hitler unterzeichnet die „Verordnung zum Schutz der Sammlung von Kleidung und Ausrüstungsgegenständen für die Wehrmacht und den Deutschen Volkssturm“. Danach soll jeder, der sich an den gesammelten Sachen bereichert, mit dem Tod bestraft werden.
12. Januar Beginn der sowjetischen Großoffensive gegen die deutsche Ostfront.
13. Januar Der frühere Regierungspräsident von Koblenz Harald Turner, der später als SS-Gruppenführer in leitender Funktion in Serbien („Schlächter von Serbien“) und dann stellvertretender Amtschef des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes war, wird wegen Dienstverfehlungen vom Reichsführer-SS Himmler nicht gemaßregelt, sondern „zur Bewährung an die Front“ befohlen. Turner schafft es aber, mit der Behauptung von Krankheiten die Zeit bis zum Kriegsende zu Hause zu verbringen.
Vgl. die Biografie von Harald Turner
15. Januar Die Gesamtzahl der KZ-Häftlinge beläuft sich auf 714.211, davon sind 511.537 Männer und 202.674 Frauen. Die Stärke der SS-Wachmannschaften beträgt rund 40.000 Mann.
Wohl Mitte Januar Himmler ordnet schriftlich an, dass im Fall der „Feindannäherung“ die örtlich zuständigen Höheren SS- und Polizeiführer die oberste Befehlsgewalt über die Konzentrationslager hätten und für deren rechtzeitige Räumung voll verantwortlich seien. – Die 12. SS-Eisenbahnbaubrigade verlässt Kamp/Rhein, ist vier Tage in Mainz und fährt dann weiter nach Bad Kreuznach.
16. Januar Der Prozess gegen den ehemaligen Oberpräsidenten der Rheinprovinz Hermann Freiherr von Lüninck beginnt vor den Volksgerichtshof. Da er sein Geständnis wegen einer Beteiligung am Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 widerruft, wird ein neuer Termin für den 13. Februar anberaumt. Dazu kommt es aber nicht. Im nächsten Termin am 17. April wird er mangels Beweises vom Vorwurf des Hochverrats freigesprochen. Er bleibt weiter im Zellengefängnis in der Lehrter Straße in Berlin in Gestapohaft.
Vgl. die Biografie von Hermann Freiherr von Lüninck – Personentafel Nr. 108
17. Januar Im KZ Auschwitz treten 67.012 männliche und weibliche Häftlinge zum letzten Appell an.
18. Januar Bis zum 21. Januar treibt die SS etwa 58.000 KZ-Häftlinge aus Auschwitz und seinen Außenlagern in zwei 60 Kilometer entfernte Orte. Dort pfercht man sie zum Teil in offene Waggons und verfrachtet sie in die weiter westlich gelegenen Konzentrationslager Mauthausen, Ravensbrück, Sachsenhausen, Buchenwald oder Bergen-Belsen.
Vgl. dazu Biografie von Heinz Kahn - Personentafel Nr. 43
In den Lagern und Außenstellen bleiben etwa 7.500 Häftlinge zurück, die zu schwach oder zu krank zum Marschieren sind. Mehr als 300 werden erschossen; man nimmt an, dass eine geplante Vernichtungsaktion nur durch das rasche Vorrücken der Roten Armee verhindert wird.
20. Januar Der SS-Bauzug wird in Bad Kreuznach stationiert. Er soll vor allem die viergleisige Eisenbahnbrücke über die Nahe zwischen Bad Kreuznach und Bad Münster am Stein Instand setzen. Sie und andere Verkehrsanlagen wurden bei den Luftangriffen auf Bad Kreuznach und Bad Münster am Stein an Weihnachten 1944 und am 2. Januar 1945 schwer zerstört. Bei den beiden Angriffen starben 250 Menschen. Am 20. Januar stirbt in Bad Kreuznach auch der erste Häftling des Bauzugs. Bis zum 25. Februar kommen 28 Häftlinge in Bad Kreuznach um.
21. Januar (Sonntag) Hitler ordnet in einem Befehl an sämtliche militärischen Befehlshaber an, dass ihm jede militärische Operation, Absetz- oder Rückzugsbewegung so rechtzeitig mitzuteilen ist, „dass mir ein Eingreifen in diese Entschlussfassung möglich ist und ein etwaiger Gegenbefehl die vorderste Truppe noch rechtzeitig erreicht.“
22. Januar Der jüdische Junge Paul Sonnenberg kommt im KZ Auschwitz ums Leben.
Vgl. die Biografie von Moses und Paul Sonneberg – Personentafel Nr. 121
27. Januar An diesem Tag wird Auschwitz von Einheiten der Roten Armee befreit. Es gibt drei „Auschwitz“: Das so genannte Stammlager Auschwitz (das Konzentrationslager „Auschwitz I“), das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau („Auschwitz II“) und das Konzentrationslager Monowitz, die Buna-Werke in Auschwitz („Auschwitz III“). Alle drei Lager gehören zu einem Gesamtkomplex der SS. Sie liegen in dem – offiziell so genannten - „SS-Interessengebiet Auschwitz“ – etwa 50 Kilometer westlich der polnischen Stadt Krakau. Der Auschwitzkomplex war das größte der etwa 2.000 Konzentrations- und Arbeitslager und auch das größte Vernichtungslager. Die Befreiung des KZ Auschwitz verläuft vergleichsweise unspektakulär. Die Lager sind von den SS-Wachmannschaften verlassen. Die Befreiung beginnt am Vormittag im Konzentrationslager Monowitz („Auschwitz III“). Von den dort zurückgelassenen Häftlingen – die Angaben reichen von 600 bis 850 Personen – sterben trotz medizinischer Hilfe 200 in den Folgetagen an Entkräftung.
Am Nachmittag befreien die Soldaten der Roten Armee das Stammlager Auschwitz („Auschwitz I“) und Auschwitz-Birkenau („Auschwitz II“). In Birkenau finden sie die Leichen von 600 Häftlingen, die nur Stunden vor der Befreiung des Lagers getötet worden sind. 7.650 kranke und erschöpfte Häftlinge werden fürs erste gerettet: 1.200 im Stammlager Auschwitz, 5.800 in Auschwitz-Birkenau, darunter fast 4.000 Frauen.
In den Lagerhäusern finden die Befreier 350.000 Männeranzüge, 837.000 Frauenkleider und große Mengen an Kinder- und Babykleidung. Zusätzlich entdecken sie Zehntausende Paar Schuhe und 7,7 Tonnen menschliches Haar in Papiertüten, fertig für den Transport verpackt.
Auschwitz ist der größte Friedhof in der Geschichte der Menschheit. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 1,1 Millionen Menschen, vor allem Juden aus ganz Europa, in Auschwitz umgebracht wurden.
Eine der wenigen Überlebenden und in Auschwitz befreiten Häftlinge ist die Winninger Pfarrerstochter Elisabeth Müller. Sie ist aber so krank und geschwächt, dass sie nur noch zwei Monate dort überlebt.
Vgl. dazu die Biografie von Elisabeth Müller – Personentafel Nr. 6
30. Januar Ein sowjetisches U-Boot versenkt das Kraft-durch-Freude-Schiff „Wilhelm Gustloff“ in der Ostsee mit fast 6.000 Flüchtlingen an Bord. Nur etwa 200 können gerettet werden. - Aus Anlass der Machtübernahme vor 12 Jahren (am 30. Januar 1933) hält Hitler seine letzte Rundfunkansprache an das deutsche Volk. Darin betont er nochmals, es sei „unser unabänderlicher Wille, in diesem Kampf der Errettung unseres Volkes vor dem grauenhaftesten Schicksal aller Zeiten vor nichts zurückzuschrecken“. Er erwarte daher von jedem Deutschen, „dass er seine Pflicht bis zum Äußersten erfüllt, dass er jedes Opfer, das von ihm gefordert wird und werden muss, auf sich nimmt“.
3. Februar Die 8. US-Luftflotte führt einen schweren Angriff auf die Innenstadt von Berlin. Dabei kommt auch der Präsident des Volksgerichtshofs Dr. Roland Freisler (den man später den „Mörder in roter Robe“ nennt) im Gerichtsgebäude ums Leben.
4. – 11. Februar In Jalta auf der Krim findet die Konferenz mit Stalin, Churchill und Roosevelt statt. Auf ihr werden die militärischen Operationen der Alliierten koordiniert. In der Deutschland-Frage vereinbaren die Großen Drei die Hinzuziehung Frankreichs als vierter Besatzungsmacht mit eigener Zone (zu Lasten der britischen und der amerikanischen), also die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und die Bildung eines Alliierten Kontrollrats.
9. Februar Der Führer des HJ-Gebiets 12 (Moselland), Hauptsturmführer Rolf Karbach, erhält vom Reichssicherheitshauptamt den Befehl, in seinem Heimatgebiet sofort „Werwolf“-Maßnahmen zu treffen. Daraufhin bildet Karbach aus 12 Gruppen und 8 Spezialtrupps einen Verband, den er „SS-Sperrgruppe ‚Kurfürst Balduin“ nennt. Eine Befehlsstelle des Verbands wird zunächst in Stromberg/Hunsrück eingerichtet, dann aber in den Forstamtsbereich Bingen verlegt, weil die „Sperrgruppe“ in den großen Waldungen beiderseits der Mosel sowie im Bingerwald und mit Unterstützung der zuständigen Forstämter tätig werden soll.
14. Februar In der Nacht zum 14. Februar wird Dresden in zwei aufeinanderfolgenden Angriffen von britischen Flugzeugen mit einem Bombardement belegt. Gegen Mittag wiederholen US-Flugzeuge den Angriff auf die Stadt. Gleichzeitig greifen die Geleitjäger im Tiefflug Menschen auf den Straßen und die Flüchtlingstrecks auf den Elbwiesen an. Die Zahl der Opfer wird auf 25.000 geschätzt.
15. Februar Reichsjustizminister Thierack erlässt die „Verordnung über die Errichtung von Standgerichten“ (Reichsgesetzblatt 1945 Teil I S. 30). Danach sollen in allen „Feind bedrohten Reichsverteidigungsbezirken“ Standgerichte geschaffen werden. Sie sind zuständig für alle Straftaten, „durch die die deutsche Kampfkraft und Kampfentschlossenheit gefährdet (wird)“. Damit sind nicht mehr nur Soldaten, sondern auch alle Zivilisten dem Urteil eines Standgerichts unterworfen.
16. Februar Der ehemalige Europameister im Gewichtheben Julius Baruch aus Bad Kreuznach wird wegen „staatsfeindlicher Haltung“ in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt und kommt dort alsbald um.
Vgl. Die Biografie von Julius und Hermann Baruch – Personentafel Nr. 46
24. Februar Aus Anlass der 25-jährigen Wiederkehr der Verkündung des Parteiprogramms der NSDAP empfängt Hitler Parteifunktionäre in der Berliner Reichskanzlei und gibt ihnen „Richtlinien für die siegreiche Fortführung des Kampfes“.
28. Februar Reichspropagandaminister Goebbels hält eine Rundfunkansprache über die Kriegslage. Danach stünde es „auf den Höhe- und Krisenpunkten eines Krieges immer und überall auf des Messers Schneide“. Im „Feindlager“ sähe es nicht besser als „bei uns“ aus. Die „feindliche Koalition zwischen Bolschewismus und Plutokratien“ habe „unserer kommenden Welt nichts mehr zu sagen“. Das Volk stehe heute „in seiner härtesten Bewährungsprobe“, doch zweifle er nicht daran, dass es sie bestehen werde.
Ende Februar Die 12. SS-Eisenbahnbaubrigade verlässt Bad Kreuznach und fährt weiter nach Rheinhessen und Hessen.
Anfang März Das Personal der Gerichte in Koblenz stellt die Tätigkeit ein. Dazu gehört auch der eine oder andere, der von Koblenz aus in die besetzten Gebiete pp. abgeordnet wurde – wie der Erste Staatsanwalt Leonhard Drach, der „Chef“-Ankläger im besetzten Luxemburg war.
Vgl. die Biografie von Leonhard Drach
Gauleiter Gustav Simon flieht aus dem Koblenzer Raum (sein letzter Amtssitz ist Schloss Sayntal bei Bendorf am Rhein) nach Westfalen.
Vgl. die Biografie von Gustav Simon
2. März Willi Lohner, der Kopf der „Michaeltruppe“, einer katholischen Widerstandsgruppe Jugendlicher, wird aus dem Jugend-Konzentrationslager Moringen entlassen und muss sich bei der Staatspolizeistelle Koblenz melden. Dort erhält er die Auflage, sich freiwillig zur Waffen-SS zu begeben. Dazu kommt es aber nicht mehr.
3. März Die 3. US-Armee nimmt Trier endgültig ein.
5. März Nachdem der Gauleiter des Gaues Köln-Aachen Josef Grohé, ein gebürtiger Hunsrücker und selbsternannter „Soldat Adolf Hitlers“, großspurig „den Kampf bis aufs Messer“ verkündet hat, setzt er sich mit einem Motorboot über den Rhein ab. Daraufhin fällt er bei den Nazigrößen in Ungnade. Goebbels vermerkt in seinem Tagebuch, die Partei habe „im Westen ziemlich ausgespielt“ und: Grohé habe „trotz pompösester Ankündigungen seinen Gau nicht verteidigt“.
Vgl. die Biografie von Josef Grohé
7. März Ein wichtiger Übergang über den Rhein ist die „Ludendorff-Brücke“, die Eisenbahnbrücke zwischen Remagen und Erpel. Beim Rückzug der Heeresgruppe B nach der gescheiterten Ardennenoffensive (Dezember 1944/Januar 1945) auf die rechte Rheinseite sollen nach dem Willen der Wehrmachtsführung die Rheinbrücken gesprengt werden. Dazu kommt es bei der Brücke von Remagen nicht. Zunächst ist unklar, wer für die Sprengung zuständig ist, dann will der zuständige Major Hans Scheller noch möglichst viele deutsche Soldaten und schweres Gerät (einige Panzer und Artilleriegeschütze) die Brücke überqueren lassen. Und schließlich ist die Sprengladung qualitativ zu schwach und zündet auch nicht insgesamt. So können die amerikanischen Soldaten die Brücke einnehmen und trotz einer ersten Sprengung, die nur die linksrheinische Rampe beschädigt, den Rhein überqueren. Innerhalb von 24 Stunden überqueren 8.000 amerikanische Soldaten den Rhein und stoßen Richtung Ruhrgebiet vor. General Eisenhower soll dies mit den Worten kommentieren: „Die Brücke ist ihr Gewicht in Gold wert.“ Deutsche Wehrmachtssoldaten versuchen in den nächsten Tagen vergeblich, die Brücke doch noch zu sprengen und einzunehmen. Am 17. März stürzt sie doch noch ein, wahrscheinlich aufgrund der misslungenen Sprengungen und der Beanspruchung durch die Soldaten. Die unverhoffte Einnahme der Brücke ist in die Annalen der Kriegsgeschichte als „Wunder von Remagen“ eingegangen. - Cochem an der Mosel wird von US-Truppen eingenommen.
9. März Als Hitler der Vorfall von Remagen gemeldet wird, vermutet er „abgrundtiefen Verrat, wenn nicht gar „bewusste Sabotage“. Er setzt sofort das „Fliegende Standgericht West“ ein.
10. März Bei Remagen führen die Amerikaner, die hier bereits drei Pontonbrücken errichtet haben, weitere Kräfte nach. Die linksrheinische Stadt Andernach wird besetzt. - Nach der Befreiung Andernachs (wohl Ende April 1945) wird der Direktor der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Dr. Johann Recktenwald von den Amerikanern verhaftet. Grund dafür ist seine Mitwirkung an den Krankenmorden, der NS-„Euthanasie“.
Vgl. die Biografie von Dr. Johann Recktenwald
11. März (Sonntag) Zum „Heldengedenktag“ legt Reichsmarschall Göring den „Kranz des Führers“ am Ehrenmal Unter den Linden nieder. - In Görlitz hält Goebbels seine letzte öffentliche Rede. In ihr verspricht er den baldigen Beginn von Großoffensiven deutscher Wehrmachtsverbände.
Das von Hitler eingesetzte „Fliegende Standgericht“ tagt bis zum 13. März an zwei Orten im Westerwald. Angeklagt sind fünf deutsche Offiziere, Major Scheller, der Stadtkommandant von Remagen Hauptmann Bratge und drei weitere Offiziere, die für das Unterbleiben der Sprengung als verantwortlich angesehen werden. Alle fünf werden wegen „Feigheit vor dem Feind“ und „schwerer Dienstpflichtverletzungen im Felde“ zum Tode verurteilt. Daraufhin werden vier Offiziere standrechtlich erschossen. Reichspropagandaminister Goebbels stellt dazu in seinem Tagebuch fest, das sei ein „Lichtzeichen…, und nur mit solchen Maßnahmen können wir das Reich noch retten.“ Der zuständige Wehrmachtsführer macht das Urteil mit Tagesbefehl wehrmachtweit u.a. mit den Worten bekannt: „Ich befehle hiermit erneut, dass jeder Versagensfall auf kürzestem Weg gerichtlich zu überprüfen und zu erledigen ist. Ich erwarte von den Standgerichten schärfstes Durchgreifen und größte Härte.“ Der ebenfalls zum Tode verurteilte Hauptmann Bratge überlebt als einziger der fünf, weil er zuvor in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten ist.
13. März In Koblenz wird der militärische Ausnahmezustand verhängt. Damit geht die zivile und militärische Gerichtsbarkeit auf den Kampfkommandanten Oberstleutnant Löffler über. Er befiehlt zum wiederholten Mal die Räumung der Stadt.
14. März Während die 1. US-Armee ihren Brückenkopf in Remagen weiter ausdehnen kann, greift die 3. US-Armee über die Mosel nach Süden an und überschreitet bei Cochem die Mosel.
15. März Die 3. US-Armee stößt über die Mosel weiter bis in den Raum von Simmern vor und steht bereits bei St. Goar und Boppard.
Mitte März Karbachs „Werwolf“-Gruppen der „SS-Sperrgruppe ‚Kurfürst Balduin‘“ gelingen im Bereich der Hunsrückhöhenstraße Schläge gegen die alliierten Truppen. Eine Rüstungsfabrik, die fast unzerstört in die Hände der Amerikaner gefallen ist, sprengen sie in die Luft, ebenfalls ein Treibstofflager. Auch können sie an mehreren Stellen die Bahngleise zerstören.
In Bad Kreuznach wird ein weiteres Werwolf-Kommando zusammengestellt. Anführer ist der in der Kampfschule Tiefenthal ausgebildete SS-Führer Kurt Stinner. Mit zwei anderen Kreuznachern, darunter einem Hitler-Jungen, der ebenfalls in der Kampfschule war, begibt er sich in den Wald bei Rheinböllen, in die Nähe des Forsthauses Emmerichshütte. Tagsüber halten sie sich in einem nahe gelegenen „Stützpunkt“, einem Dickicht, auf; abends sind sie in einer Jagdhütte. Sie sind das „SS-Sonderkommando W 12“ Ihr „Operationsgebiet“ ist der Wald zwischen Rheinböllen und dem Rhein, dort sind auch Lager mit Munition, Waffen und Verpflegung eingerichtet. Zu ihnen stoßen zwei ehemalige HJ-Jungen aus Rheinböllen und Argenthal sowie ein versprengter Leutnant einer aufgeriebenen Panzertruppe. Die sechs Männer halten sich bedeckt, beobachten und unternehmen gelegentliche Erkundungsgänge. „Der Wald ist“, wie es später heißt, „voll von patrouillierenden amerikanischen Truppen.“ Diesen ist wohl die Existenz der Gruppe bekannt. Stinner hält die Gruppe zusammen und droht, jeden, der sich entfernt, als fahnenflüchtig zu erschießen.
Georg Heuser, späterer Leiter des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz und als früherer Gestapochef von Minsk für die Ermordung von mehr als 11.000 Juden verantwortlich, verlässt mit seinem Einsatzkommando 14 die Slowakei und ist dann noch als Führer einer Kampfgruppe im Raum Krems/Donau tätig.
Vgl. die Biografie von Georg Heuser
17. – 19. März Die 3. US-Armee dringt in das Rhein-Mosel-Dreieck ein, besetzt Boppard und überschreitet weiter südlich die Nahe.
Koblenz greifen die amerikanischen Truppen von zwei Seiten an, von den Höhen des Stadtwalds aus und von Güls setzen sie mit Sturmbooten über die Mosel nach Moselweiß. Am 18. März stoßen sie am Kurfürstlichen Schloss bis zum Rhein vor und nehmen am folgenden Tag das linksrheinische Koblenz ein. In der Stadt sind nur noch einige tausend Menschen, die weitaus meisten Koblenzer haben die Stadt vorher verlassen – und sich meist nach Thüringen begeben. Mehr als die Hälfte der Wohngebäude ist zerstört und viele andere sind mehr oder minder beschädigt. Überdies hatte die weichende deutsche Wehrmacht auf Befehl des für den Brückenkopf eingesetzten Kampfkommandanten Oberstleutnant Löffler die Mosel- und Rheinbrücken gesprengt.
Im Zuge dieser letzten Kampfhandlungen um und in Koblenz wird auch das Reiterstandbild von Kaiser Wilhelm I. am Deutschen Eck zerstört. Das geschieht auf Befehl des Kommandeurs der 3. US-Armee, George Smith Patton jr., durch Beschuss des US-amerikanischen Offiziers Charles Fletcher. Von einem über Koblenz kreisenden Flugzeug aus braucht Fletcher 26 Schuss, bis er schließlich das gesamte Standbild mit dem hoch zu Ross sitzenden Kaiser Wilhelm I. zusammengeschossen hat. Das Manöver gestaltet sich so schwierig, weil immer wieder neu und sehr genau die Distanz zwischen dem Flugzeug und dem Reiterstandbild berechnet werden muss.
Der in Koblenz untergetauchte jüdische Junge Werner Appel wird von seinem Lebensretter Theo Ehrhardt aus seinem Versteck in einem ungenutzten Brennofen einer Ziegelei in Koblenz Metternich befreit.
Vgl. die Biografie von Werner Appel – Personentafel Nr. 105
Der Hafen- und Verkehrsdirektor von Koblenz, der schon vom letzten (kommissarischen) Koblenzer NS-Oberbürgermeister Dr. Konrad Gorges ernannte Franz Lanters, wird dann auch von der amerikanischen Militärregierung erst einmal zum Bürgermeister bestimmt.
19. März Bingerbrück und Bad Kreuznach werden besetzt. In Mainz wird die Rheinbrücke gesprengt. - Adolf Hitler erlässt den „Nerobefehl“, den „Befehl betreffend Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet“. Ihm zufolge sollen vor den heranrückenden Alliierten alle für sie nutzbaren Industrie- und Versorgungsanlagen zerstört werden. Der Befehl wird nur in geringem Umfang tatsächlich ausgeführt.
20. März Aus dem Brückenkopf Remagen stoßen amerikanische Verbände nach Norden weiter bis in die Höhe von Bonn vor. - Im Garten der Berliner Reichskanzlei begrüßt Hitler in Gegenwart von Reichsjugendführer Axmann eine Abordnung von 20 „Hitler-Jungen“, die sich im Osten als „Einzelkämpfer“ besonders hervorgetan haben. Der jüngste von ihnen ist 12 Jahre alt.
22. März Neuwied wird von den Amerikanern besetzt. amerikanische Verbände besetzen auch Mainz, die deutsche Front wird auch hier über den Rhein zurückgedrängt.
24. März Im Abschnitt St. Goarshausen überqueren amerikanische Schwimmpanzer den Rhein. - Der „Deutsche Volkssturm“ wird einer Sondergerichtsbarkeit unterstellt. Übergeordneter Gerichtsherr ist der Reichsführer-SS Himmler, Oberster Gerichtsherr Hitler.
25. März (Palmsonntag) Am Nachmittag wird der Oberbürgermeister von Aachen Franz Oppenhoff vor seinem Haus von einem SS-Offizier in deutscher Fliegeruniform erschossen. Oppenhoff war nach der Besetzung Aachens (am 21. Oktober 1944) Ende Oktober 1944 von den Amerikanern als Oberbürgermeister eingesetzt worden. Im Januar hatte Reichsführer-SS Himmler persönlich den schriftlichen Befehl zu dem Mord unter dem Tarnnamen „Unternehmen Karneval“ gegeben: „Der Oberbürgermeister von Aachen ist zum Tode verurteilt. Die Vollstreckung ist durch W (Werwolf) zu vollziehen.“ Für die Ausführung sorgte der zuständige Höhere SS- und Polizeiführer West. Vollstrecker war ein Kommandounternehmen des „Werwolfs“, bestehend aus zwei SS-Offizieren, zwei Soldaten, einer ortskundigen Führerin des BDM und eines 16-jährigen HJ-Jungen. Das Kommando flog mit einem erbeuteten amerikanischen Flugzeug hinter die feindlichen Linien und sprang auf belgischem Gebiet mit dem Fallschirm ab. Es schlug sich dann bis Aachen durch. Dort bringt es die BDM-Führerin unmittelbar zum Haus von Oppenhoff. Einer der beiden SS-Offiziere schießt ihn dann mit einer Pistole nieder.
26. März Aus dem Brückenkopf Remagen heraus gelingt der 1. US-Armee der Durchbruch nach Osten, amerikanische Panzerspitzen erreichen den Raum von Limburg. Nach einem „Führerbefehl“ sollen nunmehr alle „Heimatkräfte“ an die Front geworfen werden. Außerdem wird angeordnet, dass gegen die Zivilbevölkerung „energisch vorzugehen“ sei, wenn diese weiße Tücher zeige, Panzersperren öffne usw.
27. März „Die Abwehrschlacht im Westerwald hat unsere Front an einigen Stellen durchlöchert“, meldet das Oberkommando der Wehrmacht. Limburg wird von den Amerikanern besetzt.
In Koblenz setzen die Amerikaner über den Rhein über und nehmen die rechtsrheinischen Vororte ein. Damit ist der Zweite Weltkrieg im Raum Koblenz beendet und es beginnt hier die Zeit der amerikanischen Besatzung.
1. April (Ostersonntag) Ein „Sender Werwolf“ strahlt das erste „Werwolf“-Programm im Rundfunk aus. Darin heißt es u.a.:
Der ‚Werwolf‘ ist eine aus nationalsozialistischem Geist geborene Organisation. Er hält sich nicht an Beschränkungen, die dem innerhalb unserer regulären Streitkräfte Kämpfenden auferlegt sind. Alle Mittel sind recht, dem Feind zu schaden. (…) Die im „Werwolf“ Zusammengefassten bekennen in der Proklamation ihren festen, unverrückbaren, durch feierlichen Eid bekräftigten Entschluss, sich niemals dem Feinde zu beugen. (…) Der „Werwolf“ hält selbst Gericht und entscheidet über Leben und Tod unserer Feinde, aber auch von Verrätern an unserer Nation, und er besitzt auch die nötige Gewalt, um seine Urteile zu vollstrecken. (…) Wo immer wir eine Gelegenheit haben, ihr Leben (das Leben feindlicher Soldaten, Erg. d. A.) auszulöschen, werden wir das mit Vergnügen und ohne Rücksicht auf unser eigenes Leben tun. (… Der Feind, Erg. d. A.) soll wissen, dass ihm auch da, wo die deutsche Wehrmacht nach hartem und schwerem Kampf deutsche Gebiete hat preisgeben müssen, ein Gegner erwächst, mit dessen Vorhandensein er nicht mehr gerechnet hat, der ihm aber umso gefährlicher werden wird, je weniger er Rücksicht zu nehmen braucht auf veraltete Vorstellungen einer sogenannten bürgerlichen Kampfführung. (…) Hass ist unser Gebet und Rache unser Feldgeschrei!“
2. April In einem Aufruf an die „Parteigenossen“ ordnet Reichsleiter Martin Bormann an: „Gauleiter und Kreisleiter, sonstige politische Leiter und Gliederungsführer kämpfen in ihren Gauen und Kreisen, siegen oder fallen. Ein Hundsfott, wer seinen vom Feind angegriffenen Gau ohne ausdrücklichen Befehl des Führers verlässt! Wer nicht bis zum letzten Atemzug kämpft, der wird als Fahnenflüchtiger geächtet und behandelt.“ Goebbels notiert in seinem Tagebuch, dass er die „Werwolf“-Bewegung in seine Hand überführen will. Sie müsse „mit etwas Temperament und Enthusiasmus geführt werden“ und dürfe „nicht allein eine Frage der Organisation des SD sein“.
3. April Reichsführer-SS Himmler erlässt den sogenannten Flaggenbefehl. Danach ist jede männliche Person aus einem Haus, an dem eine weiße Fahne hängt, unverzüglich zu erschießen. Damit können Angehörige von Wehrmacht und SS wie auch Zivilisten ohne Standgericht und in willkürlicher Selbstjustiz Menschen, Nachbarn einfach umbringen.
4. April Die „Kampfmoral“ der Führer der NSDAP ist schlecht. Goebbels schreibt dazu in seinem Tagebuch: „Das Verhalten unserer Gau- und Kreisleiter im Westen hat zu einem starken Vertrauensschwund innerhalb der Bevölkerung geführt.“ Die Partei habe daher „im Westen ziemlich ausgespielt“.
Anfang April Das gesamte heutige Rheinland-Pfalz ist von den Westalliierten besetzt – das größte Gebiet von amerikanischen Truppen, die südpfälzischen Kreise mit der Stadt Speyer von den Franzosen.
Der Werwolf-Führer Stinner marschiert mit drei seiner Männer zu einer Hütte im Bingerwald, in der die Amerikaner eine Nachrichtenstation eingerichtet haben. Er plant, diese zu überfallen, die Soldaten zu töten und die Hütte in Brand zu setzen. Zwei Männer halten die Aktion für sinnlos und töten den Werwolf-Führer auf dem Weg dorthin. Anschließend verscharren sie ihn in einem Bombentrichter, dann löst sich nach und nach die „Werwolf“-Gruppe auf.
Der in Alsenz in der Nordpfalz geborene Dr. Wilhelm Frick, früherer Reichsinnenminister und ab 1943 Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, hat sich schon länger aus dem besetzten Tschechien auf sein Landgut in Kempfenhausen am Starnberger See zurückgezogen. Jetzt fährt er noch einmal zu Geldtransaktionen nach Prag, kommt mit einem Scheck über 750.000 Reichsmark zurück und verteilt diese auf Konten verschiedener Familienmitglieder.
Vgl. dazu die Biografie von Wilhelm Frick
5. April Auf Befehl Hitlers wird im KZ Dachau Georg Elser ermordet. Er hatte am 8. November 1939 bei der Feier aus Anlass des Hitlerputsches am 9. November 1923 im Münchner Bürgerbräukeller ein gescheiteres Bombenattentat auf Hitler unternommen.
6. April Auf der Festung Ehrenbreitstein wird in einer feierlichen Flaggenparade das eigens aus den USA eingeflogene Sternenbanner gehisst, das schon nach dem Ersten Weltkrieg während der amerikanischen Besatzung dort geweht hatte.
Pater Josef Kentenich, der Gründer der Schönstatt-Bewegung, kommt bei einer kleineren Entlassungsaktion, die es in dieser Zeit in einigen Konzentrationslagern gibt, aus dem Konzentrationslager Dachau frei.
Vgl. die Biografie von P. Josef Kentenich – Personentafel Nr. 15
Das Jugend-Konzentrationslager Moringen wird von der Wachmannschaft geräumt. Die Häftlinge gehen auf den „Evakuierungsmarsch“. Hans-Clemens Weiler von der jugendlichen Widerstandsgruppe „Michaeltruppe“ und andere Marschunfähige bleiben zurück und irren umher. Am 11. April sind Amerikaner da und sie sind frei.
8./9. April Ein SS-Standgericht verhandelt im Konzentrationslager Flossenbürg unter dem Vorsitzenden Otto Thorbeck und dem Ankläger Walter Huppenkothen gegen die Widerständler Karl Sack, Wilhelm Canaris, Dietrich Bonhoeffer, Ludwig Gehre und Hans Oster. Sie werden wegen Hoch- und Landesverrats zum Tode verurteilt und am 9. April gehängt. Die Toten werden im Krematorium verbrannt und ihre Asche verstreut.
Vgl. dazu die Biografie von Dr. Karl Sack – Personentafel Nr. 109
11. April Das Konzentrationslager Buchenwald wird befreit. Es ist die wohl spektakulärste und bekannteste Aktion dieser Art. Sie wird maßgeblich mitgeprägt von vielfältigen und organisierten Widerstandshandlungen des internationalen Illegalen Lagerkomitees. Das kann aber letztlich nicht verhindern, dass in den Tagen zuvor die SS-Lagerleitung mit der Evakuierung des Lagers beginnt und 28.000 Häftlinge auf den Todesmarsch in westliche und südliche Konzentrationslager treibt. Die Befreiung der ca. 21.000 im Lager noch verbliebenen Gefangenen durch Soldaten der US-Armee geht einher mit Selbstbefreiungshandlungen vieler Häftlinge.
Befreit werden auch mehrere Häftlinge aus Koblenz und Umgebung.
Vgl. dazu die Biografien von
Alfred Knieper – Personentafel Nr. 58
Johann Dötsch – Personentafel Nr. 18
Carl Vollmerhaus – Personentafel Nr. 55
Hans Bauer – Personentafel Nr. 38
Heinz Kahn – Personentafel Nr. 43
12. April Der amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt stirbt an einem Gehirnschlag. Die Nachricht von seinem Tod löst bei der deutschen Führung ganz unrealistische Hoffnungen aus. Goebbels spricht von einem „Wunder der Vorsehung“. – Der oberste Wehrmachtsgeneral Feldmarschall Keitel, SS-Reichsleiter Himmler und NS-Reichsleiter Bormann erlassen den Durchhalte-Appell. Er verlangt, dass alle Städte „bis zum äußersten verteidigt und gehalten werden müssen“, und bedrohte zuwiderhandelnde „Kampfkommandanten“ und zivile Amtspersonen mit der Todesstrafe.
14. April Himmler befiehlt, dass kein Insasse von Arbeits- oder Konzentrationslagern lebend zurückzulassen sei. Dies war der Anlass für Massenhinrichtungen und die Todesmärsche.
15. April Britische Truppen befreien das Konzentrationslager Bergen-Belsen; ca. 14.000 Häftlinge sterben noch danach an Unterernährung. Unter den Überlebenden sind auch die Sintiza Ottilie Reinhardt und ihre jüngeren Kinder. Sie sind nach der Selektion im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zunächst in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, dann in das Konzentrationslager Mauthausen und dann nach Bergen-Belsen verschleppt worden.
Vgl. dazu die Biografie der Familie Karl Reinhardt – Personentafel Nr. 47
16. April Die letzte sowjetische Großoffensive beginnt. Dazu erlässt Hitler einen Tagesbefehl an die „Soldaten der deutschen Ostfront. Darin heißt es u.a.: „Der Bolschewist wird diesmal das alte Schicksal Asiens erleben, das heißt, er wird und muss vor der Hauptstadt des Deutschen Reiches verbluten.“ Und: „Berlin bleibt deutsch. Wien wird wieder deutsch und Europa wird niemals russisch.“ Hitler fordert seine „Ostkämpfer“ auf, „eine verschworene Gemeinschaft zur Verteidigung nicht des leeren Begriffes eines Vaterlandes, sondern zur Verteidigung Eurer Heimat, Eurer Frauen, Eurer Kinder und damit unserer Zukunft“ zu bilden. Mit einem Hinweis auf den Tod Roosevelts schließt er: „In dem Augenblick, in dem das Schicksal den größten Kriegsverbrecher aller Zeiten von dieser Erde genommen hat, wird sich die Wende dieses Krieges entscheiden!“
16. April Nach einer Überarbeitung wird das Buchenwalder „Manifest für Frieden, Freiheit, Sozialismus“ von den befreiten Sozialdemokraten und Sozialisten des Konzentrationslagers Buchenwald als „Aufruf und Programm der demokratischen Sozialisten vom Buchenwald“ verabschiedet. Die Unterzeichner, unter Ihnen die Bendorfer Sozialdemokraten Hans Bauer, Anton Gelhard I und Anton Gelhard II, fordern darin, die Vernichtung des Faschismus, den Aufbau einer Volksrepublik, die Befreiung der Arbeit (u.a. durch einen Achtstundentag), Frieden und Recht sowie Humanität. Das Manifest endet mit den Worten:
Es lebe das Bündnis aller antifaschistischen Kräfte Deutschlands!
Es lebe ein freies, friedliches, sozialistisches Deutschland!
Es lebe der revolutionäre demokratische Sozialismus!
Es lebe die Internationale der Sozialisten der ganzen Welt!
19. April Als Appell zum Totengedenken schwören 21.000 überlebende Häftlinge des KZ Buchenwald den „Schwur von Buchenwald“:
Kameraden! Wir Buchenwalder Antifaschisten sind heute angetreten zu Ehren der in Buchenwald und seinen Außenkommandos von der Nazi-Bestie und ihren Helfershelfern ermordeten 51 000 Gefangenen!
51 000 erschossen, gehenkt, zertrampelt, erschlagen, erstickt, ersäuft, verhungert, vergiftet, abgespritzt.
51 000 Väter-Brüder-Söhne starben einen qualvollen Tod, weil sie Kämpfer gegen das faschistische Mordregime waren.
51 000 Mütter und Frauen und Hunderttausende Kinder klagen an!
Wir lebend Gebliebenen, wir Zeugen der nazistischen Bestialität, sahen in ohnmächtiger Wut unsere Kameraden fallen.
Wenn uns eins am Leben hielt, dann war es der Gedanke: Es kommt der Tag der Rache!
Heute sind wir frei!
(…)
Wir Buchenwalder, Russen, Franzosen, Polen, Tschechen, Slowaken und Deutsche, Spanier, Italiener und Österreicher, Belgier und Holländer, Engländer, Luxemburger, Rumänen, Jugoslawen und Ungarn, kämpften gemeinsam gegen die SS, gegen die nazistischen Verbrecher, für unsere eigene Befreiung.
Uns beseelte eine Idee: Unsere Sache ist gerecht – Der Sieg muss unser sein!
Wir führten in vielen Sprachen den gleichen harten, erbarmungslosen, opferreichen Kampf, und dieser Kampf ist noch nicht zu Ende. Noch wehen Hitlerfahnen! Noch leben die Mörder unserer Kameraden! Noch laufen unsere sadistischen Peiniger frei herum!
Wir schwören deshalb vor aller Welt auf diesem Appellplatz, an dieser Stätte des faschistischen Grauens:
Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht!
Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.
Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig. Zum Zeichen Eurer Bereitschaft für diesen Kampf erhebt die Hand zum Schwur und sprecht mir nach:
„WIR SCHWÖREN!“
Am Vorabend von Hitlers 56. Geburtstag hält Goebbels eine Rundfunkansprache. Darin nennt er Hitler den „Mann unseres Jahrhunderts“. Noch einmal verbreitet er Siegesgewissheit: „Der Krieg neigt sich seinem Ende zu. Der Wahnsinn, den die Feindmächte über die Menschheit gebracht haben, hat seinen Höhepunkt bereits überschritten… Gott wird Luzifer, wie so oft schon, wenn er vor den Toren der Macht über alle Völker stand, wieder in den Abgrund zurückschleudern, aus dem er gekommen ist.“ Deutschland werde nach diesem Krieg „in wenigen Jahren aufblühen wie nie zuvor.“ Und dann: „Wenn also die Welt noch lebt, nicht nur die unsere, sondern auch die übrige, wem anders hat sie es zu verdanken als dem Führer?“
20. April Im Bunker der Reichskanzlei in Berlin gratulieren Hitlers Getreue ihm zu seinem Geburtstag. Mit dabei ist auch Dr. Robert Ley, Chef der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und früherer Gauleiter von Rheinland-Süd, zu dem auch Koblenz vor der „Ära“ Simon gehörte. Anschließend verabschiedet sich Ley, um angeblich den Widerstand in der Alpenfestung zu organisieren. Der Reichsjugendführer Axmann übermittelt Hitler „das Bekenntnis der ganzen deutschen Jugend zum Führer“.
Vgl. die Biografie von Dr. Robert Ley
21. April Die Räumung des KZ Sachsenhausen beginnt. 33.000 der noch verbliebenen 36.000 Häftlinge werden in Gruppen von 500 Häftlingen auf den Todesmarsch in Richtung Ostsee getrieben. Die überlebenden Häftlinge erreichen auf unterschiedlichen Wegen den Raum zwischen Parchim und Schwerin. Dort sind sie dann frei. Auf den Todesmarsch gehen auch die beiden Sozialdemokraten Johann Dötsch, der darüber ein Tagebuch führt, und Carl Vollmerhaus sowie die beiden Sinti-Kinder Daweli und Busseno Reinhardt.
Vgl. dazu die Biografie von Johann Dötsch – Personentafel Nr. 18
Vgl. dazu die Biografie von Carl Vollmerhaus – Personentafel Nr. 55
Vgl. dazu die Personentafel von Daweli Reinhardt – Personentafel Nr. 21
Hitler erteilt dem SS-Obergruppenführer Steiner den Auftrag, mit allen verfügbaren Kräften zu einem Entsatzangriff auf Berlin anzutreten. Auf Gut Hartzfelde bei Berlin findet eine Begegnung zwischen Reichsführer-SS Himmler und dem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses Masur statt. Daraufhin werden 1.000 jüdische Frauen aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück freigelassen.
22. April Hitler äußert vor Mitarbeitern erstmals die Ansicht, dass der Krieg verloren sei. Über die Lagebesprechung berichtet ein General: „Der Führer ist zusammengebrochen, er sieht den Kampf nunmehr als aussichtslos an.“ Hitler beschließt endgültig, in Berlin zu bleiben. Gleichwohl erlässt er den Befehl: „Jeder, der Maßnahmen, die unsere Widerstandskraft schwächen, propagiert oder gar billigt, ist ein Verräter! Er ist augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen!“ Goebbels erklärt über den Rundfunk, Berlin sei nunmehr „zur Frontstadt geworden“.
22./23. April Im Zellengefängnis Lehrter Straße in Berlin-Moabit, das auch der Gestapo als Untersuchungshaftanstalt dient, werden in der Nacht 16 Häftlinge, die auf ihren Prozess vor dem Volksgerichtshof warten, durch SS-Männer „hingerichtet“. Der dort inhaftierte Koblenzer Armeeoberpfarrer und Widerständler Friedrich Erxleben entgeht nur knapp dieser Mordaktion.
Vgl. die Biografie von Friedrich Erxleben – Personentafel Nr. 37
Befreit wird – zwei Tage später - auch der ehemalige Oberpräsident der Rheinprovinz Hermann Freiherr von Lüninck, der wenige Tage zuvor vom Volksgerichtshof vom Vorwurf des Hochverrats freigesprochen worden ist.
Vgl. Die Biografie von Hermann Freiherr von Lüninck – Personentafel Nr. 108
23. April Das Oberkommando der Wehrmacht meldet: „Die Schlacht um die Reichshauptstadt ist in voller Heftigkeit entbrannt.“ Nach Bekanntwerden von Hitlers Entschluss, in Berlin zu bleiben, fragt Reichsmarschall Göring telegrafisch an, ob er aufgrund des Führererlasses vom 29. Juni 1941 (mit dem er für den Fall von Hitlers Tod zu dessen Nachfolger bestimmt wird) die „Gesamtführung des Reiches“ übernehmen soll. In einem Antworttelegramm erklärt Hitler diesen Erlass für ungültig und bezeichnet Görings Verhalten als einen „Verrat an meiner Person und der nationalsozialistischen Sache“. Gleichzeitig wird Göring aller Ämter enthoben. – In der Nacht trifft sich Himmler ein letztes Mal mit Graf Bernadotte. Er gibt alle skandinavischen Häftlinge frei, darüber hinaus so viele, wie Bernadotte würde abtransportieren können. Als Gegenleistung sollte dieser einen Kontakt mit dem Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Nordwesteuropa Dwight D. Eisenhower herstellen, um diesem eine einseitige Kapitulation Deutschlands gegenüber den Westmächten anzubieten.
24. April Auf Befehl Hitlers wird Göring von der SS in seinem Haus auf dem Obersalzberg festgesetzt. Offiziell wird dessen Absetzung mit einem „seit längerer Zeit bestehenden chronischen Herzleiden“ begründet. Weiter heißt es, „Der Führer befindet sich in der Festung Berlin.“
25. April Zusammentreffen amerikanischer und sowjetischer Truppen bei Torgau an der Elbe.
Nachdem die Amerikaner seit Anfang April mit dem Aufbau deutscher Verwaltungen vor Ort entsprechend dem Prinzip der „grassroot-democracy“ („Graswurzeldemokratie“) begonnen haben, richten sie für die Bezirke Koblenz, Trier Pfalz, Rheinhessen und das Saarland eine Militärregierung ein. Im Norden des Landes entstehen wieder die (Bezirks-)Regierungen in Koblenz und Trier. Dr. Hans Fuchs, der frühere Oberpräsident der Rheinprovinz, wird von den Amerikanern mit dem Aufbau der Koblenzer Regierung betraut, möglicherweise sogar mit dem vorläufigen Amt eines Oberpräsidenten, eine förmliche Ernennung ist aber wohl nicht erfolgt.
26. April Das Oberkommando der Wehrmacht meldet: „Bei dem für die Zukunft des Reiches und für das Leben Europas entscheidenden Kampf um Berlin wurden von beiden Seiten Reserven in die Schlacht geworfen.“ In Berlin toben Straßenkämpfe. Dabei werden die deutschen Truppen – wie das OKW weiter meldet – „tapfer unterstützt von Einheiten der Hitler-Jugend, der Partei und des Volkssturms.“ Hitler befiehlt dem General der Panzer Wenck mit seiner 12. Armee zu einem Entsatzangriff auf Berlin anzutreten.
Ende April Die Evakuierung des Konzentrationslagers Dachau beginnt. Das geschieht mit einigen Transporten durch Züge der Reichsbahn, die nach Süden fahren sollen. In den nächsten Tagen werden die Häftlinge befreit.
Ein weiterer Transport geht vom Konzentrationslager Dachau mit 139 „Sippen-, Sonder- und Ehrenhäftlingen“ aus 21 Nationen nach Südtirol. Untergebracht im Hotel Pragser Wildsee im Hochpustertal in Südtirol werden sie Anfang Mai von den Amerikanern befreit.
Vgl. die Biografie von Lina und Marie-Luise Lindemann – Personentafel Nr. 13
Vgl. die Biografie von Peter und Käthe Mohr – Personentafel Nr. 110
Die US-Armee beginnt mit der Errichtung zahlreicher Lager für deutsche Kriegsgefangene entlang des Rheins (und auch der Nahe). Sie heißen von deutscher Seite heute Rheinwiesenlager. Die Amerikaner bezeichnen sie offiziell als Prisoner of War Temporary Enclosures (PWTE) und nummerieren sie von A1 bis A19 sowie von C1 bis C4 durch. Die Lager werden auf den Feldern unter freiem Himmel eingerichtet und mit Stacheldraht umgeben. Die bekanntesten Lager sind Bretzenheim (-Winzenheim, PWTE A6, bestehend bis Ende 1945) mit in der Spitze 110.000 Kriegsgefangenen, Remagen (PWTE A2, bestehend bis zum 20. Juni 1945) mit in der Spitze 170.000 Gefangenen und Sinzig (PWTE A5, bestehend bis zum 20. Juli 1945) mit in der Spitze 118.000 Gefangenen. Auch in Koblenz gibt es ein Rheinwiesenlager, das nach dem 8. Mai 1945 errichtet wird. Darüber ist aber so gut wie nichts bekannt.
27./28. April Das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück wird vor den heranrückenden sowjetischen Truppen von der SS geräumt. Zurück bleiben nur schwerkranke Häftlinge: 2.000 Frauen und 300 Männer sowie Häftlingspflegepersonal., insgesamt ca. 3.000 Gefangene. Ende April/Anfang Mai werden die im Lager verbliebenen Häftlinge von sowjetischen Truppen befreit. Auch die Bendorferin Gertrud Roos wird befreit.
Vgl. dazu die Biografie von Gertrud Roos – Personentafel Nr. 9
Die „Marschfähigen“ – man schätzt mehr als 20.000 – werden in mehreren Kolonnen zu je 800 auf den Todesmarsch in Richtung Nordwesten getrieben. Ihr Leidensweg endet in den ersten Maitagen.
Vgl. dazu die Biografie von Hilde Emmel – Personentafel Nr. 7
28. April Das OKW meldet: „Der Kampf um den Stadtkern (von Berlin) hat begonnen.“ Der von der 12. Armee unter General der Panzer Wenck kommt im Spreewald zum Stehen. Als das Kapitulationsangebot Himmlers bekannt wird, entfernt ihn Hitler aus allen Ämtern und stößt ihn aus der Partei aus. Himmlers Vertreter im Führerhauptquartier wird durch ein Standgericht zum Tode verurteilt und sofort erschossen.
29. April (Sonntag) Hitler fragt das OKW: „Wo sind die Spitzen von Wenck? Wann greifen sie weiter an? Wo ist die 9. Armee? Wohin bricht die 9. Armee durch?“ Daraufhin wird Hitler gemeldet, dass der Entsatzangriff der Armee Wenck auf Berlin nicht fortgesetzt wird.
Amerikanische Truppen erreichen das Konzentrationslager Dachau und befreien die dort noch verbliebenen, nicht auf Transport geschickten Häftlinge.
Vgl. dazu die Biografie von Friedel Kreier - Personentafel Nr. 80
30. April Um 1 Uhr morgens heiratet Hitler in der Reichskanzlei seine Geliebte Eva Braun. Dann diktiert er sein persönliches und sein politisches Testament. Als seinen Nachfolger bestimmt er Großadmiral Dönitz. Göring und Himmler stößt er aus der Partei aus. Vertrauten erklärt er später: „Ich mache Schluss! Ich weiß, morgen schon werden mich Millionen Menschen verfluchen – das Schicksal wollte es nicht anders.“ Am frühen Nachmittag nimmt sich Hitler mit Eva Braun das Leben. Anschließend werden die beiden Leichen im Freien mit Benzin übergossen und angezündet.
1. Mai Hitlers Tod ist noch nicht gemeldet. Der OKW-Bericht beginnt mit den Worten: „Im Stadtkern von Berlin verteidigt sich die tapfere Besatzung, um unseren Führer geschart, auf engstem Raum gegen die bolschewistische Übermacht.“ Um 22.30 Uhr meldet der Rundfunk: „Aus dem Führerhauptquartier wird gemeldet, dass unser Führer Adolf Hitler heute Nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen ist.“ Im Bunker der Berliner Reichskanzlei begeht Propagandaminister Goebbels mit seiner Frau und seinen sechs Kindern Selbstmord.
2. Mai Die Schlacht um Berlin, die letzte große Schlacht des Zweiten Weltkrieges in Europa, endet mit der Befreiung der Hauptstadt des Deutschen Reiches durch die Rote Armee der Sowjetunion. Die Reichshauptstadt kapituliert. - Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes übernehmen das Konzentrationslager Theresienstadt.
Die Gruppe von KZ-Häftlingen, die vom KZ Sachsenhausen aus auf den „Todesmarsch“ geschickt wurde und zu der auch Johann Dötsch gehört, beendet ihren Marsch und ist frei. Johann Dötsch hält dazu in seinem Tagebuch fest:
Um 7.30 Uhr wurde abmarschiert. Infolge der teilweisen Verstopfung der Straße kamen wir nur langsam vorwärts. Überall tote Pferde und Menschen. In Scharen versuchten die Häftlinge, die Kartoffelmieten zu plündern. Tote Pferde wurden angeschnitten und bis auf das Skelett weggeschleppt... Während des Marsches sickerte die Nachricht durch, dass Hitler und Goebbels gefallen seien, Himmler sich erschossen und Dönitz das Oberkommando übernommen habe. Hinter Crivitz, das tags zuvor von Bomben arg mitgenommen war, machten wir in einem Wald Halt und blieben über Nacht. An dem Tage, dem 2. Mai 1945, waren wir das erste Mal ohne SS-Bewachung. Die hatten ihre Gewehre weggeworfen und überließen uns unserem Schicksal. Mit einbrechender Dunkelheit setzte in den Wäldern eine tolle Schießerei ein, die Soldaten verfeuerten ihre Munition in die Luft. Gewehrpatronen, Handgranaten, Panzerfäuste krachten durcheinander. Unzählige Leuchtpatronen erhellten die Nacht. Mir kam die Knallerei wie der Grabgesang für die deutsche Nation vor. Das also war das Ende des so genannten 1000-jährigen Reiches des politischen Amokläufers Hitler. Traurig, traurig, unsagbar traurig. In Gedanken an dieses traurige Ende des Deutschen Reiches wollte keine rechte Freude über die endliche Befreiung aus den Klauen der SS aufkommen...
3. Mai Reichsminister Speer widerruft in einen Rundfunkansprache sämtliche Zerstörungsbefehle für das Reichsgebiet und die besetzten Gebiete.
Anfang Mai Der frühere Reichsinnenminister und Reichsprotektor von Böhmen und Mähren Wilhelm Frick wird von amerikanischen Soldaten auf seinem Landgut in Kempfenhausen festgenommen. Frick wird einer von 24 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess angeklagten führenden Nationalsozialisten. Am 1. Oktober 1946 wird er zusammen mit 11 anderen zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 mit neun anderen hingerichtet.
Vgl. dazu die Biografie von Wilhelm Frick
5. Mai Das Konzentrationslager Mauthausen wird als letztes Konzentrationslager befreit. „Reichspräsident“ Großadmiral Dönitz beruft eine „Geschäftsführende Reichsregierung“ unter der Gesamtleitung des bisherigen Reichsfinanzministers Graf Schwerin von Krosigk.
6. Mai Das in der Nähe von Salzburg gelegene Konzentrationslager Ebensee ist die letzte Station der 12. SS-Eisenbahnbaubrigade (und auch der 11. SS-Eisenbahnbrigade). Amerikanische Soldaten befreien die Häftlinge des KZ und auch die Häftlinge der beiden SS-Eisenbahnbauzüge.
7./9. Mai Der Chef des Wehrmachtführungsstabes Generaloberst Jodl unterzeichnet die bedingungslose Gesamtkapitulation der deutschen Wehrmacht im Obersten Hauptquartier der Alliierten Expeditionsstreitkräfte in Reims. Die Kapitulationserklärung wird aus protokollarischen Gründen in Berlin-Karlshorst im Hauptquartier der sowjetischen Armee wiederholt. Der Zweite Weltkrieg ist in Europa beendet.
7. Mai Die Rote Armee befreit das Konzentrationslager Theresienstadt.
Vgl. die Biografie der Familie Isaak Hein (Ludwig, Sophia und Inge Hein) – Personentafel Nr. 50
Der Reichskommissar für das besetzte Norwegens Josef Terboven, der zugleich auch Oberpräsident der Rheinprovinz mit Dienstsitz in Koblenz ist, wird vom neuen „Reichspräsidenten“ Großadmiral Dönitz abgesetzt.
8. Mai Terboven begeht in seinem Luftschutzbunker bei Oslo Selbstmord. - Großadmiral Dönitz teilt in einer Rundfunkansprache mit, dass ab 23 Uhr deutscher Zeit die Waffen schweigen. Der vereinbarte Waffenstillstand des Deutschen Reiches mit den Alliierten tritt in Kraft.
Vgl. die Biografie von Josef Terboven
9. Mai Um 00.01 Uhr MEZ tritt die deutsche Kapitulation in Kraft. Die deutsche Kapitulation wird um 00.16 Uhr noch einmal in Karlshorst unterzeichnet. - Der nach Westfalen geflohene Gauleiter des Gaues Moselland Gustav Simon taucht dort unter und nennt sich nun nach dem Mädchennamen seiner Mutter Hans Wöllfer. Später wird er doch gefasst.
Vgl. dazu die Biografie von Gustav Simon
10. Mai Die amerikanische Militärregierung setzt für die Pfalz (ohne die von Frankreich besetzten Kreise der Südpfalz und der Stadt Speyer), Rheinhessen (einschließlich dessen rechtsrheinischer Teile) und das Saargebiet (ab 1947: Saarland) eine Provinzialregierung in Neustadt a. d. Haardt (heute: Weinstraße) unter Vorsitz von Dr. Hermann Heimerich (früherer Oberbürgermeister von Mannheim) ein. Dieses Gebilde „Saargebiet-Pfalz-Südhessen“ ist die erste provisorische größere Regierungseinheit auf dem Gebiet des besetzten Deutschland.
15. Mai Ley, der frühere Gauleiter von Rheinland-Süd, wird in seinem oberbayerischen Versteck gefangen genommen. Mit anderen NS-Führern, die als Kriegsverbrecher vor dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zur Verantwortung gezogen werden sollen, kommt er in das Gefängnis. Dort gelingt ihm der Selbstmord, noch bevor der Prozess eröffnet wird.
Vgl. dazu die Biografie von Dr. Robert Ley
Mitte Mai In der Idar-Obersteiner Straßburg-Kaserne richten die Amerikaner ein Internierungslager ein. Dort werden mehrere Angehörige des Werwolfs, aber auch der Chef der Weißenthurmer Brauerei und SS-Obersturmführer Wilhelm Schultheiß interniert. Er ist noch längere Zeit in Idar-Oberstein und dann später im Internierungslager Diez.
Vgl. dazu die Biografie von Wilhelm Schultheiß
16. Mai US-General Lucius Clay stellt in einer Erklärung fest, erste Aufgabe der Alliierten werde es sein, „die deutschen Kriegsverbrecher einer gerechten Aburteilung zuzuführen“. Von der gegenwärtigen deutschen Verwaltung würden „höchstens noch die Unterämter für einige Monate belassen“. Die Lebensmittelversorgung für Deutschland werde „fürs erste sehr knapp gehalten sein“.
Johann Dötsch ist inzwischen ausgemergelt, schwer krank und am Ende seiner Kräfte in einem Dorf bei Schwerin untergekommen. Er schreibt in sein Tagebuch:
Abends gabs die erste Zeitung. Endlich einmal eine klare Nachricht über das weltgeschichtliche Geschehen. Nie haben wir gieriger nach einer Zeitung gegriffen. Wie man immer erwartet hat, ist die ganze Bande im letzten Augenblick ausgerückt oder hat Selbstmord begangen. Doch die Allermeisten werden ihrer verdienten Strafe nicht entgehen. Oft frage ich mich, warum wir selbst nicht an unseren Peinigern Rache genommen haben, als ihre Macht vorbei war an jenem für uns so denkwürdigen Abend des 2. Mai. Der Grund lag wohl darin, dass wir physisch viel zu erschöpft waren, um Vergeltung zu üben, doch ich bin sicher, die Vergeltung für ihre furchtbaren Verbrechen wird auch den letzten Schuldigen zu finden wissen. Im Gespräch mit den zahlreichen Flüchtlingen hört man immer wieder die panische Angst vor dem „Iwan“ und von den brutalen Untaten an deutschen Frauen. Ganz selten kann ein Flüchtling Selbsterlebtes berichten. In den allermeisten Fällen wird nur vom Hörensagen berichtet. Nie finde ich einen Flüchtling mit reifen politischen Gedanken, nie einen, der auch nur mit einem Gedanken an die grässlichen Untaten der SS in Polen, der Ukraine und in allen besetzten Teilen Europas denkt. Niemand denkt an die Millionen Menschen aus allen Ländern Europas, die von den Nazis als Sklaven nach Deutschland getrieben wurden und dort unter unwürdigsten Bedingungen zur Arbeit gepresst wurden. Niemand denkt an die hunderttausenden Kinder von 13 und 14 Jahren, die ebenso wie Erwachsene nach Deutschland verschleppt wurden. Wenn diese Kinder dann vom Heimweh getrieben ausrissen und planlos ostwärts irrten, wurden sie ergriffen und in die KZ gesteckt. Wir hatten über 500 von diesen Kindern im Lager. An all das denkt der deutsche Spießer nicht. Er hat nur Gefühl für seine eigene Not und eine panische Angst vor seiner Verschickung nach Sibirien... Deshalb wollen die Allermeisten nicht in die von den Russen besetzten Gebiete zurück, alles will zu den Amerikanern. Wie das gehen soll und dass das unmöglich ist, bedenkt der Spießer nicht. Er glaubt, wenn er jetzt reichlich auf Hitler schimpft, vollauf seine Pflicht getan zu haben. Das deutsche Volk wird sich noch sehr wundern, die Strafe der Sieger wird diesmal fürchterlich sein und wir haben kein Recht, uns zu beklagen. Die Schuld des deutschen Volkes ist zu groß.
23. Mai Die Alliierten lösen die von Dönitz ernannte, letzte, geschäftsführende Reichsregierung (Graf Schwerin von Krosigk) auf, die bis dahin in Flensburg-Mürwik mit einer alliierten Kontrollkommission kooperierte. Entsprechend der Ankündigung wird die „Geschäftsführende Reichsregierung“ verhaftet. Damit sind die Reichsregierung und das Oberkommando der Wehrmacht aufgelöst, die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernehmen die alliierten Oberbefehlshaber: General Eisenhower in der amerikanischen, Feldmarschall Montgomery in der britischen und Marschall Schukow in der Sowjetischen Besatzungszone. - Der frühere Reichsführer-SS Himmler, der am 21. Mai in Verkleidung unerkannt gefangengenommen worden war, wird in einem britischen Kriegsgefangenenlager erkannt und begeht nach seinem ersten Verhör Selbstmord.
24. Mai Dr. Hans Fuchs wird zum Oberpräsidenten des Rheinprovinz-Militärdistrikts bestellt. Dies kollidierte mit der Einsetzung von Heimerich als Oberpräsident der Provinz Saarland-Pfalz-Südhessen. Dementsprechend werden am 1. Juni auch die Regierungsbezirke Koblenz und Trier der Provinz Saarland-Pfalz-Südhessen unterstellt und es entsteht das Oberregierungspräsidium Mittelrhein-Saar. Damit ist die Verwirrung über die Verwaltungsstrukturen und Kompetenzen komplett. Das legt sich erst mit der Übergabe des Gebiets an die französische Besatzungsmacht und der Bildung der Provinz Rheinland-Hessen-Nassau am 5. September 1945.
5. Juni Bei ihrem Treffen in Berlin veröffentlichen die Vertreter der vier Siegermächte die Erklärung über die Übernahme der Obersten Regierungsgewalt in Deutschland durch die Besatzungsmächte. Danach bilden die vier alliierten Oberbefehlshaber gemeinsam einen „Kontrollrat“. Seine Entscheidungen über alle „Deutschland als Ganzes“ betreffenden Fragen müssen einstimmig getroffen werden. Zudem legen sie die künftige Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen fest. Auch Frankreich wird damit eine eigene Besatzungszone zugestanden. Ferner wird „das Gebiet von Groß-Berlin … von Truppen einer jeden der vier Mächte besetzt“. Zur gemeinsamen Verwaltung Berlin wird eine Interalliierte Behörde errichtet. Damit ist in groben Zügen auch die künftige Verwaltung des Reichsgebiets durch die Alliierten festgelegt.
Eine kleine Bilanz des Zweiten Weltkrieges:
Durch die Kriegshandlungen sind schätzungsweise 55 Millionen Menschen ums Leben gekommen, 35 Millionen verwundet. Im engeren Sinne Opfer Nazi-Deutschlands sind weitere ca. 11 Millionen Menschen, ca. 6 Millionen Personen jüdischer Herkunft und 5 Millionen andere Opfer.
Die Staatsverschuldung des Deutschen Reiches beläuft sich am 8. Mai 1945 auf 380 Milliarden Reichsmark. (Im Jahr 1932 betrug sie 11,4 Milliarden Reichsmark und 1939 30 Milliarden Reichsmark).
Auf dem Gebiet des Deutschen Reiches befinden sich schätzungsweise 6,5 Millionen DPs (Displaced Persons, d. h. Menschen, die nicht an diesem Ort beheimatet sind). Das sind ausländische ehemalige Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, ehemalige KZ-Häftlinge, Osteuropäer, die vor der Roten Armee geflohen sind, u.a. Allein in der amerikanischen Zone sind sie (im Jahr 1946) in ca. 450 Lagern untergebracht.
Infolge des Zweiten Weltkrieges sind schätzungsweise 12 bis 14 Millionen Deutsche bzw. Deutschsprachige aus den ehemals deutschen Ostgebieten und aus Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa geflohen und vertrieben worden oder zwangsweise ausgewandert.
Das Tagebuch von Johann Dötsch gegen das Vergessen
von Joachim Hennig
Einleitung
Die Erinnerung an das Kriegsende vor 75 Jahren, dessen wir in diesem Jahr ganz besonders gedenken, wäre sehr unvollständig, wenn wir nicht auch die Räumung der Konzentrationslager in den Blick nähmen. Denn in der Endphase der NS-Verbrechen erreichten die Todeszahlen dort einen furchtbaren Höhepunkt. Historiker schätzen, dass in den letzten Kriegswochen und während der Räumung der Konzentrationslager mindestens ein Drittel – oder gar die Hälfte - der über 700.000 registrierten KZ-Häftlinge, die sich im Januar 1945 in der Gewalt der SS befanden, auf den Todesmärschen oder in den Sterbelagern zu Tode kamen (vgl. Karin Orth: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 1999, S. 349).
Anders als die Geschichte der Konzentrations- und Vernichtungslager ist diese Phase der KZ-Verbrechen bis heute nur unzureichend aufgearbeitet. Da es naturgemäß – wenn überhaupt – nur ganz wenige offizielle Dokumente über die Räumung und die Märsche gibt, ist man für diese Geschichte im Wesentlichen auf Berichte von Zeitzeugen angewiesen. Einen solche Schilderung gibt es von dem aus Koblenz(-Metternich) stammenden Sozialdemokraten und Gewerkschafter Johann Dötsch. Dötsch war bis zuletzt Häftling im KZ Sachsenhausen und ging von dort aus auf den Todesmarsch. Er machte darüber Aufzeichnungen und überlebte das furchtbare Geschehen. Anhand dieses Einzelschicksals und des Berichts soll hier an die Todesmärsche, die Befreiung vom Faschismus und an die Hoffnungen und Erwartungen der überlebenden Verfolgten der NS-Verbrechen erinnert werden.
Dazu wird zunächst die Lebensgeschichte von Johann Dötsch kurz erzählt, dann die Geschichte der Todesmärsche skizziert und schließlich das Tagebuch von Johann Dötsch auszugsweise wiedergegeben.
Kurz-Biografie von Johann Dötsch
Abbildung 1: Johann Dötsch (Passfoto, wohl aus den 1920er Jahren).
Der 1890 in dem damals noch selbständigen Metternich (heute ein Stadtteil von Koblenz) geborene Johann Dötsch absolvierte nach der Volksschule eine Maurerlehre und war anschließend Berufssoldat im Ersten Weltkrieg.
Im Jahr 1920 trat er in die SPD und in die Gewerkschaft ein. Im Ortsbezirk arbeitete er sich hoch, wurde Parteisekretär und Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Koblenz. Von 1929 bis 1933 war er gewähltes Mitglied des Preußischen Provinziallandtages der Rheinprovinz.
Abbildung 3: Johann Dötsch (links vorn) beim Treffen des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold in Mainz 1925.
Bald nach der Machtübernahme durch die Nazis kam er das erste Mal in „Schutzhaft“, eine zweite „Schutzhaft“ folgte Ende 1933. Wieder in Freiheit musste Dötsch privatisieren und seinen Unterhalt als Handlungsreisender für Seifenartikel und als Obstbauer sichern.
Bei Kriegsbeginn 1939 überschlugen sich die Ereignisse: Seiner Einberufung als Hauptmann der Reserve zur Wehrmacht kam seine Festnahme zum 1. September 1939 zuvor. Im Rahmen der so genannten A-Aktion wurde Johann Dötsch zusammen mit ca. 850 Parteifunktionären und Gewerkschaftern in „Schutzhaft“ genommen. Die Nazis verschleppten ihn von Koblenz aus ins KZ Sachsenhausen.
Abbildung 5: Eingangstor des Konzentrationslagers Sachsenhausen.
Dötsch erhielt die Häftlingsnummer 2357 und wurde, wie viele andere auch, unendlich gequält. Versuche, ihn freizubekommen – und sei es auch nur als Soldat – scheiterten.
Er war bis zum Skelett abgemagert, als er mit vielen tausend anderen Häftlingen kurz vor Kriegsende von Sachsenhausen aus auf den Evakuierungs-/Todesmarsch in Richtung Ostsee getrieben wurde. Wer nicht weiter konnte, den brachten die Wachmannschaften mit einem Genickschuss um. Anfang Mai setzte sich die SS ab und die Häftlinge waren endlich frei.
Abbildung 6: Route des Todesmarsches von Johann Dötsch.
Am Ende seiner Kräfte fand Johann Dötsch eine Bleibe bei einer Familie Hahn in Dümmer bei Schwerin. Dort schrieb er sein Tagebuch - bis zur Befreiung zunächst rückblickend. Dann setzte er die Eintragungen bis August 1945 fort. Schließlich war er gesundheitlich so weit hergestellt, dass er in seine rheinische Heimat zurückkehren konnte.
Dötsch wurde Mitbegründer der SPD in Koblenz und ab 1. Januar 1946 Präsidialdirektor („kleiner Minister“) für Arbeit und Soziales der Provinz Rheinland-Hessen/Nassau. Doch bald, am 2. Oktober 1946, starb Johann Dötsch an den Folgen der KZ-Haft.
Kleine Geschichte der Todesmärsche
Die Märsche begannen mit der Räumung der Konzentrationslager, sie waren Räumungsmärsche. Wegen der grausamen Geschehnisse dabei werden sie zu Recht Todesmärsche genannt. Sie erfolgten zu unterschiedlichen Zeiten und abhängig vom Kriegsgeschehen. Experten gehen davon aus, dass der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler schon im Frühjahr oder Sommer 1944 den Entschluss gefasst haben könnte, die KZ-Häftlinge nicht in die Hände der Alliierten fallen zu lassen. Ein wichtiger Mitarbeiter im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt sagte dazu nach dem Krieg aus:
Gegen Ende 1944 wurde mir ein Befehl Himmlers die KZs betreffend bekannt, welche im sogenannten A-Fall (Vorrücken des Feindes) der Befehlsgewalt der HSSPF (Höheren SS- und Polizei-Führer, die „Stellvertreter“ Himmlers in den einzelnen Regionen, Anm. d. Verf.) unterstehen sollten. Diese sollten sich auch um die Insassen kümmern, die in diesem Fall abtransportiert werden sollten (Evakuierungstransporte und Evakuierungsmärsche). Die HSSPF waren in diesem Fall für Nahrung, Kleidung und Unterkunft während des Marsches verantwortlich.
„Nur“ die Modalitäten der Räumung wurden von den führenden Nazis unterschiedlich gesehen. Während Hitler bis zu seinem Tod die KZ-Häftlinge lieber töten als sie in die Hände des Feindes fallen lassen wollte, favorisierte Himmler die Idee, jedenfalls die noch lebenden jüdischen KZ-Häftlinge als Verhandlungsobjekte und Geiseln zu benutzen. Himmler versuchte nämlich seit Mitte 1944 mit den Westalliierten ins Gespräch über einen Separatfrieden zu kommen, wobei ihm die jüdischen Häftlinge nützlich sein konnten.
Die Räumung der Konzentrations- und Vernichtungslager, die sich in der Endphase des Zweiten Weltkrieges ja im gesamten damaligen Deutschen Reich und auch in den von Deutschland besetzten Ländern befanden, erstreckte sich über einen Zeitraum von einem Jahr und fand in drei Phasen statt:
In der ersten Phase wurde ein Teil der Lager im Osten geräumt. Im April 1944 löste man das Konzentrations- und Vernichtungslager (Lublin-)Majdanek auf, dann Lager im Baltikum (das Lager Vairara im Juni 1944 und im Juli 1944 die Lager Kaunas und Riga). Im Sommer 1944 verlegte die SS auch größere Häftlingsgruppen aus dem Konzentrationslager Auschwitz überwiegend in im „Altreich“ gelegene Konzentrationslager. Schließlich räumte die SS im September 1944 die beiden am weitesten im Westen gelegenen Konzentrationslager Herzogenbusch (Vught) und Natzweiler.
In der zweiten Phase wurden die letzten im Osten gelegenen großen Konzentrationslager „evakuiert“: Auschwitz, Groß-Rosen und Stutthof.
In der dritten und letzten Phase der Räumung ging es um die Evakuierung der auf deutschem Boden gelegenen Konzentrationslager Mittelbau-Dora, Buchenwald, Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Ravensbrück, Neuengamme, Flossenbürg und Dachau sowie des in Oberösterreich gelegenen KZ Mauthausen.
Die hier in Rede stehende Räumung des KZ Sachsenhausen gehörte also zur dritten und letzten Phase der „Evakuierung, die von April bis Mai 1944 dauerte. Schon ab Jahr 1944 bereiteten die Lagerleitungen, auch in Sachsenhausen, die erwartete Räumung mit Mordaktionen vor. Opfer waren „marschunfähige“ KZ-Häftlinge, kranke und geschwächte Gefangene, von denen die Lager-SS glaubte, dass sie den Strapazen der „Evakuierung“ nicht gewachsen seien, sowie „gefährliche Häftlinge, solche, die die SS einer Widerstandstätigkeit verdächtigten. Unter ihnen befanden sich zahlreiche meist deutsche Funktionshäftlinge mit dem roten Winkel. In Sachsenhausen waren etwa 140 von ihnen auf einer Liste notiert, sie wurden dann dort auch erschossen. Andere Häftlinge ermordete man mit Giftinjektionen oder in der Gaskammer (sog. Station Z).
Die Evakuierung des KZ Sachsenhausen begann mit der Räumung der zahlreichen Außenlager. Deren Häftlinge wurden entweder in das Stammlager Sachsenhausen oder aber in andere Konzentrationshauptlager getrieben.
Inzwischen hatte Himmler, der „Herr über die Konzentrationslager“ seine Linie für verbindlich erklärt. In der sogenannten Märzvereinbarung vom 12. März 1945 zwischen ihm und seinem Leibarzt Felix Kersten sagte er zu, den Befehl Hitlers, „die Konzentrationslager beim Herannahmen der Alliierten in die Luft zu sprengen, nicht weiter(zugeben)“ und verbot „jede Sprengung ebenso wie die Tötung von Gefangenen. (…) Die Konzentrationslager werden nicht geräumt, die Gefangenen vielmehr dort gelassen, wo sie sich zurzeit befinden, und dürfen Lebensmittelpakete empfangen.“
In diesem Wirrwarr hatte der Kommandant des KZ Sachsenhausen, Anton Kaindl, Himmler Anfang April 1945 vorgeschlagen, das KZ an das Schwedische Rote Kreuz zu übergeben. Als Himmler dem nicht zustimmte, entschied Kaindl, die Häftlinge nach Schleswig-Holstein zu treiben. Das Ziel sollte wohl Flensburg oder Lübeck sein. Am 20. April 1945 lehnte er die Übergabe des KZ Sachsenhausen an das Schwedische Rote Kreuz endgültig ab. Am gleichen Tag begann die Räumung des Stammlagers Sachsenhausen und auch die Flucht der Kommandanturangehörigen.
In den Morgenstunden des 21. April 1945 wurden nach und nach die überlebenden 33.000 gequälten und halbverhungerten Häftlinge, darunter auch Frauen und Kinder, in Blöcken zu 500 zusammengestellt und nach und nach in Marsch gesetzt. Sie wurden auf mehreren Routen von SS-Wachmannschaften mit scharfen Hunden nach Nordwesten (auf die sog. Nordroute) getrieben.
Mit dem Abmarschbefehl am frühen Morgen des 21. April beginnt das Tagebuch von Johann Dötsch. Lesen Sie nun sein „Tagebuch gegen das Vergessen“, niedergeschrieben in einem alten Wehrmachtinventarbuch. Es wird hier in Kursivschrift auszugsweise wiedergegeben. Die Texte in Normalschrift stammen vom Verfasser des Artikels und dienen der Erläuterung.
Johann Dötsch: Das Tagebuch gegen das Vergessen. Zum „Todesmarsch“ vom KZ Sachsenhausen vom 21. April 1945 bis August 1945.
21. April 1945. Morgens 4 Uhr plötzlicher Befehl: Das ganze Lager wird heute geräumt. 5.45 Uhr traten zunächst die Polen zum Abmarsch an. Sofortiges Packen. Ich hatte leider meinen Rucksack mit den liebsten Sachen und unsere selbst verfasste Broschüre über Obstbau, Geburtstagsgratulationen u.a. mehr auf meinem (Arbeits-)Kommando gelassen, weil kein Mensch mehr mit der Räumung des Lagers rechnete... Wir wurden zu 500 Häftlingen in Marschblocks zusammengestellt und unter strengster Bewachung der SS auch mit Spürhunden in Marsch gesetzt. Unser Marschblock verließ um etwa 3 Uhr nachmittags bei strömenden Regen das Lager. Als Verpflegung bekam jeder 1 1/2 Kilo Brot und je vier Konserven etwa ¾ Kilo Wurst mit... Wir marschierten an der ganz zerbombten Siedlung Sachsenhausen vorbei, durch Dorf Sachsenhausen, Teerofen bis Sommerfeld. Hier kamen wir zur Hälfte in einer Feldscheune, zur Hälfte im Freien unter.
22. April 1945. Frühmorgens marschierten wir auf der Straße nach Neuruppin weiter. Auf dieser großen Fluchtstraße vor den Russen ging es nur langsam vorwärts, da die Straße mit endlosen Flüchtlingstrecks, zurückflutenden Truppen, Panzern und Waffen aller Gattungen sehr verstopft war. Unsere große Sorge galt den Tieffliegern, die uns zwar öfter überflogen, aber keine Bomben warfen... Hinter dem Städtchen Lindow bei starkem Hagelschauer Mittagsrast, ohne Essen nach verkürzter Rast Weitermarsch auf Rheinsberg. Hier zeigten sich schon bald die erschütternsten Zeugen der SS-Mordgier. Erst spärlich, dann aber immer häufiger tote Häftlinge im Straßengraben mit dem berüchtigten Genickschuss. Wer zurückblieb, wurde erbarmungslos erschossen. besonders mit den Ausländern machte man kurzen Prozess...
23. April 1945. Gegen 11 Uhr kamen wir an lagernden Truppen vorbei, die uns Kaffee während der Ruhepause gaben. Unser Führer versprach, heute um 14 Uhr den Marsch abzubrechen und ein anständiges Quartier zu besorgen. Tatsächlich kamen wir gegen 15 Uhr auf einem großen Gutshof bei dem Dorf Schweinitz im Kreis Ostprignitz an. In einer riesigen neuen Scheune mit viel Stroh kamen wir gut unter. Abends gab uns das Gut reichlich Pellkartoffeln, die mit Heißhunger verzehrt wurden...
Die Bevölkerung reagierte unterschiedlich auf die Häftlingskolonnen, die bei nasskaltem Wetter 20 und auch 40 Kilometer am Tag marschierten und oft im Freien übernachteten. Manchmal erhielten sie - wie in Schweinitz - Lebensmittel, meistens erfuhren sie aber völlige Gleichgültigkeit. Am folgenden Tag kamen die Häftlinge in ein „Lager“ im „Belower Wald“. Es bestand im Wesentlichen aus einem etwa 40 ha großen Waldstück mit Buchen- und Kiefernbestand in der Nähe des mecklenburgischen Dorfes Below. Während die SS-Lagerführung sich in nahe gelegenen Bauernhöfen einquartierte, suchten die Häftlinge im „Waldlager“ in selbst errichteten Unterständen und Erdlöchern Schutz vor der Witterung und versuchten, ihren Hunger mit Kräutern, Wurzeln und Rinde zu stillen. Es kursierten Gerüchte, die Häftlinge sollten im Wald verhungern.
24. April 1945. Gegen 3 Uhr kamen wir in den riesigen Wäldern von Below an. In diese Wälder trieb die SS das ganze Lager Sachsenhausen und etwa 15 000 Frauen des (Frauen-Konzentrations-)Lagers Ravensbrück. Hier war man sich völlig selbst überlassen. Die Postenkette war in weitem Kreis um den Wald gezogen. Ohne jede Verpflegung und ohne Wasser sah unser Lager recht trostlos aus. Am zweiten Tag wurde die Postenkette einfach durchbrochen, um Wasser zu holen. Da in höchster Not kam die Hilfe vom Internationalen Roten Kreuz in Gestalt von Paketen mit ausgezeichnetem Inhalt. Corned Beef, Wurst, Butter, Keks, Schokolade, Zucker, Tee, Kaffee und nicht zuletzt köstliche Zigaretten. Dann hob sich der Lebensmut der Menschen rasch wieder. Für viele kam die Hilfe aber zu spät. Morgens kam mancher aus seiner selbst gebauten Hütte nicht mehr hervor und musste irgendwo im Walde verscharrt werden... In diesem grauenvollen Walde verblieben wir bis einschließlich 29. April. Das Rote Kreuz brachte noch zweimal Pakete dorthin. Die Leitung des Roten Kreuzes muss auch wegen der Erschießungen von Häftlingen interveniert haben, denn der Kommandant machte vor dem Weitermarsch bekannt, dass niemand mehr erschossen werden dürfe. Die Kranken wurden an den Marschstraßen gesammelt und vom Internationalen Roten Kreuz weiter transportiert.
30. April 1945. Früh morgens kam eiliger Abmarschbefehl aus dem Walde von Below in Richtung Lübeck, weil die Herren der SS fürchteten, von den Russen eingeholt zu werden. Davor hatten sie eine höllische Angst. Deshalb wurden wir den Amerikanern in die Arme getrieben. Vor dem Abmarsch gab es nochmals ein Rotes-Kreuz-Paket zu fünf Mann. Am ersten Marschtag erreichten wir schon mecklenburgische Orte, kamen dann aber wieder in die Ostprignitz. In einem kleinen Bauernhof von seltener Verwahrlosung kamen wir gegen 14 Uhr in einer Scheune mit reichlich Stroh unter.
1. Mai 1945. Am 1. Mai ein trauriger Maispaziergang. Die meisten mit wunden Füßen, verlaust, seit Tagen nicht gewaschen. Die Verstopfung der Straßen mit Truppen und Flüchtlingen vor den Russen wurde immer ärger. In den Straßengräben massenhaft ausgebrannte Wagen, tote Pferde und Menschen. Die Straßen von Bomben der Tiefflieger stark aufgerissen. Während des Marsches passierten wir Zechlin und Parchim in Mecklenburg. Sechs Kilometer hinter Parchim biwakierten wir im Walde. Spät abends kam nochmals das Rote Kreuz und überreichte jedem ein ganzes Paket mit auserlesenen Sachen. Die sehr nieder gedrückte Stimmung hob sich wieder. Dafür sorgten in erster Linie die im Paket enthaltenen 20 Stück Chesterfield-Zigaretten.
Inzwischen begann die Struktur der Marschblöcke zu zerfallen und zerfiel immer mehr. Einzelne Häftlinge, z. T. auch kleinere Gruppen, konnten sich zunehmend absetzen. Die meisten Häftlinge erhielten ihre Freiheit zwischen dem 2. und 5. Mai in der Nähe von Schwerin, mehr als 200 Kilometer vom KZ Sachsenhausen entfernt. Inzwischen war die gesamte Bewachung verschwunden und die Häftlinge blieben sich selbst überlassen. Die Umstände der Befreiung blieben so für sie eher verwirrend, zumal Kontakte zu den Soldaten der Alliierten erst später zustande kamen.
2. Mai 1945. Um 7.30 Uhr wurde abmarschiert. Infolge der teilweisen Verstopfung der Straße kamen wir nur langsam vorwärts. Überall tote Pferde und Menschen. In Scharen versuchten die Häftlinge, die Kartoffelmieten zu plündern. Tote Pferde wurden angeschnitten und bis auf das Skelett weggeschleppt... Während des Marsches sickerte die Nachricht durch, dass Hitler und Goebbels gefallen seien, Himmler sich erschossen und Dönitz das Oberkommando übernommen habe. Hinter Crivitz, das tags zuvor von Bomben arg mitgenommen war, machten wir in einem Wald Halt und blieben über Nacht. An dem Tage, dem 2. Mai 1945, waren wir das erste Mal ohne SS-Bewachung. Die hatten ihre Gewehre weggeworfen und überließen uns unserem Schicksal. Mit einbrechender Dunkelheit setzte in den Wäldern eine tolle Schießerei ein, die Soldaten verfeuerten ihre Munition in die Luft. Gewehrpatronen, Handgranaten, Panzerfäuste krachten durcheinander. Unzählige Leuchtpatronen erhellten die Nacht. Mir kam die Knallerei wie der Grabgesang für die deutsche Nation vor. Das also war das Ende des so genannten 1000-jährigen Reiches des politischen Amokläufers Hitler. Traurig, traurig, unsagbar traurig. In Gedanken an dieses traurige Ende des Deutschen Reiches wollte keine rechte Freude über die endliche Befreiung aus den Klauen der SS aufkommen...
3. Mai 1945. Frühmorgens erklärte unser Führer, SS-Hauptsturmführer Wagner, dass wir alle tun könnten und hingehen könnten, wohin wir wollten. Er empfahl uns aber, nicht lange zu warten, sondern recht bald nach Schwerin zu gehen, weil dort die Amerikaner ständen, während die Russen auf unser Lager im Vorwärtsrücken seien. Gegen 7 Uhr machten wir uns mit fünf Mann ... auf den Weg. Wieder ging es an endlosen Flüchtlingstrecks und Truppen aller Waffengattungen vorbei. Ich hatte sehr an Durchfall und einem schmerzenden Hüftgelenk zu leiden. Unterwegs verlor ich im Gedränge meine Kameraden und humpelte allein weiter. Gegen 11 Uhr kam ich an die amerikanische Demarkationslinie sechs Kilometer östlich von Schwerin. Ein amerikanischer Doppelposten und ein großes Sternenbanner kennzeichneten die Stelle an der Straße. Ich hatte mir unseren Übertritt zu den Amerikanern nicht so friedlich vorgestellt. Von hier aus setzte ein immer lebhafter werdender Verkehr mit Patrouillenfahrzeugen mit Militärpolizei ein, die den Menschenstrom lenkten. Alles ging in größter Ruhe vor sich. Die Amerikaner, alles prachtvoll genährte, gut gekleidete, junge Menschen waren sehr korrekt in ihrem Verhalten gegenüber Truppen, Flüchtlingen und uns Häftlingen. Sehr bald hatten sie heraus, dass die mit dem „roten Winkel“ politische Häftlinge waren. Kurz vor dem Eintritt in die eigentliche Stadt war die Straße gesperrt. Niemand von dem Flüchtlingsstrom durfte in die Stadt. Alle Fahrzeuge wurden rechts und links der Straße in den Wald geschoben, die Soldaten kriegsgefangen abgeführt und die Flüchtlinge und wir uns selbst überlassen. Nun begann ein wildes Ausplündern der Heeresfahrzeuge nach Essbarem. Alle erdenklichen Lebensmittel kamen zum Vorschein. Unterwegs hatte ich mich an zwei andere Kameraden aus dem Lager angeschlossen. Der eine hatte ein riesiges Stück vom Schwein und bald brieten Koteletts in der Pfanne. Und ich durfte sie meinem Magen nicht zumuten. Brot gab es leider gar keins. Aber sonst fast alles. Abends gingen wir in eine große Kaserne in der Nähe zum Schlafen. Überall an den Wänden die nationalsozialistischen Embleme, mitten auf dem Hof ein riesiges Hoheitszeichen, von den Amerikanern kaum beachtet. Nirgends Bilderstürmerei.
4. Mai 1945. Frühmorgens gingen wir an die Hauptstraße, am großen See Kaffee kochen, etwas essen und vor allem, um zu hören, was nun weiter über unser Schicksal von Seiten der Amerikaner beschlossen sei. Nach dieser Richtung war nichts Positives zu erfahren. Zwar schwirrten die wildesten und unsinnigsten Gerüchte in der Luft über Abtransport in die Heimat, Verpflegung usw., doch nichts geschah. Wir blieben uns vollkommen selbst überlassen... Wir überlegten den ganzen Tag, was wir tun sollten: bleiben und der Dinge warten, die da kommen sollten, oder auf eigene Faust in Richtung Heimat marschieren. Zunächst entschieden wir uns fürs Bleiben, da mittags Lautsprecherwagen alle ausländischen Häftlinge aufforderten, sich in einer bestimmten Kaserne einzufinden. Abends gingen wir wieder in die Kaserne schlafen.
5. Mai 1945. Frühmorgens ging es wieder an den See, Waschen, Kochen, Rasieren waren die Haupttätigkeiten und Warten, warten auf die Dinge, die da kommen sollten. Das Schlimmste war, dass keine Möglichkeit der Nachrichtenübermittlung nach Hause bestand. Die brennende Sehnsucht, den Lieben zu Hause Nachricht zu geben, dass man noch lebt, all das Entsetzliche, Qualvolle und Bestialische der vertierten SS glücklich überstanden zu haben, lastete schwer auf uns allen, doch daran war nichts zu ändern. Es galt, sich mit Geduld zu wappnen und weiter auf unser Glück zu vertrauen...
Am nächsten Tag traf Johann Dötsch wieder die Kameraden, mit denen er einige Tage zuvor nach Schwerin aufgebrochen war. Zusammen beschlossen sie, auf eigene Faust in die Heimat zurückzukehren. Dazu mussten sie die Elbe überqueren. Das erwies sich aber als unmöglich. So gaben sie ihren Plan zunächst auf und blieben im Dorf Dümmer, bei einer Familie Hahn.
7. Mai 1945... Aber schon im nächsten Dorf Dümmer fand unsere Wanderung ein Ende, da vor dem nächsten Dorf die Straße nach Wittenburg auch gesperrt war. Es verlautete, dass an den Elbübergängen die Trecks sich stauten, weil die meisten Brücken zerstört und die noch vorhandenen für den Nachschub gebraucht wurden. Im Dorf lagerten schon einige Trecks mit Flüchtlingen, die alle über die Elbe wollten. Suchau und ich gingen auf die Quartiersuche. Gleich im ersten Haus hatten wir Glück. Bei einer Familie Karl Hahn bekamen wir einen gedeckten Holzschuppen als Nachtquartier. Die nette Frau stellte Stroh und Matratzen zur Verfügung. Sie wartete auch auf ihren Mann, der in Hammerfest in Nordnorwegen bei der Marine stand. Gleich gings ans Kochen. Dicht hinter dem Garten unseres Quartiers war herrlicher Buchenholzwald. Dort brutzelten und kochten wir... Das Wetter war herrlich geworden und wir hatten Ruhe. Ruhe, Ruhe, die so lang ersehnte Ruhe. Abends legten wir uns beruhigt und satt schlafen.
Mittlerweile war der Zweite Weltkrieg durch den Abschluss des Waffenstillstandes am 7. Mai - mit Wirkung von 8. Mai 1945 um 23 Uhr - auch formell beendet.
8. Mai 1945. Das Leben in unserem Quartier spielt sich ein... Inzwischen haben wir uns angemeldet und konnten Brot, Milch und Butter aus der Molkerei kaufen. Ich habe nur eine Sorge, dass mir mein Hüftgelenk einen Streich spielt. Die Überanstrengung hat anscheinend eine Sehnenzerrung hervorgerufen. Aber wir werden noch einige Tage bleiben müssen, da wird sich die Zerrung wohl geben, ebenso die entsetzliche körperliche Schlaffheit.
9. Mai 1945. Das Leben geht weiter. Sperre noch nicht aufgehoben. Morgens Frühstück. Brot, Butter und jeder ein Ei. Mittags Erbsen mit Speck, abends Eierpfannkuchen mit Tee. Nach dieser Richtung haben wir also keinerlei Klagen. Abends bat uns Frau Hahn zu einem kleinen Schwatz und einer Tasse Tee in die Küche. Zum ersten Mal nach fast sechs Jahren an einem sauberen Tisch mit netten, lieben Menschen zusammen bei einer Tasse Tee und einer Zigarette. Nach den Jahren des Grauenvollen in den Mörderhänden der SS in überfüllten Baracken mit oft sehr zweifelhaftem Gesindel. Die letzten vier Monate dauernd unter Hunger leidend. Es gab täglich nur einen Liter Steckrübenwassersuppe und 200 Gramm Brot, bei 11stündiger Arbeitszeit und vorher einer Stunde Appell. Und doch kommt jetzt keine himmelstürmende Freude auf. Der Körper ist zu abgehetzt und zum Skelett abgemagert. Ich hoffe sehr, dass mit zunehmender körperlicher Erstarkung auch die Lebensgeister wieder erstarken. Vorläufig heißt es abwarten. Wenn nur erst die Post ginge, damit man endlich Nachricht geben könnte.
Wenn auch der Krieg zu Ende war und die KZ-Häftlinge frei waren, so konnte Johann Dötsch noch längst kein normales Leben führen - ganz abgesehen davon, dass er in einem Holzschuppen in einem mecklenburgischen Dorf lebte und nicht zu Hause in Koblenz-Metternich. Er war gezeichnet von der fast sechsjährigen KZ-Haft, dem Hunger, den Qualen, den Demütigungen und zuletzt dem Todesmarsch. Er rang in jenen Tagen und Wochen um Normalität. Dazu gehörten eine gesunde und ausreichende Ernährung, Ruhe und Erholung. Dazu gehörten aber auch eine intellektuelle Verarbeitung, Bewältigung der erlittenen Haft und ihrer Folgen. Hierbei half ihm das Tagebuch, mit dem er über den Todesmarsch und die erste Zeit danach berichtete, mit dem er sich „freischrieb“. Ihm vertraute er auch politische Einschätzungen an, die in ihrer Weitsichtigkeit teilweise auch heute noch überraschen.
16. Mai 1945 ...Abends gabs die erste Zeitung. Endlich einmal eine klare Nachricht über das weltgeschichtliche Geschehen. Nie haben wir gieriger nach einer Zeitung gegriffen. Wie man immer erwartet hat, ist die ganze Bande im letzten Augenblick ausgerückt oder hat Selbstmord begangen. Doch die Allermeisten werden ihrer verdienten Strafe nicht entgehen. Oft frage ich mich, warum wir selbst nicht an unseren Peinigern Rache genommen haben, als ihre Macht vorbei war an jenem für uns so denkwürdigen Abend des 2. Mai. Der Grund lag wohl darin, dass wir physisch viel zu erschöpft waren, um Vergeltung zu üben, doch ich bin sicher, die Vergeltung für ihre furchtbaren Verbrechen wird auch den letzten Schuldigen zu finden wissen. Im Gespräch mit den zahlreichen Flüchtlingen hört man immer wieder die panische Angst vor dem „Iwan“ und von den brutalen Untaten an deutschen Frauen. Ganz selten kann ein Flüchtling Selbsterlebtes berichten. In den allermeisten Fällen wird nur vom Hörensagen berichtet. Nie finde ich einen Flüchtling mit reifen politischen Gedanken, nie einen, der auch nur mit einem Gedanken an die grässlichen Untaten der SS in Polen, der Ukraine und in allen besetzten Teilen Europas denkt. Niemand denkt an die Millionen Menschen aus allen Ländern Europas, die von den Nazis als Sklaven nach Deutschland getrieben wurden und dort unter unwürdigsten Bedingungen zur Arbeit gepresst wurden. Niemand denkt an die hunderttausende Kinder von 13 und 14 Jahren, die ebenso wie Erwachsene nach Deutschland verschleppt wurden. Wenn diese Kinder dann vom Heimweh getrieben ausrissen und planlos ostwärts irrten, wurden sie ergriffen und in die KZ gesteckt. Wir hatten über 500 von diesen Kindern im Lager. An all das denkt der deutsche Spießer nicht. Er hat nur Gefühl für seine eigene Not und eine panische Angst vor seiner Verschickung nach Sibirien... Deshalb wollen die Allermeisten nicht in die von den Russen besetzten Gebiete zurück, alles will zu den Amerikanern. Wie das gehen soll und dass das unmöglich ist, bedenkt der Spießer nicht. Er glaubt, wenn er jetzt reichlich auf Hitler schimpft, vollauf seine Pflicht getan zu haben. Das deutsche Volk wird sich noch sehr wundern, die Strafe der Sieger wird diesmal fürchterlich sein und wir haben kein Recht, uns zu beklagen. Die Schuld des deutschen Volkes ist zu groß.
Johann Dötsch blieb weiter in Dümmer, zunächst um wieder zu Kräften zu kommen, später wegen der schwierigen Nachkriegsverhältnisse. Sein Tagebuch, das in der Folgezeit nicht mehr so ausführlich ist, endet im August 1945:
Jede Woche fuhr ich einmal nach Schwerin. Das so genannte Häftlingskomitee hat sich als völlig unbrauchbar erwiesen für unseren Heimtransport. Jetzt setze ich meine Hoffnung auf ein französisches Hilfslazarett, das zurückgebliebene Ausländer, meist Franzosen, heim befördert. Der Leiter will versuchen, für uns politische Häftlinge aus dem Westen, Ausländerpässe zu beschaffen. Hoffen wir, dass es glückt.
Sein Tagebuch blieb zunächst bei der Familie Hahn in Dümmer. „Entdeckt“ wurde es anlässlich der 750-Jahrfeier des Ortes. Dann gelangte es in das Archiv der Bezirksleitung der SED in Schwerin und nach der Einigung ins Landesarchiv Schwerin. Dort wurde man im Zuge des 50. Jahrestages des Kriegsendes auf das Tagebuch aufmerksam. Jahre später entdeckte man es in Johann Dötschs rheinischer Heimat: Dötschs inzwischen über 80jähriger Pflegesohn Fritz Görgen vertraute des dem Verfasser im Rahmen dessen Forschungen über Opfer des Nationalsozialismus in und aus Koblenz an. Aus Anlass der 75. Wiederkehr des Kriegsendes und der Befreiung vom Faschismus wird es hier durch das Internet einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt.
Abbildung 7: Gedenkstein entlang der Routen des Todesmarsches vom KZ Sachsenhausen aus.
Weiterführende Hinweise:
Wenn Sie mehr über Johann Dötsch erfahren wollen, dann klicken Sie HIER auf seine Biografie auf dieser Homepage sowie HIER auf den Vortrag über ihn von Joachim Hennig.
Speziell zum Todesmarsch vom KZ Sachsenhausen ist empfehlenswert die Publikation von Kurt Redmer: Vergesst dieses Verbrechen nicht! Der Todesmarsch KZ Sachsenhausen –Schwerin 1945 (Ingo Koch Verlag. Rostock ISBN 3-935319-10-X).
Mehr über das KZ Sachsenhausen finden Sie in Monografien über das Konzentrationslager, etwa im Nachschlagwerk: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 3 (Sachsenhausen und Buchenwald), 2006, zu Sachsenhausen ab S. 15 ff.
Und schließlich zur Räumung der Konzentrationslager allgemein:
Karin Orth: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 1999, S. S. 270 ff. und
Daniel Blatman: Die Todesmärsche – Entscheidungsträger, Mörder und Opfer, in: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, 2 Bände, Band II, 1998, S. 1063 ff.